Gothic 318.09.2006, Jörg Luibl
Gothic 3

Vorschau:

Edle Elfen, stämmige Zwerge und strahlende Paladine. Wer klassische Fantasy mag, wird mit all den Baldurniewintertal-Märchen aus der Welt von Dungeons & Dragons oder der Dauerkarte für die Online-Tribüne des FC World of WarCraft glücklich. Aber wer mittelalterliche Fantasy liebt, die sich etwas derber, markanter und einzigartiger gibt, konnte bisher nur auf eine Karte setzen: Gothic. Am 13. Oktober öffnet Myrtana seine Pforten.

Alte Liebe rostet nicht?

Ich liebe Rollenspiele. Ganz besonders die derben Vertreter, die Tacheles in Dialogen reden und mit markanten Typen zur

Grimmige Begrüßung: Die Orks haben den Kontinent Myrtana erobert und die Menschen versklavt.
Sache kommen. Was Schimanski für den Tatort war, ist Gothic bisher für das Rollenspielgenre - direkt, ungeschminkt, mitten rein ins Leben. Kein langes Geschwafel, im Zweifelsfall sprechen der Fluch, das Schimpfwort oder die Axt. Und schon nach wenigen Schritten in der Welt des dritten Teils weht wieder der raue Wind der Straße, wenn von der "armen Sau" die Rede ist oder über "kein Gold, keine Frauen, kein Schnaps" philosophiert wird. Die Stimmen sind kernig, die Sprecher passen und sind sogar aus dem Vorgänger bekannt - allerdings wird nicht jeder NPC individuell vertont.

Egal: Die Landschaft wirkt auf den ersten Blick angenehm markant, man sieht schroffe Klippen und Holzbrücken in windigen Höhen, verschlungene Pfade schlängeln sich um Hügel und baufällige Hütten begrüßen euch - davor sitzt Jäger Jens. Man möchte sofort unbeschwert abtauchen in die harte Welt von Myrtana und ihre Geheimnisse erforschen. Der namenlose Held ist über die Jahre für viele zu einem geliebten zweiten Ich geworden - auch für mich: Gothic habe ich im März 2001 mit 90 Prozent gefeiert; Gothic 2 im November 2002 mit 89 Prozent. Eigentlich müsste ich jetzt schon die Superlative für 2006 auspacken...

Probleme der Alpha-Version

...müsste ich eigentlich, würde ich auch gerne, geht aber nicht. Warum nicht? Weil die spielbare Fassung von Gothic 3 (ab 2,15€ bei GP_logo_black_rgb kaufen) knapp vier Wochen vor der Veröffentlichung am 13. Oktober zwar an einigen Stellen ihren unvergleichlichen Charme versprüht, aber an viel zu vielen anderen Stellen ernüchtert: Grafik, Ladezeiten, Figurenverhalten, Kampf, Menüdesign oder Aufstiegssystem - alles wirkt unfertig. Schon ein Blick auf das seltsam klobige Gras und die verschwommenen Hintergründe, die statt eine Landschaft noch detailliert in der Weite zu zeigen alles weich zeichnen, sind im Jahr 2006 gewöhnungsbedürftig. Vielleicht gewöhnt man sich ja noch daran, noch wirkt dieses Stilmittel allerdings eher künstlich als natürlich. Ob das an der mittleren Detailstufe liegt, die das höchste der Möglichkeiten in der Version war?

Publisher JoWooD bekräftigte zwar schon auf der Games Convention, dass all diese technischen Probleme zum Release nicht mehr auftauchen werden, aber das sind verdammt viele Baustellen kurz vor Toreschluss. Wird das Team von Piranha Bytes hier terminlich überfordert? Wir haben extra nachgefragt, ob wir noch eine andere, verbesserte Fassung für die Vorschau anschauen können, aber die vorliegende ist offiziell die letzte vor der Veröffentlichung. Die Grafik-Engine soll noch kräftig optimiert werden und vor allem auf Dual-Core-Rechner getrimmt werden - auf denen lief die Version allerdings auch bei uns. Momentan könnte das Spiel technisch nicht mit The Elder Scrolls IV: Oblivion oder gar Two Worlds mithalten. Aber Grafik ist nicht alles, Gothic zählte optisch noch nie zur Avantgarde und trumpfte bisher immer mit seiner Seele auf.

Große Spielwelt, viel zu tun: Es liegt an euch, wo ihr welche Aufträge übernehmt. Aber Vorsicht: Alles wirkt sich auf euren Ruf bei den Fraktionen aus.
Das liest sich jetzt zwar alles nicht so gut, aber bevor wir gar nicht über Gothic 3 berichten, gibt es jetzt eine Übersicht über den aktuellen Status mit der Hoffnung, dass Mitte Oktober alles doch ganz anders ist - das würde uns freuen. In Leipzig wurde als optimales System übrigens ein 3 Gigahertz-Rechner mit 1,5 Gigabyte Ram und Geforce 7800GT empfohlen.

Versklavte Menschen

Zunächst sieht noch alles so gut aus: Das Leder glänzt am Rücken des Helden, bis zu zwei Schwerter warten auf ihren Einsatz, die Sonne lacht am Horizont, die Bäume wehen im Wind, der erste Ork macht mich blöd an. Herrlich. Spricht man dann ein paar Sklaven oder Wachen an, ist das wie ein Nach-Hause-Kommen: "Verfluchte Dreckswelt!" Allerdings ist der Einstieg noch recht abrupt: kein Intro, keine Erzählung, keine Hinweise oder gar ein Tutorial. Rückschlüsse auf die Regie lassen sich daraus noch nicht schließen, denn der Start wird Mitte Oktober ganz anders aussehen. Auch hier gilt: abwarten.

Also zurück zur Story: Sklaven? Ja, und zwar menschliche. Die Orks haben den Kontinent, der hier erstmals in der Reihe erkundet wird, scheinbar komplett erobert. Das Figurendesign der Besatzer ist klasse: grimmiger Blick, schwer bewaffnet, vollkommen spaßfrei. Ihr habt die Wahl, ob ihr euch dieser militärischen Macht der Grünhäute beugt und für sie arbeitet oder ob ihr euch lieber den menschlichen Rebellen anschließt. Die warten auf Hilfe aus Übersee und blicken sehnsüchtig gen Meer. Ihr könnt auch auf die große Politik pfeifen und für die Assassine, Diebe oder andere Gruppen Aufträge erfüllen: es gibt auch ein Waldvolk, Nomaden und Nordmar. Alle Aktionen wirken sich auf euren Ruf aus: Eine Übersicht hält euch auf dem Laufenden, in welcher Stadt ihr bei welcher Fraktion wie steht.

      

Meer der Ernüchterung

So weit, so interessant. Aber das Auge isst bekanntlich mit und wird alles andere als satt. Das fängt schon in den Menüs an: Die zeigen zwar sehr übersichtlich, was ihr im Inventar habt, was ihr gegen Gold oder Waren tauschen könnt und welche Fähigkeiten ihr beherrscht, aber die Icons und das Design sind alles andere als edel, wirken fast schon billig. Immerhin lässt

Vor allem der Blick in die Ferne ernüchtert: Statt klarer Details sind nur grobe Konturen von Horizont und Meer erkennbar. Wir hoffen, dass die finale Version hier mehr bieten wird.
sich schon hier erkennen, dass eure Karriere eine freie ist: Anstatt eine Klasse zu wählen, könnt ihr einfach ein Talent eurer Wahl über Punkte verbessern und theoretisch als stehlender Axtkämpfer mit einem Hang zur Magie durch Myrtana streifen. Es gibt kein starres Berufskorsett.

Man startet in dieser Fassung in einem kleinen Kaff in Küstennähe, etwas weiter nördlich lockt ein Leuchtturm. Was liegt da näher, als sich Strand und Meer anzuschauen? Schon hier bemerkt man, dass man jetzt rennen kann. Das ist gut so, denn Pferde wird es bekanntlich nicht geben. Aber bei der Ankunft kommt der zweite Dämpfer: Der Horizont und das Meer verschwimmen in einem Brei, zeigen unnatürliche Brüche in der Ferne und das Wasser selbst sieht am Ufer schlichtweg schlecht aus. Wer Far Cry kennt, wird seinen Augen nicht trauen, wenn er schwimmen geht. Hoffentlich wird das noch verfeinert.

Kollisionen & Figurenverhalten

Wenn man die Hänge hinab läuft und die ersten Wölfen stellt, fallen zwei Dinge auf: Erstens ruckelt es enorm - nicht etwa, weil da viele Gegner wären, sondern einfach nur, weil man sich umdreht. Wir konnten übrigens nur in einer Auflösung von 1024x768 spielen - mehr war noch nicht aktivierbar; laut Optionsmenü werden zum Release bis zu 1280x960 möglich sein. Hinzu kommt, dass es noch keine Kollisionsabfrage gibt: Man kann sich einfach Dutzende Meter die Klippen oder die Böschung hinunter stürzen und nimmt kaum Schaden.

Die Qualität des Kampfsystems ist noch nicht einschätzbar: Man kann mit zwei Klingen kämpfen und den Schild nutzen - das ist gut. Außerdem wurde das steife Maus-Richtungstastensystem des Vorgängers ad acta gelegt: Auf einen Klick löst ihr

Goblinhöhle im Visier: Der Bogen war in unserer Fassung noch viel zu mächtig - das soll am 13. Oktober nicht mehr der Fall sein.
gleich ganze Überkopfhiebe oder elegante Drehmanöver aus. Neu ist die Ausdauer-Anzeige: ein gelber Balken, der bei anspruchvollen Bewegungen schrumpft. Aber von der Dynamik eines Oblivion, wo man bei Vollkontakt auch den Schlag spürte, der ins Holz krachte, war noch keine Spur.

Das Balancing ließ einfach noch keine packenden Kämpfe zu: Mit dem Schwert reicht ein Hieb des Gegners und man ist mausetot. Taktische Nahkämpfe waren so noch gar nicht möglich. Mit dem Bogen kann man hingegen selbst große Oger bequem niedermachen - auch die sehen übrigens verdammt gut aus. Auf unserem Weg zur Küste haben wir das Land mit drei Dutzend pfeilübersäten Leichen gepflastert, ohne auch nur einmal selbst getroffen worden zu sein - selbst ganze Horden schwer bewaffneter Orkkrieger hatten keine Chance gegen Pfeil und Bogen. Ich konnte eine komplette Goblinhöhle ohne Schaden leeren und quasi im Sekundentakt aufsteigen. Auch hier gilt jedoch: Das soll zum Release alles nicht mehr möglich sein.

Vertrauen ist alles

Lukrative Missionen oder günstige Trainingsmöglichkeiten ergeben sich nur ab einem bestimmten Vertrauensverhältnis, das in Prozent gemessen wird. Gleich zu Beginn kommt auch die Gilde der Diebe auf euch zu und bietet einen Job an. Falls ihr dem örtlichen Orkmiesepeter mit der riesigen Axt drei goldene Kelche aus dem Lager klaut, habt ihr euch eine Belohnung verdient. Also muss man einen Hintereingang finden und die Kleinode einsammeln, ohne dass der Ork das merkt. Das ist auch spannend, aber leider wurden wir selbst bei Sichtkontakt von wenigen Metern nicht vom Besitzer angegriffen - wenn Langfinger hier gut unterhalten werden sollen, muss das Wachverhalten stark verbessert werden. Auch die Texte sollten nochmal redigiert werden: Wir haben zwar keine Oblivion'schen Stilblüten bemerkt, aber Artfekat-Beschreibungen wie "Sehr alt und Innossysmbolen verziehrt." schmerzen einfach, denn das Spiel kommt aus Deutschland.

Während der ersten Quests konnte man auch schon die KI und das Gruppenverhalten beobachten. Um es kurz zu machen: Es gab keine bzw. keines. Ja, die NPCs ziehen ihre Waffen in guter alter Gothic-Manier, wenn ihr es tut. Und ja, Hirsche flüchten, wenn ihr in ihre Nähe kommt - sie gehen Meter für Meter rückwärts und bleiben irgendwann in Bäumen stecken. Aber die Feinde organisieren sich nicht, schlagen manchmal gar nicht zu und verfolgen euch nicht, wenn ihr ein paar Meter höher steht; sie rennen noch stumpf gegen die Böschung. Es gibt eine Quest, in der man ein Diebeslager von vier Mann in

Schwimmen im Mondlicht: In Wassernähe wirkt Gothic 3 noch wenig berauschend. Allerdings konnten wir bisher nur auf mittlerer Detailstufe in 1024x768 spielen.
Strandnähe ausheben soll: Man schießt auf den Anführer, der kommt angelaufen, lässt sich abschlachten. Dann kommt der zweite Dieb, wenn der erledigt ist der dritte und schließlich der vierte - eine taktische Organisation ist noch nicht zu erkennen.

Alles wird gut?

Das hört sich alles verheerend an, muss aber unter der Prämisse verstanden werden, dass laut Publisher alles behoben wird - gleich zum Releasetag soll es dafür einen Patch geben. Und man darf nicht vergessen: Der Vorteil von Gothic gegenüber Oblivion ist die urbane Lebendigkeit. Zwar werden die Städte hier nicht so groß und pompös sein - die größte Stadt sogar nur halb so groß wie die größte in Gothic 2 -, aber dafür wirken die Orte bereits sehr natürlich: Man sitzt am Lagerfeuer und quatscht, der Schmied hämmert und Sklaven schuften, während die Wachen euch anpöbeln. All das stimmt genau so optimistisch wie die freie Spielwelt, in der ihr entscheidet, ob ihr Tiere ausweiden und damit Geld machen wollt oder doch lieber entflohene Menschen für Orks einfangt.

Eure Taten sprechen sich herum, aber nicht so zwangsläufig wie in Oblivion - sprich: Begeht ihr einen Mord und tötet den einzigen Zeugen, wird niemand etwas davon erfahren. Es liegt sogar in eurer Macht, eine Rebellion anzuzetteln, um die Orks in bestimmten Städten zu schwächen. Kein Wunder, dass die Hauptquest mit drei Enden aufwarten muss, um die politische Konsequenz auch zu realisieren. Mehrere Lösungswege, keine feste Klasse, freie Entwicklung - das sind die magischen Joker, die Gothic 3 ausspielen muss.

     

Ausblick

Ich hätte hier gerne eine euphorische Ode gesungen. Ich hätte auch gerne einen Fit4Hit verteilt. Und hätte mir jemand vor einem Jahr gesagt, dass mich Gothic 3 vier Wochen vor Release so ernüchtern würde, hätte ich nur müde gelächelt. Jetzt bin ich ehrlich gesagt erschrocken. Das, was wir hier spielbar vorliegen haben lässt keinen anderen Ersteindruck zu. Natürlich bemerkt man an einigen Stellen diese einzigartige Rollenspielseele, atmet diese herrlich derbe Luft, die Gothic schon immer von aller pathetischer D&D-Edelfantasy abhob. Und in diesen Momenten blitzt auch die alte Klasse auf. Aber egal ob Grafik, Ladezeiten, Gegnerverhalten, Kampf, Menüdesign oder Aufstiegssystem - alles wirkt unfertig. Kann es sein, dass das Team von Piranha Bytes hier mit dem finalen Termin total überfordert wurde? Jetzt wurde angekündigt, dass direkt zum Start ein Patch rauskommen soll. Das ist lobenswert, aber auch ein Eingeständnis dafür, dass der Publisher Gothic 3 hier auf Biegen und Brechen raushauen will. Warum gibt man den Jungs nicht einfach mehr Zeit? Gerade diese Serie verdient Geduld! Als Gothic-Fan ist mir die Qualität des Abenteuers dreimal wichtiger als irgendeine verdammte Quartalsbilanz oder gar der frühe Kauf. Ich will ein lebendiges Myrtana. Ich will mit Diego am Lagerfeuer quatschen. Und ich will einen Award nach Bochum schicken. Vielleicht kann die finale Version noch überraschen....

Ersteindruck: befriedigend

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