Im Test: Jack London lässt grüßen
Die unvollendete Kampagne
Obwohl etwa fünf Jahre an Entwicklung in The Long Dark stecken, spricht Creative Director Raphael van Lierop in seinem Brief an Tester von einer nicht vollendeten "großen Vision". Zwar ist der Survival-Modus mit seinen vier Schwierigkeitsgraden, der mir bereits vor zwei Jahren in der Vorschau gut gefallen hat, komplett fertig - und alleine mit ihm kann man dutzende Stunden in freier Natur verbringen. Außerdem gibt es fünf Herausforderungen, in denen man z.B. einem alten Bären entkommen und eine Hütte finden, sich für 30 Tage vor einem Schneesturm versorgen oder einen Leuchtturm für ein Notfallsignal finden muss - alles knifflige Missionen. Aber neugierig war ich schon damals vor allem auf die Geschichte. Die jetzt spielbare Kampagne namens "Wintermute" enthält allerdings nur zwei von fünf Episoden.
"Luminence Fugue".
Laut van Lierop seien diese nur ein erster Schritt hin zu dem, was man erzählerisch und spielmechanisch für die Zukunft plant. Schließlich wurde sogar eine Verfilmung angekündigt und ein Kurzflim veröffentlicht. Das klingt zum Verkaufsstart nach all der Wartezeit wie eine Entschuldigung für ein Projekt, das man nicht fertig stellen konnte. Zumal das Abenteuer auf PlayStation 4 von regelmäßigen Abstürzen geplagt wurde, vor allem beim Verlassen von Gebäuden. Und die deutsche Übersetzung der Texte wurde nicht konsequent durchgezogen; irgendwann liest man plötzlich wieder einige Dialoge, Menüs etc. auf Englisch. Erst der Patch von über drei Gigabyte hat einige Probleme wie schon auf PC und One behoben.
Story in der kanadischen Wildnis
Oder steckt in den ersten beiden Episoden bereits so viel außergewöhnliche erzählerische
Substanz, dass die Story auch ohne Ende überzeugen kann? Um es kurz zu machen: Nein, da hat mir das ebenfalls in Kanada spielende Kona mit seinem Sprecher und seiner Regie besser gefallen. Aber die leicht mysteriös angehauchte Geschichte rund um eine schleichende Apokalypse wird angenehm zurückhaltend erzählt, so dass die Neugier zumindest langsam wächst. Und sie wird stimmungsvoll eingeleitet: Man startet die erste Episode "Geh nicht gelassen" in der Rolle des Piloten Mackenzie, der von seiner jahrelang nicht gesehenen Ex-Frau Astrid in einem Kabuff im Norden Kanadas besucht wird.
Die problematische, aber noch nicht ganz verlorene Beziehung der beiden wird überzeugend in einem filmisch Rückblick skizziert. Zudem scheint die Doktorin etwas zu verheimlichen - jedenfalls soll er sie ohne zu viel zu fragen zu einem schwer kranken Mann in einer Enklave fliegen; außerdem hat sie einen verschlossenen Koffer dabei, über dessen Inhalt sie nichts verraten will. Was hat sie vor? Wen will sie treffen?
Trotz des wütenden Schneesturms und der offenen Fragen willigt Mackenzie ein. Als die beiden losfliegen werden sie plötzlich von einem grellen Licht überrascht, alle elektronischen Geräte versagen und sie müssen notlanden. Das Abenteuer beginnt in dem Moment, als Mackenzie mit einem Splitter in der Hand aufwacht, den man per Reaktionstest entfernen kann. Er schaut sich um, Astrid ist verschwunden und es gibt nur noch Trümmer des Flugzeugs. Es ist bitterkalt, der Wind pfeift, er blutet und ist so schwach, dass er nicht klettern kann. Jetzt beginnt in einer kleinen Schlucht die Suche nach Antworten und der Kampf ums Überleben in der Wildnis.
Obwohl die Landschaft über die Unity-Engine nur recht grob dargestellt wird, was Texturen, Animationen und Pflanzen betrifft, und es mitunter Bildratenprobleme gibt, entsteht eine angenehm unwirtliche bis trügerisch romantische Stimmung. Das liegt auch daran, dass die Landschaft mit ihren Schluchten, Hängen, Höhlen und Seen sehr markant dargestellt wird; die kanadische Topographie wirkt natürlich und abwechslungsreich. Hinzu kommen ansehnliches Schneegestöber, tolle Sonnenaufgänge sowie eine eindringliche Soundkulisse. Was man trotz sichtbarer eigener Fußspuren schmerzlich vermisst, sind allerdings die Fährten der Tiere.
Überleben für Anfänger
Im Einstieg der Kampagne wird der Spieler langsam mit den Überlebensmechaniken vertraut gemacht: Man sollte Schutz in einer Höhle suchen, denn im Sturm sinkt die Außentemperatur nochmal deutlich. Man muss zwingend Holz sammeln, natürlich Feuer machen, Schnee zu Trinkwasser schmelzen, Antibiotika nutzen und Verbände anlegen, auf Krähen für Aas achten. Schon in den ersten Tagen in diesem kleinen Areal kann man an Erfrierung oder Verblutung sterben. Für eine feindliche Atmosphäre sorgen nicht nur der peitschende Wind oder die trostlose Ödnis in Weiß, sondern die stets sinkenden Statistiken der eigenen Lebenserhaltung, die man jederzeit aufrufen kann. Trotzdem wirkt diese Tutorialphase manchmal etwas zu streng eingeschränkt, denn man kann z.B. noch nicht frei schlafen oder erkunden, sondern muss spezielle Missionsziele erreichen, damit es weiter geht.
Letztlich erlebt man hier ohnehin keine Survival-Simulation im aktiven Sinne, die besonders realistisch sein will, sondern ein Survival-Abenteuer mit vielen Automatismen: Immer, wenn man Feuer macht, Äste, Kisten oder Paletten zerlegt, Schubladen öffnet, Kadaver ausweidet, Verbände anlegt, Medizin einnimmt, Tees trinkt oder etwas wie Kleidung oder Waffen herstellt, sieht man einen kreisförmigen Ladebalken, der die ausgelöste Aktion symbolisiert und der nur dann komplett durchläuft, wenn sie auch gelingt. Im Gegensatz zu Kona, das sehr berechenbar mit den Gefahren der Wildnis kokettiert, sorgt The Long Dark für permanenten und überaus authentischen Druck - Kälte, Hunger, Durst, Verletzungen und Erschöpfung können unheimlich schnell zum Tod führen. Vor allem, wenn man falsche Entscheidungen im Kleinen trifft. Noch wichtiger als der mögliche Erfolg ist nämlich auch die für eine Aktion benötigte Zeit: Wer zu lange mit irgendetwas herum werkelt, kann sein böses Wunder erleben - das Feuer ist aus oder man verblutet und es heißt Game Over.
Jack London lässt grüßen
In seinen besten Momenten vermittelt The Long Dark sogar ein Spielgefühl, das an jene hoch spannenden Schicksale einsamer Wanderer erinnert, die Jack London in seinen eindringlichen Geschichten wie "Die Wildnis des Nordens" oder "Der Ruf der Wildnis" beschrieben hat: den Kampf des kleinen überheblichen Menschen gegen die große gnadenlose Natur. Und der kann sich wie unter einem Brennglas in einem tragischen Moment manifestieren. Ich liebe Jack London und ich schätze dieses Spiel dafür, dass es genau diese kritischen Situationen entstehen lässt, in denen es auf Kleinigkeiten ankommt.
Man kann hier quasi beim Feuer machen sterben oder kurz vor einem Ziel elendig verhungern. Man kann sich ohne Licht in der Dunkelheit verirren oder mitten auf einem Stausee erfrieren, obwohl die rettende Höhle schon sichtbar ist. Wenn man sich entkräftet und zitternd dahin schleppt, wird das durch schwankende Bewegungen, verschwommene Sicht sowie das immer lautender pochende Herz so gut inszeniert, dass man quasi surreale Todeserfahrungen auf den letzten Metern macht. Wenn man sich dann in eine Hütte schleppt und tatsächlich noch überlebt, ist die Freude natürlich umso größer.
Es gibt nicht nur Automatismen, sondern auch einige knifflige aktive Herausforderungen: Wer Hasen ohne Schusswaffe oder Bogen jagen will, muss z.B. Steine werfen. Da hat man keinen Zielpunkt oder gar ein Fadenkreuz, sondern als Sichthilfe lediglich die linke Hand - so muss man sehr gut zielen und vorhalten. Und Vorsicht: Trifft der Stein, ist der Hase lediglich für einige Sekunden betäubt. Schafft man es nicht früh genug zu ihm hin, weil man z.B. in einer Deckung hockte, hoppelt er wieder davon. Ich bin schonmal verhungert, weil ich von zehn Würfen nur zwei ins Ziel brachte, aber dann immer zu spät war.
Und man muss genau wissen, für was man seine kostbare Zeit einsetzt: Manchmal findet man Bücher, z.B. über das Bogenschießen oder Gewehre, die einem entsprechende Fähigkeiten vermitteln können. Aber die klickt man nicht einfach an und schaltet diese frei, sondern man muss bis zu fünf Stunden in die Lektüre investieren - dafür braucht man natürlich Licht, man muss auch die Gewissheit haben, dass man bis zum Abend genug zu essen und Holz hat. Sprich: Lesen ist Luxus in einem Abenteuer, das einem stündlich den Garaus machen kann - Bücherverbrennung kann hingegen das Feuer weiter entfachen und das Leben um ein paar Minuten verlängern. Übrigens gibt es auch ein Limit für die Traglast: Nur 30 Kilo kann man maximal tragen – und schon weit vorher wirkt sich die Last negativ aus, denn man kann voll beladen nicht mehr sprinten und wird lauter. Wohl dem, der ein Lager mit Feuerstelle, Speicher oder gar Werkbank findet. Vieles wie Verbandszeug oder Zunder kann man zwar selber herstellen, außerdem kann man mit Nähzeug seine Kleidung reparieren, aber für einen Bogen oder ein gutes Messer braucht man eine Werkbank oder gar eine Schmiede. Aber egal was man tut: Man verbraucht stetig Kalorien, alles nutzt sich ab und kaum hat man seine Jacke genäht, melden sich Hunger und Durst.
Unrealistische Situationen
Aber sowohl die Spielmechanik als auch die Storymissionen können für sehr unrealistische Situationen sorgen, die einfach nur frustrieren. Das fängt mit Kleinigkeiten an: Wenn man von einem Wolf in die Hand gebissen wird, sollte man die Wunde desinfizieren und einen Verband anlegen. Aber die prozentuale Chance ist teilweise so niedrig, dass man fünf oder sechs mal ohne Erfolg die kostbare Medizin oder gar den Verband verwendet! Sprich: Der im Norden Kanadas lebene Pilot Mackenzie ist in der Kampagne nicht in der Lage, sich mal eben etwas auf die Hand zu träufeln oder sie zu umwickeln? Das ist natürlich kompletter Murks. Und wenn man daran stirbt, sinkt die Motivation.
Apropos Wölfe: Auch hier muss man als Freund der Wildnis Abstriche machen, denn sie verhalten sich in der Kampagne teilweise wie tollwütige Hunde - im Überlebensmodus kann man ihr Verhalten über den Schwierigkeitsgrad immerhin auf defensiv oder sogar ganz friedlich stellen. Aber mal abgesehen davon, dass man während der Story kein Rudelverhalten beobachten kann oder dass sie ihre Angriffe mit einem Bellen ankündigen (was Wölfe natürlich nicht tun), reagieren sie auch nicht auf Steinwürfe, wenn sie knurrend vor einem stehen. Selbst wenn man sie am Kopf trifft und sie ganz alleine vor einem stehen, machen sie weiter. Man muss erst eine Magnesiumfackel entzünden und auf sie werfen, damit sie jaulend verschwinden - um dann in zehn Sekunden wieder zurück zu kommen. Natürlich mag das so für ein "Spiel" spannender sein, natürlich können Wölfe auch Menschen gefährlich werden, aber es ist sehr schade, dass man das Verhalten dieser wunderbaren Jäger gerade in der Kampagne nicht natürlicher abgebildet hat.
Graue Geizmutter
Noch viel nerviger kann allerdings das Missionsdesign sein, das ohnehin recht statisch mit Holen und Bringen plus Belohnung aufgebaut ist. Ein Beispiel: Da soll man für eine alte blinde Frau erst genug Feuerholz und danach genug Lebensmittel sammeln, damit sie einem vertraut, dadurch vielleicht Fähigkeiten wie das Nähen von bestimmten Pelzen beibringt und natürlich mehr über die verschwundene Astrid erzählt. Dass diese erste Figur der Kampagne ein eher holzschnittartiger Charakter à la Gebrüder Grimm ist, ist ein dramaturgisches Defizit. Diese "Graue Mutter" weiß natürlich etwas, aber dass man gleich mit dem ersten menschlichen Kontakt eine archetypische Hexenrolle aufbaut, war sehr plump. In Kona gibt es eine verblüffend ähnliche Situation in einer Hütte mit einem blinden Fremden, die wesentlich natürlicher ausgespielt wird.
Viel fataler ist, dass man ihr zwar den kompletten Kühlschrank bis zu einem Wert von 10000 vollpackt und sie sich daraufhin öffnet und sogar eine Suppe kocht, aber man genau in diesem Moment verhungern kann - direkt vor der Alten! Zum einen,
weil man nicht mehr an den Kühlschrank darf, denn alles darin ist plötzlich tabu. Zum anderen, weil man nur ein Schlückchen Suppe von ihr bekommt, die ungefähr so lange vorhält wie ein Müsliriegel. Und obwohl man den vollen Topf auf dem Feuer sieht, obwohl man über mehrere Tage ihr Vertrauen erworben hat, darf man sich nicht satt essen. Hier hätte die Regie nach Erfüllung der Mission zumindest den Hunger komplett tilgen müssen. Denn man bekommt danach von ihr eine Mission, die man im angeschlagenen Zustand nur sehr schwer erfüllen kann - zumal man die nähere Umgebung ja schon für sie geplündert hat. Sprich: Die Kadaver sind ausgeweidet, die Lebensmittel in der Nähe weg. Auch die Dialoge helfen da nicht weiter, zumal man lediglich bei einem bestimmten Zahlenwert an Vertrauen wieder mehr Auswahl an Stichworten hat.
Fazit
In seinen besten Momenten vermittelt The Long Dark ein Spielgefühl, das an jene tragischen Schicksale einsamer Wanderer erinnert, die Jack London in seinen eindringlichen Geschichten wie "Die Wildnis des Nordens" beschrieben hat: den Kampf des kleinen überheblichen Menschen gegen die große gnadenlose Natur. Trotz en detail schwacher Kulisse entstehen in der markanten kanadischen Wildnis überaus stimmungsvolle Situationen bei peitschenden Winden und knackendem Eis. Hier muss man jede Aktion sorgfältig planen, sonst stirbt man elendig - selbst beim Feuer machen. Aber in seinen schlechtesten Momenten will man vor allem die Regie der Kampagne verfluchen, die ohne Gespür für realistische Übergänge nahezu künstliche Sackgassen erzeugt - erzählerisch ist das ebenfalls in Kanada spielende Kona besser, zumal Hinterland lediglich zwei von fünf Episoden anbietet und die Geschichte hier nur anreißt, was angesichts der Wartezeit etwas enttäuschend ist. Hinzu kommen einige spielmechanische Schwächen sowie technische Mängel. Aber wer ein stimmungsvolles Survival-Abenteuer sucht und vor allem im freien Modus oder den Herausforderungen unterwegs ist, der wird gut unterhalten.
Pro
Kontra
Wertung
PC
In den besten Momenten entsteht ein dramatisches Spielgefühl à la Jack London. In den schlechtesten Momenten will man die Regie der Kampagne verfluchen. Unterm Strich ein stimmungsvolles Survival-Abenteuer!
XboxOne
In den besten Momenten entsteht ein dramatisches Spielgefühl à la Jack London. In den schlechtesten Momenten will man die Regie der Kampagne verfluchen. Unterm Strich ein stimmungsvolles Survival-Abenteuer!
PlayStation4
In den besten Momenten entsteht ein dramatisches Spielgefühl à la Jack London. In den schlechtesten Momenten will man die Regie der Kampagne verfluchen. Unterm Strich ein stimmungsvolles Survival-Abenteuer!
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