Papers, Please13.08.2013, Eike Cramer
Papers, Please

Im Test:

Wie fühlt es sich an, ein Grenzbeamter zu sein? Wie würde man mit der Verantwortung umgehen? Arbeitet man stur nach den Regeln? Oder überlässt man moralische Entscheidung nicht alleine dem unerbittlichen Gesetz? Diesen Fragen geht Lucas Pope, Ex-Entwickler bei Naughty Dog, in seinem Projekt Papers, Please nach. Kann der sozialkritische Thriller im Test überzeugen?

Papiere, bitte!

Ich habe mir nicht ausgesucht, Grenzbeamter zu werden. Die Lotterie hat entschieden, mich zu einem Instrument des autokratischen Regimes von Arstotzka zu machen. Meine Familie wurde bereits in ein neues Apartment umgesiedelt und ich trete im November 1982 meinen Dienst am neu eröffneten Grenzposten in Grestin an. Dieser regelt den Übergang zum Nachbarstaat Kolechia, mit dem zuvor sechs Jahre lang Krieg geführt wurde.

Entsprechend angespannt ist die Lage an den Grenzübergängen: Die Gefahr durch nationalistische Extremisten und organisiertes Verbrechen ist überall spürbar und die Autokratie geizt nicht mit Einschränkungen und bürokratischen Hindernissen, um die Einreise so kompliziert wie möglich zu gestalten. Meine Aufgabe ist es, so präzise wie möglich nach den Vorschriften zu arbeiten, also Passnummern, Fotos, Ablaufdaten und biometrische Angaben zu vergleichen. Ich verdiene eine festen Betrag pro abgefertigter Person, um Miete, Heizung und Lebensmittel für mich und meine Familie bezahlen zu können.

Dieses Geld ist überlebenswichtig, zumal ich mich oft entscheiden muss: Bezahle ich das Upgrade für meinen Arbeitsplatz, das Essen oder doch die Medikamente für ein krankes Familienmitglied? Was ist wichtiger? Leider ist der Familienbildschirm insgesamt etwas zu rudimentär ausgefallen und geizt mit Zusatzinformationen oder persönlichen Angaben. Dennoch haben die harten Entscheidungen auf die Arbeitsmoral starken Einfluss.

Strafmaßnahmen im Regulariendschungel

Pass und Einreiseerlaubnis - stimmen die Angaben? Die Kontrollen erfordern Konzentration und Genauigkeit.
Pass und Einreiseerlaubnis - stimmen die Angaben? Die Kontrollen erfordern Konzentration und Genauigkeit.
Von Tag zu Tag ändern sich Teile der Regularien: Heute brauchen Einreisende eine Einreiseerlaubnis, gestern noch ein Ticket. morgen reicht vielleicht schon wieder der Pass oder ein völlig anderes Dokument wird nötig sein, um die Grenze zu passieren. Im täglichen Memo werden Einreiseverbote, Sonderregeln und auch die Fotos von Verbrechern festgehalten, die es an der Grenze abzufangen gilt. Ich muss mich also oft auf neue Elemente einstellen und hochkonzentriert arbeiten, denn ein Fehler führt zu einer Abmahnung via Fax.

Ab dem dritten Fehler droht dann ein empfindlicher Lohnabzug. Zudem werde ich alle zehn Tage von einem Inspektor besucht, der harsche Worte für mein Versagen findet, sollte ich zu viele Fehler begangen haben. Dennoch bleiben die Strafen für mein Versagen etwas zu harmlos. Härtere Strafen, vielleicht bis zum Game Over, wären bei höheren Fehlerzahlen durchaus vertretbar gewesen und hätten den Druck auf den Spieler noch weiter erhöht.  

Konzentrationstraining an der Grenze

Der Stempel ist das Zeichen meiner Macht und wichtigstes Werkzeug an der Grenze.
Der Stempel ist das Zeichen meiner Macht und wichtigstes Werkzeug an der Grenze.
Mein Arbeitsplatz besteht aus einem Schreibtisch, auf dem ich die Dokumente ablegen kann, um sie zu untersuchen und den Pass mit dem alles entscheidenden Stempel zu versehen. Ich besitze zudem ein Hilfsmittel, das mit wenigen Klicks Diskrepanzen zwischen Angaben aufdecken kann. Dies benötigt allerdings wertvolle Zeit - ich kann auf diese Weise nicht blind jede Angabe auf den Dokumenten vergleichen.

Ich muss die Fehler selbst finden, um sie mit dem Tool hervorzuheben, z.B. um die Personen nach fehlenden Dokumenten zu fragen. Das Spiel simuliert dabei die stumpfe Routine an der Grenze auf exzellente Weise: Ständige Wiederholung zerstört die Konzentration extrem schnell und man ertappt sich dabei, betriebsblind zu werden. Ständig muss man sich zwingen, aufmerksam zu bleiben, da die Kontrollen keine Unachtsamkeit dulden. Zudem hat man immer die Uhr im Nacken, da jede längere Untersuchung weniger Abfertigungen und damit geringere Einnahmen zur Folge hat.

Große Macht und einsame Entscheidungen

Was hat es mit dem merkwürdigen Kult auf sich, der versucht mich für seine Zwecke zu gewinnen?
Was hat es mit dem merkwürdigen Kult auf sich, der versucht mich für seine Zwecke zu gewinnen?
Mit der Zeit erweitern sich meine Möglichkeiten: Ich kann Menschen irgendwann schon bei kleineren Vergehen festnehmen lassen, was mir einen monetären Bonus bringt. Außerdem können Durchsuchungen angeordnet werden, die frappierend an die Nacktscanner-Darstellungen erinnern. Meine Macht gegenüber den Einreisewilligen steigt und damit auch der Grad der Verantwortung, den ich trage. Schicke ich eine verzweifelte Person mit einem offensichtlich gefälschten Asylantrag in den Knast, nur um mit etwas mehr Geld nach Hause zu gehen? Reiße ich eine Familie auseinander, nur weil die Ehefrau kein gültiges Einreiseticket hat? Leider fehlt es hier manchmal an Dialogoptionen, da die Gespräche automatisch ablaufen.

Trotz dieser Mankos entstehen auf diese Weise immer wieder Situationen, in denen ich einsame moralische Entscheidungen treffen muss. Da ich erst ab dem dritten Fehler Strafen fürchten muss, bleibt mir ein gewisser Handlungsspielraum. Allerdings können die Konsequenzen fatal sein: So finden immer wieder Selbstmordanschläge oder bewaffnete Angriffe auf den Grenzposten statt, die durch meine mangelhafte Kontrolle begünstigt werden können. Nehme ich mögliche Opfer in Kauf, wenn ich scheinbar verzweifelte Personen passieren lasse? Kann ich die möglichen Konsequenzen mit meinem Gewissen vereinbaren? Das eigene Verhalten ist spannend zu beobachten, zumal die Tendenz bei mir Richtung „sturer Regelfanatiker“ geht, dem das Schicksal anderer immer gleichgültiger wird. Sozialkritik ist selten unmittelbarer als hier. 

Finstere Dystopie in 8-Bit

Das stimmige 8-Bit-Artdesign unterstreicht die düstere Atmosphäre vortrefflich.
Das stimmige 8-Bit-Artdesign unterstreicht die düstere Atmosphäre vortrefflich.
Zudem hat beinahe alles was ich tue, weitreichende Auswirkungen: Unterstütze ich einen Geheimkult? Nehme ich Bestechungsgeld an oder agiere vielleicht sogar als Doppelagent? Immer wieder werde ich vor Entscheidungen gestellt, die den Ausgang des Spiels grundlegend verändern können, allerdings ohne mir dies vorher deutlich zu machen. Nehme ich das Geld eines Unbekannten an? Das könnte mein Ende sein! Fliehe ich ins Ausland wenn der Druck zunimmt? Was passiert dann mit meiner Familie? Rette ich das Regime vor einer Verschwörung? Insgesamt zwanzig Enden gibt es, die sich stark voneinander unterscheiden. Das Schicksal von mir und meiner Familie hängt an vielen Faktoren, die sich wiederum mit meinem Verhalten an der Grenze verändern.

Die Aussichten sind dabei mehr als düster. Papers, Please zeichnet das finstere Bild einer Autokratie, die nicht nur an der Grenze unerbittlich ist. Ich stehe permanent unter Beobachtung, werde von Regierung und Vorgesetzten unter Druck gesetzt und bin trotz aller Macht doch nur ein kleines Rädchen in einer riesigen Unterdrückungsmaschine. Kleinste Fehler werden mir bereits als Verrat ausgelegt und letztendlich bin ich genauso von Verhaftung und Hinrichtung bedroht wie jeder andere Bürger. Die unheimlich stimmige 8-Bit-Kulisse sowie das einfache, aber passende Sounddesign unterstreichen diesen grauen und hoffnungslosen Eindruck perfekt. Es gibt kein Entrinnen aus diesem Albtraum.

Langeweile im Grenzalltag?

An moralischen Entscheidungen mangelt es nicht, ich erlebe während meiner Arbeit viele dramatische Einzelschicksale.
An moralischen Entscheidungen mangelt es nicht, ich erlebe während meiner Arbeit viele dramatische Einzelschicksale.
Gut ist zudem, dass der Grenzalltag auch langfristig motivieren kann. Obwohl das Spielprinzip auf sturer Repitition der immer gleichen Kontrollvorgänge basiert, gibt es durch die ständigen Regeländerungen genug Abwechslung, um mich bei der Stange zu halten. Außerdem gibt es immer wieder Zusatzaufgaben, wichtige Entscheidungen und interessante Charaktere, die den Arbeitsalltag auflockern.

Langeweile kam in den rund sieben Stunden, die mein kompletter Spieldurchgang gedauert hat, nicht auf - auch weil ich an mehreren Stellen die unterschiedlichen Auswirkungen meiner Entscheidungen ausprobiert habe, was mir durch das Speichersystem vorbildlich ermöglicht wird. An jedem Morgen wird ein neuer Spielstand angelegt, der, sollte ich eine andere Entscheidung treffen, ab diesem Punkt einen neuen Speicherzweig generiert. Alte Entscheidungen werden so nicht überschrieben, sondern ich erhalte die Möglichkeit, eine alternative Realität zu erschaffen, in der die Dinge etwas anders ablaufen. So habe ich in einem Durchgang rund ein Viertel der möglichen Enden gesehen - wer alle zwanzig erleben möchte wird noch viel mehr Zeit an der Grenze verbringen. 

Fazit

 Papers, Please ist düster, unheimlich atmosphärisch und unerbittlich. Bei meiner Arbeit am Grenzposten muss ich mich harten moralischen Entscheidungen, weitreichenden Konsequenzen und der stumpfen Repetition der immer gleichen Arbeitsvorgänge stellen, ohne dabei meine Konzentration zu verlieren. Die immer komplexer werdenden Regularien und Arbeitsvorgänge setzen mich immer stärker unter Druck, da mir oft nur sehr wenig Zeit bleibt, um genug Geld für meine Familie verdienen zu können. Die Versuchungen sind groß, von Bestechung bis zur Verhaftung für Geld gibt es einige Möglichkeiten für ein Extraeinkommen. Allerdings immer auf Kosten der Moral, was mich zu einigen harten Entscheidungen gezwungen hat. Ich wurde zu einem Täter im System, nur um am Ende selbst zum Opfer zu werden. Die Dystopie in 8-Bit beschäftigt einen noch über das eigentliche Spiel hinaus und man stellt sich und seine Entscheidungen mehr als einmal in Frage. Zwar sind die Strafen etwas zu harmlos und es fehlt manchmal an Dialogoptionen, die gelungenen Spielmechaniken, durchdachten Entscheidungen und sein konsequent finsteres Gesellschaftsbild machen Papers, Please aber zu einem echten Highlight. Glory to Arstotzka!

Pro

komplexe Rätsel
harte moralische Entscheidungen mit fiesen Konsequenzen
beklemmende Atmosphäre
sozialkritischer Anspruch
tolles 8-Bit-Artdesign mit stimmiger Soundkulisse
präzise ineinandergreifende Spielabläufe
zwanzig Enden

Kontra

fehlende Dialogoptionen
spartanischer Familien-Bildschirm
harmlose Bestrafungen bei Fehlern

Wertung

PC

Atmosphärische Grenzkontroll-Dystopie mit vielen Entscheidungen und harten Konsequenzen.

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