Shenzhen I/O22.11.2016, Benjamin Schmädig

Im Test: Read the fucking manual!

Vor mir liegt ein Hefter, darin Listen elektronischer Bauteile sowie die Grundlagen einer maschinennahen Programmiersprache. Grußworte hat mir mein neuer Arbeitgeber beigelegt, Papiere zum Beantragen der Einreise ins chinesische Shenzhen sowie Produktvorstellungen elektronischer Gadgets. Denn die herzustellen ist mein neuer Job. Also konzipiere ich Designs, indem ich Mikrocontroller mit anderen Bauteilen verbinde und programmiere. Sämtliche Grundlagen bringe ich mir mithilfe des Handbuchs selbst bei. Es gibt kein Tutorial, kein An-die-Hand-Nehmen – Shenzhen I/O macht mich auf umfassende Art zu einem beinahe realen Elektroniker, wie ein Spiel fühlt es sich kaum an. Und gerade deshalb ist es eines der besten seiner Art!

Made in China

Dabei ist Shenzhen I/O kein kompliziertes Spiel: Seine Geschichte ist flott erzählt, sein Inhalt schnell beschrieben. Es spielt in der nahen Zukunft der chinesischen Metropole Shenzhen. Als Angestellter eines Longteng genannten Unternehmens setzt man Schaltkreise aus verschiedenen Bauteilen zusammen und programmiert deren Mikrocontroller so, dass sie verschiedene Eingaben an gewünschte Ausgabegeräte weiterleiten. So entstehen Displays, die auf Knopfdruck einen Betrag addieren oder subtrahieren, sowie Module, die den Klang eingehender Musik verändern.

Land und Leute lernt man durch E-Mails kennen – erfreulich gut geschriebene von erstaunlich greifbaren Charakteren. Auch Aufträge erhält man per Elektropost, wobei man fast immer zwischen verschiedenen Projekten wählen darf. Auf dieser einfachen Benutzeroberfläche entwickelt Shenzhen I/O ein überraschend glaubwürdiges Eigenleben. Mit der

Per E-Mail erhält man nicht nur Aufträge, sondern lernt auch Land und Leute kennen.
Gruppendynamik eines Rollenspiels hat das natürlich nichts gemein! Weil Inhalt und Darstellung aber sinnvoll zusammenpassen, fühle ich mich stärker als Teil des Longteng-Kollektivs, als ich vor dem ersten Hochfahren des virtuellen Rechners vermutet hatte.

RTFM!

Es ist also ganz einfach: Man zieht ein Bauteil auf die Blaupause, verbindet Schalter, Ausgabegerät sowie Mikrocontroller durch Verbindungskabel und gibt den Befehl „mov p0 x1“ ein. Das transportiert den an p0 eingehenden Wert zu Ausgang x1 – I/O steht für Input/Output, also Eingang/Ausgang. Das Programmieren erinnert an TIS-100, das ebenfalls von Zachary Barth erdacht wurde und für das er eine ganz ähnliche Programmiersprache erfunden hatte.

Aber natürlich reicht hier wie da das Verschieben von Werten selten aus. Sie müssen umgewandelt werden, dürfen ausschließlich unter bestimmten Bedingungen verarbeitet werden, oft sollen verschiedene Signale unterschiedliche Funktionen auslösen usw. Ein profaner Zähler sieht etwa so aus:

Links das Listing, rechts die praktische Anwendung.

tgt p0 0

+ add 1

tgt p1 0

+ sub 2

tlt acc 0

+ mov 0 acc

mov acc x1

slp 1

Schnell werden die Abhängigkeiten zahlreicher, das komplette Design komplexer. In vielen Geräten müssen mehrere Bauteile mit jeweils eigenen, voneinander abhängigen Programmierungen verknüpft werden. Und genau wie in TIS-100 ist das Handbuch dabei die wichtigste Hilfe, weil nur dort sowohl Bauteile als auch die Assembler-ähnliche, frei erfundene Programmiersprache beschrieben sind. Die Oberfläche weist zwar auf Fehler im Code hin, führt aber nicht wie ein interaktiver Lehrer außerhalb des Spiels an dessen Funktionsweise heran. Entweder druckt man sich das Handbuch also aus oder liest das stets im Hauptmenü verfügbare PDF, um sich wie ein echter Elektroniker der Materie zu nähern.

Wie aus Shenzhen I/O Minecraft wurde

Der eigentliche Clou ist aber wie in fast allen Spielen aus Barths Zachtronics genannten Studio (SpaceChem, Infinifactory) die große Freiheit beim Kreieren eigener Lösungen. Anders als in gewöhnlichen Puzzlespielen folgt man ja nicht den Brotkrumen auf dem Weg zu vorgezeichneten Resultaten, sondern nutzt das umfangreiche System virtueller Hard- und Software, um zum Ziel zu finden. Auch in Shenzhen I/O gibt es außerdem leere Blaupausen, auf denen man ohne Vorgaben alle verfügbaren Bauteile auf beliebige Art verwenden darf, um eigene Gadgets zu erstellen.

Es ist bemerkenswert, wie sehr Shenzhen I/O mit dieser Freiheit an das thematisch völlig verschiedene Minecraft erinnert, denn beide Titel drehen sich um die schöpferische Kreativität der Spieler. Kein Wunder: Barth erschuf mit Infiniminer die zentrale Inspirationsquelle für eins der wichtigsten Spiele unserer Zeit.

Weniger ist mehr

Doch zurück zu den Schaltkreisen, deren Effizienz ein weltweiter Vergleich offenbart: Wie viele Zeilen verschlingt der Programmcode, wie teuer sind die verwendeten Bauteile, wie viel Strom verbraucht das Gerät? Das ist grandios! Denn zum einen ist der Vergleich ein enormer Ansporn, das Design zu optimieren – immerhin vergleicht diese Rangliste nicht nur Fingerfertigkeit, sondern das zumindest meinem Ego etwas wichtigere logische Denken.

Nein, ehrlich: Solitaire hat mit der Arbeit als Elektroniker nicht das Geringste zu tun!

Zum anderen macht der Zusammenbau der Module Shenzhen I/O zu einem größeren Spiel als es TIS-100 war. Programmierte man dort nämlich einen im Wesentlichen stets gleichen Computer, motivieren hier die immer neu zusammengesetzten Baupläne. Die Variation belebt die virtuelle Arbeit ungemein und ich bin stets bemüht die Produktionskosten zu senken, indem ich etwa mit einem leistungsschwächeren, 3 Yuan günstigen Modul auskomme, anstatt ein 5 Yuan teures zu verwenden.

„Nur noch ein Versuch.“

Aber Moment mal! Geht's hier überhaupt um Programmieren? Eine geschlagene Stunde lang spiele ich jetzt schon Solitaire, während ich die nächste Aufgabe ewig vor mir her schiebe. Wenigstens einmal will ich dieses vermaledeite Kartenspiel noch lösen! Denn Solitaire gehört ja zum Programm: Wenn ich Shenzhen I/O starte, liegen der E-Mail-Ordner mit Arbeitsanweisungen sowie eine fürs Spiel erfundene Variante des berühmten Kartenschiebens auf meinem virtuellen Desktop.

Und ich wette, Barth zählt mit! Irgendwann knallt er mir eine Statistik vor den Latz, auf der eine unverschämt hohe Stundenanzahl unter „Päuschen“ lächelt – und eine deutlich kleinere verlegen unter „Arbeitsstunden“ grinst.

Wie gesagt: Shenzhen I/O simuliert den echten Arbeitsalltag auf erschreckend realitätsnahe Art und Weise.

Fazit

Das Programmieren einer realitätsnahen Programmiersprache und das Zusammenstellen kompletter Geräte machen für sich schon einen hervorragenden spielerischen Kern aus: Die große Freiheit beim Programmieren und dem Zusammenfügen der benötigten Hardware zeichnet auch das aktuelle Spiel von Zachary Barth aus. Weil Shenzhen I/O dazu zwingt, sich über ein Handbuch in die Materie einzulesen, versinkt man dabei fast vollständig in der Rolle des beinahe realen Elektronikers. Das fesselnde Optimieren für den weltweiten Vergleich, die vielen interessanten Aufgaben, die bequeme Bedienung und die elegant eingebundene Geschichte: Barth erfindet sein Konzept des kreativen Schaffens nicht neu, setzt es aber so umfassend um wie nie zuvor – und macht Shenzhen I/O damit zu einer der besten Kopfnüsse, die man spielerisch überhaupt knacken kann!

Pro

Dutzende fordernde Aufgaben mit freien Lösungswegen
frei erfundene, realitätsnahe Programmiersprache als Grundlage
anspruchsvolle Verknüpfung von Programmierung und Elektrotechnik
Zusammenstellen eigener Module und Programme ohne Vorgaben
motivierende Ranglisten bewerten Effizienz des Codes, notwendige Kosten zum Herstellen der Entwürfe und Energieverbrauch
erarbeiten aller Fähigkeiten durch Handbuch-Lektüre statt Tutorial
wahlweise automatisches Formatieren des Programmcodes während der Eingabe
Erstellen beliebig vieler Designs
gelungenes Vorstellen der Spielumgebung und aller Arbeitsanweisungen per E-Mail
"erschreckend" fesselnde Solitaire-Variante

Kontra

ausschließlich englische Texte

Wertung

PC

Vom Lernen einer Progammiersprache bis zum Konzipieren kompletter Schaltkreise fesselt Shenzhen I/O mit großer Freiheit beim Erschaffen eigener Lösungen.

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