Shadowrun: Dragonfall04.03.2014, Jörg Luibl

Im Test: Rollenspiel im Cyberpunk-Berlin

Im letzten Sommer feierte Shadowrun Returns ein solides Comeback. Zwar konnte das zu eng geschnürte Rollenspiel hinsichtlich Taktik, Interaktion und Offenheit nicht überzeugen. Aber dafür machte die Serienkiller-Story umgehend neugierig auf die Cyberpunkwelt, es gab coole Fähigkeiten und angenehm  verschachtelte Dialoge. Etwas mehr als ein halbes Jahr später gibt es ein weiteres Abenteuer, das mit komplett neuer Crew und Story im Berlin des Jahres 2054 spielt. Wie schlägt sich Shadowrun: Dragonfall? Mehr dazu im Test.

Der Atem des Drachen

Neues Abenteuer, neuer Held: Wie gehabt erstellt ihr einen Charakter aus den bekannten Rassen und Archteypen. Schamane, Magier und Samurai erklären sich von selbst; "Rigger" hantieren mit Drohnen; "Decker" hacken sich u.a. in die virtuelle Matrix. Aber das sind alles nur vorgefertigte Sets, ihr könnt auch komplett frei entwickeln und Fähigkeiten kombinieren.

Eigentlich sollte Feuerschwinge seit 42 Jahren tot sein. Schließlich wurde er laut den Geschichtsbüchern von Dr. Adrian Vauclair vernichtet, der mittlerweile wie ein moderner Siegfried verehrt wird. Aber einige Indizien deuten darauf hin, dass der gefürchtete Drache wieder sein Unwesen in Deutschland treibt. Oder ist das alles apokalyptische Spinnerei? Wer könnte sonst hinter diesen seltsamen Mordanschlägen stecken, die über plötzliche Biofeedback-Schläge für den sofortigen Tod des verbundenen Hackers sorgen?

Shadowrun: Dragonfall schürt nicht nur die investigative Neugier, sondern macht erzählerisch sehr viel richtig. Auch ohne Motion-Capturing und ausdrucksstarker Mimik gelingt es der Regie recht früh, den Spieler emotional an seine Gruppe zu binden. Als Anführer einer vierköpfigen Party  ist man sehr engagiert bei der Suche nach Indizien, weil man bei seinem ersten Run in Berlin gleich einen Partner durch einen Mordanschlag verliert. Was als kinderleichter Einbruch deklariert war, endet in der Katastrophe.

Wer hat Monika Schäfer ermordet?

Sehr geschickt lässt einem das Drehbuch die Wahl, in welchem Verhältnis man zur ermordeten Monika Schäfer stand - man kann sich z.B. für den Geliebten, den Freund

Ganz stark ist das Multiple-Choice-Dialogsystem: Man kann viele Gespräche über passive Fähigkeiten beeinflussen.

oder einen entfernten Kollegen entscheiden. So schlüpft man in die Rolle eines Neulings aus dem Rhein-Ruhr-Megaplex, der erst seit wenigen Runs im Team ist. Die Partyinteraktion ist zwar nicht so intensiv wie in Star Wars: Knights of the Old Republic, aber durchaus lebendig. Gleich zu Beginn muss man sich u.a. mit den  Sticheleien sowie dem Misstrauen einer Rivalin auseinander setzen. Wie reagiert man auf sie - herrisch, verständnisvoll, ausweichend?

Egal ob Eiger, die störrische Scharfschützin, die rätselhafte Straßensamurai-Schönheit Glory, der routinierte Schamane Dietrich oder der gut vernetzte Bandendoyen Paul Amsel - die Nebenfiguren sind durch die Bank interessant und markant. Und spätestens als einem Dante, der treue Hund von Monika, zuläuft und mit seinen traurigen braunen Augen anschaut, hat man sein Hauptquartier und die Crew ins Herz geschlossen. Schön ist auch, dass die Nebencharaktere über Sprechblasen manchmal die aktuelle Situation kommentieren. Auch wenn das manchmal zu selten vorkommt und dann wieder willkürlich wirkt, sorgt die Regie mit einfachen Mitteln für Identifikation und Leben in der Bude.

Auch die Story ist eine Stärke, obwohl sie immer noch linear verläuft. Es gibt erzählerische Überraschungen und angenehm verschachtelte Dialoge, in denen man auch mal zwischen den Zeilen lesen muss - so manche offensichtliche Antwort wird dann schonmal sarkastisch kommentiert. Wobei man je nach eigenen Fähigkeiten alternative Antworten geben bzw. Einfluss ausüben kann - und zwar wesentlich öfter als in der Premiere, so dass man viele Konflikte vermeiden kann. Es lohnt sich also, mit seinen Karmapunkten Charisma oder Intelligenz zu steigern. Auch die "Etikette", ob man also Wissen aus Gangs, Firmen, Sicherheitsdiensten etc. mitbringt, wirkt sich spürbarer aus.

"Berlin: The Flux-State" im Jahr 2054

Ein türkischer Barkeeper hat wertvolle Informationen parat.

Selbst wenn man Berlin in der farbenfrohen 2D-Welt nicht auf den ersten Blick wiedererkennt, sorgt nicht nur die Namengebung von "Liebchen" bis "Kreuzbasar" für etwas Lokalkolorit. Man erkundet z.B. das Gebiet um den real existierenden "Moritzplatz", wo es u.a. eine Kreuzberg-Bibliothek gibt und die mehrstöcigen Bürgerhäuser zumindest architektonisch an die ehemalige Luisenstadt erinnern  - da kann man unfreiwillig Kitschiges wie einen "Beckenbauer" verzeihen. Die Kulisse sowie das Figurendesign bleiben weiter recht statisch, wirken aber etwas farbenfroher als zur Premiere: Es gibt mehr zu sehen, was Umgebung, Animationen, Interieur und Kleidung angeht, so dass man des Öfteren in einen der malerischen Schauplätze hinein zoomt, um sich diesen Magier oder diese Wohnung vielleicht etwas genauer anzusehen.

Zwar folgt man erneut einer weitgehend linearen Handlung, aber man bekommt bei der Auftragswahl etwas mehr Freiheiten, was z.B. die Reihenfolge angeht. Außerdem sind die Nebenquests besser eingebunden und es gibt einige konsequente Reaktionen, wenn man bei vermeintlichen Kleinigkeiten das Falsche tut: Schüchtert man den Schrotthändler über seine Stärke ein oder gibt man ihm seine 400 Credits für den alten DVD-Player? In diesen

Im Nachtclub will man euch nicht in die oberen Etagen mit den Zimmern lassen. Wie geht ihr vor? Aggressiv oder subtil?

Situationen merkt man, dass die Entwickler mit Hingabe dabei waren.

Eingeschränkte Erkundungsreize

Neben dem Kampf gibt es erneut einige Hacking- und Codeknack-Situationen sowie Ausflüge in die Matrix, die für abwechslungsreiche Runs sorgen; schön ist, dass man auch mal selbst Namen in Computer eingeben muss, aber unterm Strich ist das alles recht einfach und zu offensichtlich zu lösen. Der Reiz besteht eher darin, dass jetzt öfter mehrere Wege zum Ziel führen - z.B. als es darum geht, in die oberen Etagen eines Nachtclubs zu gelangen: Neben roher Gewalt helfen auch Einschüchterung oder geduldiges Herumfragen. Die Erkundung der Stadt, der Firmen und Katakomben leidet allerdings immer noch unter zu wenig freier Interaktion - alles Klickbare wird zudem recht früh per Icon angezeigt. Man fühlt sich fast wie in einem Adventure mit eingeblendeten Hotspots. So wird man trotz der malerischen Kulisse eher zum Abgrasen des Offensichtlichen als zum aktiven Erkunden motiviert.

Spielerisch bleibt es bei solider Rundentaktik im Kampf, wobei man die Fähigkeiten der Charaktere gut kombinieren kann. Man kann die Zielgenauigkeit magisch erhöhen, dämpfende Schutzschirme errichten, zwischen Feuersalven und gezielten Schüssen wählen, Drohnen, Geister und Magie einsetzen. Allerdings leidet der Kampf unter bekannten Defiziten: Die

Zwar erkennt man Berlin nicht auf den ersten Blick, aber es gibt zumindest etwas anarchistisches Lokalkolorit.

schwache KI macht einige schwere taktische Fehler, weil sie zu passiv agiert oder wirft Granaten schonmal auf eigene Leute, weshalb ich dringend den dritten der vier Schwierigkeitsgrade zum Start empfehle.

Teamgeist im Kampf, Egoismus in der Entwicklung

Hinzu kommen stellenweise unglaubwürdige Sicht-, Deckungs- und Trefferberechnungen sowie eine bis auf den Zoom statische Kamera, so dass man  für die optimale  Platzierung eines Charakters schonmal länger mit der Maus rumfummeln muss. Außerdem ist Deckung nicht zerstörbar, die Areale sind recht klein und die Vertikale spielt keine Rolle. Nicht nur kampftaktisch ist Shadowrun: Dragonfall weit von einem XCOM entfernt, auch teamtaktisch. Man kann leider nur nur die Fähigkeiten seines Hauptcharakters über Karma entwickeln und auch auch nur seine sieben Körperteile gezielt mit Cyberware stärken - alle anderen Partymitglieder kann man nicht selbst auf- oder ausrüsten.

Ärgerlich sind zudem nicht ausgelöste Skripte für Quests oder Figuren, so dass z.B. plötzlich ein neutraler Troll wie wild durch einen Schauplatz läuft, der eigentlich am Kampf teilnehmen sollte. Frei speichern könnt ihr neuerdings überall; Versionen für iPad sowie Android-Tablets sind bereits angekündigt. Eine deutsche Übersetzung dürfte noch auf sich warten lassen.

Fazit

Mir gefällt Shadowrun: Dragonfall etwas besser als die Premiere. Das liegt zum einen an der sehr guten Story, die einen schnell in ihren Bann zieht und mit ihren tollen Nebencharakteren noch länger fesselt. Das liegt zum anderen daran, dass man in den Multiple-Choice-Dialogen über seine Talente viel mehr Einfluss hat. Dabei gefällt auch die Partyinteraktion mit ihren gruppeninternen Konflikten. Spielerisch bleibt es allerdings bei den bekannten Defiziten hinsichtlich der schwachen KI sowie den unglaubwürdigen Sicht- und Deckungsberechnungen. Ärgerlich ist zudem, dass man nur seinen Hauptcharakter entwickeln und ausrüsten kann - auf den Rest der Party hat man keinen Zugriff. Die malerische Kulisse hat zwar bis auf wenige Anspielungen nicht viel mit Berlin zu tun, wirkt aber genauso wie das Figurendesign etwas lebendiger als jene von Seattle. Unterm Strich ein erzählerisch überaus empfehlenswertes, aber spielerisch etwas zu statisches und kampftaktisch solides Rollenspiel.

Pro

sehr gute Story macht von Beginn an neugierig
Nebencharaktere kommentieren in Sprechblasen
gut geschriebene Nebencharaktere wachsen ans Herz
stimmungsvolles Cyberpunk-Szenario in Berlin
Slang & Mentalität der Shadowrun-Welt werden getroffen
sehr gute, sehr viele Texte und Multiple-Choice-Dialoge
je nach Charakter/Fähigkeiten andere Antworten möglich
Party-Taktik mit bis zu vier Charakteren
Charaktererstellung mit fünf Rassen; sechs Archetypen
coole Fähigkeiten & Begleiter (Hacking, Drohnen, Geister etc.)
vier Schwierigkeitsgrade
erweiterter Editor für eigene Abenteuer

Kontra

größtenteils lineare Handlung
einige Bugs (Quest/Figur wird nicht ausgelöst)
nur Hauptcharakter leveln/ausrüsten
über weite Strecken schwache Gegner-KI
zu wenig taktische Möglichkeiten im Kampf
inkonsequente Schusslinien /Deckungsabfrage
Berlin nur an wenigen Stellen zu "erkennen"
immer noch etwas sterile Kulissen ohne Interaktion
kein Tagebuch zum Nachschlagen
Kamera nicht drehbar, nur statische Portraits
nur englische Texte, keine Sprachausgabe

Wertung

PC

Cyperpunk-Berlin ruft Rollenspieler: Einige Inkonsequenzen sowie das enge Korsett stören, aber Story und Charaktere sind klasse.

0
Kommentare

Du musst mit einem 4Players-Account angemeldet sein, um an der Diskussion teilzunehmen.

Es gibt noch keine Beiträge. Erstelle den ersten Beitrag und hole Dir einen 4Players Erfolg.