Im Test: Zwei charmante Vögel
Am 6. Januar haben die beiden britischen Entwickler Mandy Lennon und Jeremy Noghani endlich das finale Kapitel 4c zu Aviary Attorney veröffentlicht. Grund genug, das detektivische Abenteuer der beiden Vogeljuristen "Sparrowson" und "Falcon" zu testen, das von 1503 Unterstützern mit 18917 Britischen Pfund über Kickstarter finanziert wurde. Was erwartet euch auf dem PC für 14,99 Euro im Paris des 19. Jahrhunderts? Viel Humor, tolles Artdesign und ein charmantes Ermittlerduo.
Artdesign im Zeichenstil historischer Karikaturen
Ein Frosch liegt aufgeschlitzt im Garten, eine Katze sitzt unter Mordverdacht im Knast. Was geschah am 1. Januar 1848 auf dem Schloss von Baron Rorguil? Der Anwalt Jayjay Falcon und sein Assistent Sparrowson sollen die Lady mit den Schnurhaaren verteidigen. Aber bis zum Prozess haben die beiden Vögel nur drei Tage Zeit, um in Paris die Tatorte zu besuchen, Zeugen zu befragen und Hinweise zu sammeln. Aviary Attorney klingt nicht nur so wie Ace Attorney, sondern inszeniert ein Detektiv-Adventure wie man es vom forschen Junganwalt Phoenix Wright u.a. auf dem 3DS kennt - dabei ahmen die Briten auch einige Aspekte nach, wie etwa leicht animierte Gefühlsausbrüche oder die Struktur bis zum Prozess. Aber im Mittelpunkt stehen hier eher Story und Dialoge als spielmechanische Rätsel.
Kann denn so eine Mieze ein Mörder sein? Falcon und sein kleiner Kollege Sparrowson sollen sie verteidigen.
Und es gibt einen ganz großen Unterschied: Sketchy Logic Games nutzt keinen japanischen Animestil, sondern präsentiert Kulissen sowie Charaktere in der Tradition europäischer Zeitungen und Grafiken der Romantik. Die vermenschlichten Spatzen, Falken, Löwen, Schwäne oder Wöfe sehen so aus als wären sie gerade mit spitzer Feder gezeichnet worden - sehr realistisch, aber auch mit einem Augenzwinkern dargestellt. Dieser wunderschöne antropomorphe Stil wurde vom französischen Karikaturisten und Zeichner J. J. Grandville (1803 - 1847) inspiriert, der für seine markanten Mischwesen bekannt war.
Spatz und Falke auf süffisanter Verbrecherjagd
Was hat der Schwan zu verbergen? Wer all zu forsch nachfragt, kann die Dame verscheuchen.
Realismus und Überzeichnung, Humor und Ironie werden nicht nur in den Charakterdarstellungen, sondern auch sehr schnell in der Geschichte des Detektiv-Abenteuers deutlich. Es ist einfach köstlich, die süffisanten Gespräche zwischen Falcon und Sparrowson auf ihren Recherchen zu verfolgen. Wer des Englischen mächtig ist, wird sich über den Wortwitz und auch die kulturellen Anspielungen freuen, bei denen nicht nur Amerika oder der Kapitalismus, sondern auch Facebook, CSI oder Twitter herhalten müssen. Ich habe mich selten so bei der Lektüre eines Spiels amüsiert - mehr Sprachen sowie Umsetzungen für Linux, Android sowie iOS sind übrigens per Update angekündigt.
Die Karte von Paris: Mit der Zeit tauchen immer mehr Orte auf, die man untersuchen kann.
Aber neben dem Schmunzeln kommt auch das investigative Grübeln nicht zu kurz: In vier Akten gilt es seine Mandanten zu verteidigen und dabei Verbrechen aufzuklären. Das läuft meist in zwei Phasen ab: Zunächst spricht man mit Zeugen in Dialogen, wobei man zwar oftmals alle möglichen Fragen durchgehen kann, aber auch mal die Wahl hat, ob man z.B. mehr Druck ausübt oder es auf sich beruhen lässt - wer nicht locker lässt, kann einen Gesprächspartner verscheuchen. Auf einer Karte des historischen Paris tauchen mit der Zeit immer mehr Orte auf, die man besuchen kann, um weitere Gegenstände von der Kamera bis zur Schokolade vielleicht im Louvre oder einer Taverne zu finden. Die Fundstücke kann man zwar nicht weiter untersuchen oder kombinieren, aber später in der Verhandlung sehr gut gebrauchen.
Erste die Recherche, dann das Kreuzverhör
Selbst der französische König darf nicht fehlen. Wer wollte ein Attentat auf ihn verüben?
Besonders knifflig ist diese Phase der Recherche nicht, aber man hat nicht alle Zeit der Welt, denn manche Orte verbrauchen einen ganzen Tag und die Uhr tickt. Irgendwann ist Verhandlungstag und man muss sich vor dem Richter samt seiner tierischen Jury beweisen, während der Staatsanwalt und Kommissar natürlich auf "schuldig" hinauswollen. Sobald sie ihre Aussagen zur Tat gemacht haben, darf man die Zeugen ins Kreuzverhör nehmen: Dann werden ihre Aussagen mit unterstrichenen Schlüsselworten als Text angezeigt, so dass man per Klick weiter nachhaken kann. Aber Vorsicht: Wer sinnlos insistiert und keine Indizien hat, der kann es sich mit der Jury verspielen.
Man kann also Sympathie verlieren oder gewinnen - je nachdem wie gut man sein Kreuzverhör führt. Und das wirkt sich dann
Im Kreuzverhör kann man die Aussagen der Zeugen vertiefen. Aber die Jury mag es nicht, wenn man sich mit Lappalien aufhält...
auf das Urteil aus. Zwar ist es nicht sehr schwer vor Gericht zu bestehen, wenn man alle Indizien dabei hat, aber im Laufe der vier Kapitel steigt der Schwierigkeitsgrad zumindest sanft an. Außerdem gibt es auch mal strukturelle Überraschungen wie etwa eine abgebrochene Verhandlung, die Zeit zur weiteren Recherche bietet, oder erzählerische Wendungen, die die eigene Perspektive sowie die Moral von Sparrowson und Falcon gehörig ins Wanken bringen. Doch kaum hat sich der Falke nach einer Sauftour geschüttelt, kann es weiter gehen. Schön ist auch, dass die Fälle ab dem zweiten Akt auch in den politischen Kontext der Zeit eingebunden werden, in der die Revolution vor der Tür steht und selbst der König nicht mehr sicher ist. Last but not least muss man die Musikuntermalung ausdrücklich loben, die sich je nach Szene ändert und von Klavier über Violine bis Orgel nahezu alle instrumente abdeckt: Die klassischen Stücke wurden nicht neu komponiert, sondern stammen von Camille Saint-Saëns (1835-1921), der u.a. für seine musikalische Suite "Karneval der Tiere" bekannt ist.
Fazit
Vögel als Ermittler? Der Karikaturenstil der Romantik als Grundlage für das Artdesign? Dazu klassische Musik von Camille Saint-Saëns? Aviary Attorney ist ein Schmuckstück - sowohl hinsichtlich der wunderbaren Zeichnungen, der stimmungsvollen Musik als auch aufgrund des süffisanten Humors. Ich habe selten so oft in einem Spiel geschmunzelt. Über vier Kapitel habe ich das charmante Duo aus Spatz und Falke begleitet und nicht nur ihre Zickereien, sondern auch jeden kulturellen Seitenhieb genossen. Zwar sind Kulisse, Story und Dialoge hier eher die Stars als die investigative Spielmechanik, die trotz etwas Multiple-Choice hier und nett inszeniertem offenem Kreuzverhör da letztlich zu wenig Anspruch für Knobler alter Schule bietet. Aber wer Lust auf eine interaktive Graphic Novel mit historischem Kontext, einigen Wendungen und tierischen Charakteren hat, der wird hier köstlich unterhalten. Glückwunsch an die beiden britischen Entwickler, die sich zwar von Phoenix Wright haben inspirieren lassen, aber auf sehr kreative Art ihre ganz eigene Art der Ermittlungen inszenieren. Umsetzungen für Linux, Android und iOS sind übrigens in Planung.
Pro
add_circle_outline wunderbares Artdesign
add_circle_outline köstlicher Wortwitz, viel Humor
add_circle_outline viele historische Bezüge & kulturelle Seitenhiebe
add_circle_outline Detektiv-Abenteuer mit Hinweissuche
add_circle_outline interessante Fälle mit Überraschungen
add_circle_outline Gerichtsverandlungen mit Kreuzverhör
add_circle_outline skurrile tierische Charaktere
add_circle_outline kleine Minispiele (Black Jack)
add_circle_outline tolle klassische Musikuntermalung
Kontra
remove_circle_outline Lösung der Fälle ist recht leicht
remove_circle_outline Hintergrundgrafiken wirken recht schwammig
remove_circle_outline nur wenige Animationen
remove_circle_outline bisher nur englische Texte
Wertung