Daemonica01.06.2006, Jörg Luibl
Daemonica

Im Test:

Ein dämonisch geschulter Ermittler im England des 14. Jahrhunderts? Unerklärliche Morde und düstere Machenschaften? Das klingt nach Bruder Cadfael, Der Name der Rose und all jenen mittelalterlichen Detektiv-Abenteuern, die bisher vor allem als Schmöker oder Verfilmung unterhalten konnten. In Daemonica (ab 11,40€ bei kaufen) wird das Thema für 19,90 Euro als Action-Adventure inszeniert. Billigware oder überraschend gut?

Frogster bildet

Was ist eine "Latwerge"? Na? Nein, keine Latzhose für Zwerge. Auch kein Bohrwerkzeug für Schreiner. Ein Quetschekuchen? Fast! Es ist wörtlich übersetzt der Dicksaft, ein musartiger Fruchtkompott oder eine breiförmige Arznei. Mit "latwarje" bezeichnete man bereits im Mittelhochdeutschen ein Heilkräutersirup. Das sagt jedenfalls Kluges etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache.

Aberglaube, Sekten und die Pest beherrschen das 14. Jahrhundert, in dem ihr als detektivischer Ermittler tätig seid.
Was diese Reise in die Worthistorie mit Daemonica zu tun hat? Das Spiel iste ebenso interessant und versetzt euch ebenfalls ins Mittelalter. Ihr schlüpft in die Rolle des investigativen Bestienjägers Nicholas Farepoynt, der Mörder, Brandstifter und sonstige Übeltäter im England des 14. Jahrhunderts zur Strecke bringt. Und ihr beherrscht dort die alchemistische Fähigkeit, magische Rezepturen aka Latwergen herzustellen, um euch zu heilen, Wachen einzuschläfern oder mit Toten zu reden.

Schwarzer Prinz & Totenmagie

Der tätowierte Kapuzenmann hat eine bewegte Geschichte: Er wurde als Sohn eines englischen Adligen in Frankreich geboren, war Leibwächter des Schwarzen Prinzen im Hundertjährigen Krieg und rettete den eroberungsfreudigen König bei der Schlacht von Crécy. Danach hörte Nicholas plötzlich seltsame Stimmen, verliebte sich in eine als Hexe verschriene Frau und erfuhr irgendwann, dass er mit Toten sprechen kann. Als seine Frau bei einer dieser Beschwörungen ums Leben kam, wollte Nicholas zunächst selber sterben. Aber er hatte ihr versprochen, seine Fähigkeiten für das Gute einzusetzen - und genau hier beginnt das überraschend unterhaltsame Abenteuer in fünf Akten: vor den Toren des fiktiven Örtchens "Cavorn", wo ein Mörder sein blutiges Unwesen treibt.

Wer jetzt an Action, Monsterquests und packende Schwertkämpfe denkt, liegt falsch: Daemonica ist quasi ein Point&Click-Adventure in dreidimensionaler Kulisse. Man fühlt sich zunächst in ein Neverwinter Nights -Modul für Rätselknacker versetzt. Nicholas trabt in isometrischer Perspektive durch kleine Wäldchen, Klöster und ein Dorf inklusive Taverne, Viehwiese und Behausungen. Zwar gibt es hier und da aufgescheuchte Hühner, bewegte Bäume oder sogar Regen, aber die Spielwelt ist in Sachen Wasserdarstellung oder Animationen hoffnungslos

Schaut euch Daemonica selbst an:

Download: Deutsche Demo (257 MB)

Download: Trailerveraltet. Auch das Laden vor jedem Betreten eines Raumes zeigt die technischen Schwächen auf. Hinzu kommt, dass man nur einen kleinen Ort erforschen kann, an dem man sich schnell satt gesehen hat. Wer mit optischen Maßstäben an diesen Titel herangeht und den schnellen Effekt sucht, wird enttäuscht. Wer mit erzählerischen Maßstäben an diesen Titel herangeht und ein durchdachtes Abenteuer sucht, wird fündig.

Rätselknacken im Mittelalter

Und Adventure-Fans werden sich selbst mit dieser kleinen polygonarmen Spielwelt anfreunden, denn sie hat trotz aller Beschränkungen ihren eigenen gotischen Stil.  Da ist die wehmütige Musik, die mit ihren langgezogenen Orgeltönen und den leisen Tönen an das morbide Flair von Black Mirror oder Scratches erinnert. Ist es ein Zufall, dass hier wieder ein tschechisches Team (Cinemax ) verantwortlich zeichnet? Die Welt ist zwar spartanisch, aber durchaus edel designt und sie wird stimmungsvoll präsentiert. Sie punktet vor allem mit den hervorragend gesprochenen Monologen und Gedanken des Helden - die Stimme passt mit ihrem leicht depressiven, aber bestimmten

Adventure-Freunde werden sich freuen: Im Zentrum des Spiels stehen Rätsel, die Suche nach Gegenständen sowie die Recherche.
Unterton wunderbar zu seiner suizidnahen Gemütslage. Nicholas Farepoynt ist als Charakter drei mal interessanter als die heroischen Abziehbilder, die große Titel reihenweise ausspucken. Gerade solche Figuren braucht die Spielewelt, gerade deshalb hat mich dieses Abenteuer auch so überrascht und gerade deshalb rücken die technischen Kritikpunkte in den Hintergrund. 

Auch die anderen Figuren sind interessant - selbst wenn ihre Porträts steif bleiben und ihre Animationen in die Mottenkiste gehören. Was wäre hier mit besserer Engine, größerem Team und Budget alles möglich gewesen! Ihr trefft zunächst auf die Bewohner des Dorfes, die euch und eurem Auftraggeber, dem Bürgermeister, sehr misstrauisch begegnen. Hat euch der Mann hinsichtlich der Bluttaten belogen? Schließlich hat er den angeblichen Mörder eines Ehepaares bereits hinrichten lassen und verlangt von euch lediglich die Auffindung der Beweise. Doch dann gibt es weitere Morde, seltsame Verwicklungen im Kloster und eine Leiche nach der anderen wird von euch interviewt...

Eure Recherche ist gefragt: Da gibt es den grimmigen Schmied, den eitlen Großgrundbesitzer, die alte Kräutermagd, den idealistischen Fischer, den Wahnsinnigen, den Wirt, die Mönche und viele andere Figuren, die ihr in teiwleise sehr langen Dialogen, die sich über mehrere Seiten hinziehen können, kennen lernt. Diese werden leider nicht gesprochen, sondern nur als Texte serviert - schade. Das Abenteuer ist dadurch zwar sehr leselastig, aber nichtsdestotrotz sehr gut erzählt. Ärgerlich ist jedoch, dass einmal abgearbeitete Antworten oder Fragen nicht speziell markiert werden. So weiß man nie, ob man vielleicht etwas vergessen hat und kaut Altbekanntes aus Vorsicht noch mal durch.              

Zunächst herrscht ein sehr langsamer, fast schon einschläfernder Spielrhythmus, denn es gibt keine bösen Überraschungen, Überfälle oder Ähnliches - vielleicht passiert schon zu wenig? Allerdings ist es gerade diese seltsame Ruhe, die man kaum noch in Spielen findet, die auch eine gewisse Spannung angesichts des Ungewissen erzeugt. Ihr bekommt immerhin Stück für Stück Hinweise auf den Mord,

Die Kämpfe sind sehr einfach inszeniert, aber Action ist erstens selten und zweitens liegt die Entscheidung zum Klingentanz meist bei euch.
die umgehend im automatisch aktualisierten Tagebuch gespeichert werden. Ihr füllt euer Inventar mit Kräutern, Gegenständen und Werkzeugen, kombiniert diese bei Bedarf und löst einfache Aufgaben, die logisch aufgebaut sind: Wie bekommt man den Toten vom Galgen, obwohl eine Wache dort alles verscheucht? Man muss Wein finden, einen Schlaftrank brauen und die Kräuter dafür sammeln. Wie kommt man an den Schlüssel im Moor? Die Angel will einem der Fischer nicht leihen. Also spricht man mit seinem Schwarm, der Magd des Bürgermeisters, bis der junge Mann vor Freude spendabel wird. Wo sucht man nach einem Dieb? In einem Feld, dessen Früchte niedergetrampelt wurden.

Zwar sind nicht alle Rätsel besonders anspruchsvoll oder durchdacht, aber sie werden gut in die Erzählung eingebunden und sind meist logisch nachvollziehbar: Wasser gibts im Brunnen, ein Schloss beim Schmied etc. Schade ist allerdings, dass man nach Erhalt eines neuen Gegenstandes meist von Bewohner zu Bewohner tingeln muss, bis die Story dadurch wieder in Gang kommt - das kann zu Leerlauf führen, weil man irgendwo den Auslöser nicht findet. Die Hinweise im Tagebuch fangen diese Orientierungslosigkeit ab und zu auf. Schön ist, dass man sich die langen Laufwege ersparen kann, indem man einfach auf markierte Bereiche der interaktiven Karte klickt; so kann man schnell von Raum zu Raum, von Figur zu Figur springen. Inkonsequent ist jedoch, dass wichtige Gegenstände erst dann sichtbar sind, wenn die Story es will: Wer den Friedhof untersucht, bevor er den passenden Hinweis auf eine Brosche bekommt, wird diese nicht finden; später liegt sie einfach neben einem Busch - arrgh! In Sachen Erzählkultur ist Daemonica erstklassig, aber in Sachen Rätselkultur hat es noch klare Defizite.

Kampf & Nekromantie

Nicholas führt auch ein Langschwert mit sich, aber die Kämpfe sind weder spielerisch noch technisch der Rede wert - es handelt sich um eine reine Klickorgie ohne Taktik oder Stil. Daemonica ist aber kein Action-Adventure, sondern ein Point&Click-Abenteuer mit sehr wenigen Schwertduellen. Hinzu kommt, dass man meist die Wahl hat, ob man kämpfen will oder nicht, manchmal sogar, ob man bis zum Tod des Gegners kämpft oder nicht - das ist trotz der billigen Inszenierung erfrischend. Stellt man sich jedoch besonders dumm an, kann man hier übrigens auch sterben oder sehr viel Lebensenergie verlieren, so dass man sich schnell um Heilung bemühen sollte.

Daemonica ist zwar sehr textlastig, aber dafür sind Dialoge, innere Monologe und Überleitungen sehr lesenswert.
Aber Nicholas' besondere Stärke liegt nicht im Schwertarm, sondern eher darin, dass er mit den Toten sprechen kann. Hier zeigt Daemonica plötzlich sehr motivierende Elemente: Wenn er eine Leiche in seinen Keller bringt, die richtigen Kräuter findet und zu einer Latwerge vermischt, beherrscht er nach dem Verzehr die Sprache "Daemonica". Danach kann er Einzelheiten über das Ableben der Verstorbenen erfahren. Und hier spielen auch die Kulisse und Akustik ihre motivierenden Joker aus, denn die Welt der Geister wird sehr gut in einer Art Tempel mit apokalyptischen Gemälden präsentiert und der Held spricht dazu mit tiefer und außerweltlich verzerrter Stimme - der Exorzist lässt grüßen. Je weiter Nicholoas in das blutige Schicksal des Dorfes verwickelt wird, desto mehr übersinnliche Erscheinungen tauchen auf: Er sieht seine tote Frau, hört Leute seltsame Dinge sagen. Gerade dieser Kontakt mit den Toten und Geistern wertet das Abenteuer um eine dramatische Note auf.

Totenbeschwörung mit Tücken

Allerdings hat diese düstere Nekromantie mehrere Haken: Man muss den Toten in seinem Keller einigermaßen gut kennen. Und hier zeigt Daemonica wieder motivierende Muskeln: Bevor man mit ihm sprechen kann, muss man in einer zwielichtigen Zwischenwelt das Portal mit der passenden Todesart durchschreiten und an verschiedenen Altären z.B. das richtige Sternzeichen oder das beherrschende Lebensmotto des Opfers in ein blutiges Symbol gießen - macht man hier Fehler, ist das Spiel vorbei. Also sollte man nicht nur oft speichern, sondern die archivierten Texte über den Verstorbenen vorher gut lesen. Diese passive Recherche macht einen Großteil des Spiels aus. Man fühlt sich tatsächlich wie ein Sherlock Holmes des 14. Jahrhunderts.

Außerdem sind die Toten zickig, nennen nie direkt den Namen ihres Mörders und reden gerne in Rätseln. Manchmal verlangen sie sogar, dass ihr ihnen ein Versprechen gebt: Werdet ihr den Körper des Toten in der realen Welt verbrennen? Je nachdem, wie ihr antwortet bzw. vorgeht, kann sich im Laufe der nichtlinearen Story etwas verändern. Das ist auf den ersten Blick ebenso motivierend wie die multiplen Enden, die auf euch warten. Leider bekommt man als Spieler nie wirklich ein Feedback, wie sich bestimmte Dinge auswirken - es gibt kein Moralsystem, kein Charisma, keine Beliebtheitsskala, keine Charakterwerte.

Wer sich Laufwege durch die 3D-Welt ersparen will, kann über die Karte schnell an wichtige Punkte springen.
An einigen Stellen vermisst man diese dynamischen Rollenspielelemente, die dem Abenteuer vielleicht mehr Schwung und Transparenz verliehen hätten. So entsteht mitunter eine fast zu nüchterne, fast schon sterile Atmosphäre, da kein Bewohner mit Sprachausgabe ausgestattet wurde. Trotzdem lässt einen Nicholas' Schicksal nicht los, trotzdem spielt man weiter, sammelt Leichen und Hinweise. Und vor der großen Auflösung schwebt immer die tödliche Gefahr über Nicholas: Die nekromantischen Interviews werden nämlich im Dorf nicht gerne gesehen. Erwischt man euch bei der Reise ins Jenseits, werdet ihr vielleicht der Ketzerei beschuldigt und verbrannt. Der Bürgermeister hat euch zwar beauftragt, aber er kann euch nur bis zu einem gewissen Grad vor dem wütenden Mob schützen. Daher solltet ihr euren Leichenkeller immer gut abschließen.

Abstürze & Textfehler

Dass die Dramaturgie und die Kulisse nicht alles aus dem interessanten Stoff herausholen, ist aufgrund des Preises und der beschränkten Technik verzeihlich. Richtig ärgerlich ist jedoch, dass das Spiel so oft abstürzt. Nicht nur, wenn man die Karte über einen Klick auf den Kompass nutzt, sondern auch bei bestimmten Dialogantworten: "Invalid handle in dll_mp3getposition" oder "//NPC line #162" erwarten euch manchmal statt einer korrekten Antwort. Obwohl 95% der Texte orthografisch und inhaltlich einwandfrei sind, sorgen diese Sackgassen gerade bei einem lesefreudigen Spiel wie diesem für Frustration. Diese Fehler lassen sich manchmal nur über einen alten Spielstand umgehen. Hoffentlich wird da bald ein Patch nachgeliefert.

          

Fazit

Ich will mehr Spiele von dieser Sorte! Ich bin sehr skeptisch an dieses Budget-Abenteuer von Frogster herangegangen, das zunächst wie eine spartanische Point&Click-Variante von Neverwinter Nights wirkt. Aber die nichtlineare Story, die glaubwürdigen Charaktere und die Recherche zur Totenbeschwörung haben mich wider Erwarten gut unterhalten. Obwohl die Kulisse und manche Rätselmechanismen veraltet sind, sind es vor allem die lesenswerten Texte, die wehmütig-tragische Musik sowie die nekromantischen Ermittlungen zwischen Dorf und Geisterwelt, die zum Weitermachen animieren. Das ganze Abenteuer hindurch herrscht eine düstere gotische Stimmung, die an das morbide Flair von Black Mirror oder Scratches erinnert. Aber bei aller Sympathie für die klischeefreie Story und den hervorragend gesprochenen Helden: Die eintönige Kulisse, die frustrierenden Abstürze, die Leerlaufphasen und die Tatsache, dass abgearbeitete Dialoge nicht markiert werden, bremsen die anfängliche Euphorie auf Dauer aus. Unterm Strich ist Daemonica dennoch ein interessanter Mittelalter-Krimi mit einem angenehm morbiden Flair, den sich Fans von Bruder Cadfael oder Der Name der Rose nicht entgehen lassen sollten.

Pro

sehr gute Story
lesenswerte Dialoge
interessante Rätsel
keine blöden Klischees
guter deutscher Sprecher
glaubwürdige Charaktere
multiple Enden
stimmungsvolle Atmosphäre
sehr gute Hintergrundmusik
komfortables Kartensprungsystem
gut strukturiertes Tagebuchsystem

Kontra

zu wenig Rätsel
nur ein kleiner Ort
sehr textlastig
kleine Textfehler & fehlende Antworten
viele unerklärliche Abstürze
keine Sprachausgabe bei Nebenfiguren
unspektakuläre Kulisse, fade Animationen
billiges Mausklick-Kampfsystem
abgearbeitete Dialoge nicht markiert
kein Moralsystem oder Feedback

Wertung

PC

Klasse Story, glaubwürdige Charaktere: Ein düsteres Detektiv-Abenteuer im mittelalterlichen England!

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