Ni No Kuni: Der Fluch der Weissen Königin25.01.2013, Benjamin Schmädig

Im Test: Erzählkino und Spielekunst

Wenn sich große Zeichner des Erzählkinos mit Spielekünstlern zusammentun, dann entstehen solche Panoramen: Saftige grüne Wipfel wiegen sich im Wind, Wolkenschatten ziehen lautlos über das hohe Gras und hinter dem funkelnden Ozean mit seinen tiefblauen Senken schält sich eine mächtige Felswand aus dem Horizont. Die Welt ist so groß und bezaubernd wie das Abenteuer, das in ihr wartet.

Eine andere Welt

Es ist eine "andere Welt" – buchstäblich. Denn "Ni no Kuni" heißt sinngemäß genau das. Deshalb schwingt sich das Orchester auch zum Crescendo auf, wenn Oliver zum ersten Mal über märchenhafte Hügel hinweg auf das prächtige Panorama blickt, in dem Tröpfchen Zuhause ist.

Dabei gab es Tröpfchen bis vor kurzem gar nicht, jedenfalls nicht als lebendigen Elfenherrscher, dessen  Hakennase geradewegs aus der Stirn wächst und an deren Ende eine klingelnde Laterne baumelt. Oliver braucht Tröpfchen. Denn das Plüschtier war ein Geschenk seiner Mutter. An ihm klammerte er sich fest, nachdem seine Mutter ums Leben kam. Und als eine Träne darauf fiel, erwachte das Erinnerungsstück plötzlich zum Leben und wies Oliver den Weg das Fantasiereich.

Warum? Weil es in Tröpfchens Welt ein Ebenbild, einen Seelenverwandten jedes Menschen gibt. Und vielleicht kann Oliver seine Mutter ja retten, falls er ihre Seelenverwandte aus der Hand des mächtigen Shadar befreit...

Die Kunst des Zeichnens

Traumhafte Kulisse: So bezaubernd sieht es aus, wenn Zeichentrickkünstler mit Rollenspiel-Experten zusammenarbeiten.
Das Spiel geht aus einer Zusammenarbeit zwischen den Rollenspielexperten Level-5 (White Knight Chronicles) und den Zeichentrickkünstlern Studio Ghibli (Chihiros Reise ins Zauberland) hervor. Während die Spielemacher dabei das interaktive Abenteuer entwarfen, erstellte Ghibli kurze Animeszenen und kümmerte sich um die Gestaltung der Kulissen.

Diese Zusammenarbeit sieht man Ni no Kuni an jedem Pinselstrich an: Goldgelber Sand strahlt im gleißenden Licht der Wüstensonne, uralte Baumkronen erstrecken sich schützend über farbenfrohen Wäldern und wo ein winziges Rinnsal durch die steinernen Straßen einer verklärten Kleinstadt fließt, liegen einzelne Planken über den buckeligen Steinen – gerade so breit, dass eine einzelne Person darüber laufen könnte. Die klaren Farben, die geraden Linien und Olivers wehender Umhang: Alles erinnert an einen abendfüllenden Ghibli-Film. Der Umhang gehört den ersten Aufgaben, die Oliver erledigen muss. Denn er benötigt Kleider, die in der fremden Welt nicht auffallen. Dann kann er die Suche nach dem Ebenbild seiner Mutter beginnen.

Die große Freiheit

Natürlich muss der junge Held bald kämpfen, häufig sogar. Entweder erkundet er die weitläufige Weltkarte, auf der es vor Monstern nur so wimmelt oder er sucht den Ausgang einer Höhle, eines Waldes oder anderer Abschnitte, an deren Ende er meist einen mächtigen Wächter besiegen muss – und die leider aus engen einspurigen Gassen bestehen.  Auf der Landkarte sehe ich ihn stets von weit oben, in den kleineren Abschnitten sowie in Ortschaften folge ich ihm stehenden Fußes.

Im Verlauf des Abenteuers öffnet sich die Welt dabei immer mehr. Versperren zu Beginn noch starke Monster viele Gebiete, kann sie Oliver später mit Leichtigkeit besiegen. Liegen manche Gegenden auf der anderen Seite eines Tals, kann Oliver später Brücken herbei zaubern. Nicht zuletzt befährt er irgendwann gar das Meer und erhält die Möglichkeit zu fliegen. Manche Türen öffnen sich hinter Rätseln, meist kleinen Kombinationsaufgaben. Es ist wunderbar, wie sein Abenteuer mit jedem Schritt größer und größer wird!

Schwert und Zauberstab

Fantasie im Ohr

Joe Hisaishi schrieb nicht nur die Soundtracks zahlreicher Hayao-Miyazaki-Filme, seine Musik begleitet auch Ni no Kuni.

Sein mal ruhiges, mal kraftvolles Orchester erinnert zwar deutlich an einige seiner  vorangegangenen Werke, gehört gleichzeitig aber zu den schönsten und markantesten Spielesoundtracks überhaupt. Über Monster stolpert er übrigens nicht per Zufall; vielmehr staksen die Kreaturen von weitem sichtbar durch die Welt. Sollte sich Oliver unbemerkt im Rücken eines Gegners anschleichen, ist er zu Beginn des Kampfes im Vorteil – umgekehrt gilt dasselbe. Die folgenden Gefechte verlaufen in Echtzeit, d.h. ich darf den Helden und die Kamera frei bewegen. Aktionen wie Angriffe, Zaubersprüche oder das Nutzen eines Gegenstands kosten allerdings Zeit, weshalb ich sie erst nach einigen Sekunden erneut ausführen darf.

Dem Abwehren von Attacken kommt eine besondere Bedeutung zu, weil die Feinde nach häufigem Abblocken einen Bonuspunkt fallen lassen. Und wenn ich den einsammle, führt Oliver seinen starken Spezialangriff aus. In einer kurzen Sequenz sehe ich dann, wie er einen großen Feuerball auf seinen Gegner schleudert. Ich muss Gegner und Geschehen daher stets im Blick behalten. Nicht nur weil viele der zahlreichen Kämpfe herrlich fordernd sind! Sondern auch, um Oliver rechtzeitig zu verteidigen oder im richtigen Augenblick anzugreifen – schließlich richten gut abgepasste Konter besonders großen Schaden an. Nicht zuletzt lassen die Kreaturen nach erfolgreichen Aktionen Bonuskugeln für Gesundheit und Magie fallen. So verbindet Level-5 die klassische Rundentaktik sehr geschickt mit dem Echtzeitkampf.

Vertrau ihnen!

Und Oliver ist nicht alleine. Er bekommt es nämlich nicht nur mit zwei oder mehr Feinden zu tun, auch er selbst erhält Unterstützung. "Vertraute" heißen die Kreaturen, die Oliver während eines Gefechts einfangen und trainieren darf. Bis zu drei darf er in den Kampf mitnehmen – ich kann jederzeit zwischen dem Helden und einem Begleiter wechseln.

Genau wie Oliver erhalten die Vertrauten nach jedem erfolgreichen Kampf Erfahrung und werden so stärker. Weil sie gleichzeitig verschiedene Fähigkeiten erlernen, kann ich mich also bald entscheiden: Ziehe ich lieber mit einem kräftigen Haudrauf und einem Magier ins Gefecht, während der dritte Vertraute lediglich Erfahrung sammeln soll? Oder sind mir vielleicht drei Alleskönner lieber?

Eis, Pudding oder Kuchen?

Die meisten der Echtzeitkämpfe sind fordernd und bieten zahlreiche taktische Möglichkeiten - nur gegen Bosse hat man oft leichtes Spiel.
Das Sammeln und Trainieren nimmt schon bald gewaltige Ausmaße an: Die Grundwerte vieler Kreaturen gleichen sich zwar, trotzdem ist es durchgehend motivierend, aus den drolligen Mitstreitern wackere Recken zu machen. Immerhin werden sie mit jedem Stufenaufstieg nicht nur automatisch stärker, ich kann ihre Werte auch selbst erhöhen: Das Verfüttern von Süßigkeiten bewirkt wahre Wunder.

Haben meine Vertrauten eine bestimmte Entwicklungsstufe erreicht, darf ich außerdem eine Metamorphose einleiten: Ihre Entwicklung beginnt dann von vorn, sie sind aber grundsätzlich stärker und dürfen mehr Fähigkeiten anwenden. Bei einer weiteren Metamorphose muss ich mich sogar zwischen zwei Spezialisierungen entscheiden. Das alles ist nicht neu. Dennoch ist es in Anbetracht der spannenden Gefechte ausgesprochen befriedigend, wenn sich ein Vertrauter vom unscheinbaren Nachzügler zum wichtigen Mitstreiter entwickelt.

In Olivers magischem Kessel verkoche ich zudem eigene Rezepte zu Süßigkeiten, erzeuge Proviant oder Heilmittel und stelle sogar Waffen her. Ich benötige lediglich die entsprechende Kochanleitung – oder entdecke ich vielleicht durch mutiges Experimentieren den richtigen "Bauplan"?

Trio mit 36 Fäusten

Und Oliver ist nicht alleine unterwegs: Schon bald begleiten ihn zwei Kameraden und jeder kann genau wie Oliver drei Vertraute kommandieren. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wurde es anspruchsvoll; immerhin weise ich allen Begleitern ein Verhalten zu, mit dem sie entweder aggressiv attackieren, Magie aufsparen oder die Gruppe heilen. Ich lege außerdem fest, ob die Mitstreiter die schwächste, die stärkste oder die von mir gewählte Kreatur angreifen und kann ihr Verhalten mitten im Kampf zwischen vollem Angriff und starker Verteidigung variieren.

Ich würde zwar gerne detaillierte Anweisungen erteilen, trotzdem sind die taktischen Möglichkeiten interessant und wichtig – leider darf ich sie aber nicht vor dem Kampf festlegen. So vergehen in harten Gefechten mitunter wertvolle Sekunden, obwohl ich davor schon wusste, dass ich das Verhalten meiner Truppe einstellen musste. Manchmal fühle ich mich ohnehin unangenehm machtlos, wenn vieles einfach zu schnell geschieht, als dass ich sinnvoll reagieren könnte. Bevor ich mich verteidigen oder den Kämpfer wechseln kann, ist es mitunter schon vorbei.

Der Magische Begleiter

Auch wenn es nur englische und japanische Sprachausgabe gibt: Sämtliche Texte wurden hervorragend ins Deutsche übersetzt .

Der Magische Begleiter - eine Enzyklopädie aller Kreaturen, Waffen, Zauber, Geschichten und weiterer Informationen - wurde ebenfalls lokalisiert. Das bebilderte Nachschlagewerk lädt direkt im Spiel zum Schmökern ein.

Auch der Wizard's Edition liegt der Magische Begleiter bei. Das physische Buch wurde allerdings nicht aus dem Englischen übersetzt. Ausgerechnet der Kampf gegen mächtige Wächter oder Bösewichter wie Shadar ist dagegen ein Kinderspiel. Ich muss ihre Attacken lediglich schnell genug abwehren und schon lassen sie genug Bonuspunkte fallen, damit ich stets ausreichend Gesundheit und Magie habe. Sie greifen auf vorhersehbare Weise an und nutzen ihre Spezialangriffe so häufig, dass ich die einleitenden Filmsequenzen bald nicht mehr sehen kann.

Zu "Tode" ärgern

Richtig fies sind aber erst die Dummheiten, bei denen ich meine Begleiter immer wieder erwische. Immerhin dürfen sie genau wie Oliver selbst kämpfen oder einen ihrer Vertrauten einsetzen. Aber genau da versagen sie. Wie oft habe ich beobachtet, dass sie sich mit einem mächtigen Feind anlegen, obwohl sie einen Vertrauten mit starken Angriffs- und Verteidigungswerten schicken könnten? Ich musste so oft zusehen, wie meine Kameraden vor einem Gegner stehen, anstatt seinen Angriffen auszuweichen – immerhin eine der grundlegendsten Taktiken! Nicht zuletzt nutzen sie die Fähigkeiten ihrer Vertrauten nicht optimal, geizen vor allem mit unterstützenden Zaubern.

Bewusstlose Begleiter stehen nach einem gewonnenen Kampf zwar wieder auf und wenn die Truppe ihre ganze Kraft in die Verteidigung steckt, widersteht sie eine Zeit lang auch starken Gegnern. Trotzdem ärgere ich mich über viele unnötige Knockouts. Natürlich kann ich selbst jederzeit zwischen Oliver und seinen Begleitern wechseln. Das ändert aber zu wenig daran, dass ich stets nur einen Kämpfer bewege, während zwei mit ihrem Leben spielen.

Nur Mut!

Ni no Kuni hat es nicht eilig. Spielerisch gibt es mir alle Zeit der Welt, Olivers Gruppe zu entwickeln. Dabei kann ich den Bewohnern des traumhaften Fantasyreichs zahlreiche Gefallen erfüllen, indem ich per Kopfgeld gesuchte Monster besiege oder verlorene Gegenstände finde. Die kleinen Aufgaben sind nichts Besonderes, erzählen jede für sich allerdings sympathische Geschichten.

Endlich Zuhause? Auch dem Wald der Elfen - einem der vielen bezaubernden Orte - statten Oliver und Tröpfchen einen Besuch ab.
Ein liebenswertes Element ist auch der Anhänger, in dem Oliver die hervorstechende Eigenschaft verschiedener Personen einfängt. Wofür? Weil andere diesen Mut, etwas Enthusiasmus, eine Prise Selbstvertrauen oder auch Liebe benötigen. Es ist der fiese Shadar, der den Bewohnern ihre Herzen stielt! Und es ist eine sehr gefühlvolle Art, auch auf diesem Weg den Bogen zu Olivers gebrochenem Herzen zu schlagen.

Traum oder Wirklichkeit?

Vor allem für seine Erzählung nimmt sich das Spiel viel Zeit. Es geht zwar um Magie, Abenteuer und böse Mächte, doch die unaufgeregte Geschichte ist immer in der Wirklichkeit eines ganz normalen Jungen verankert – schon alleine deswegen, weil der junge Magier hin und wieder in seine Realität zurückkehrt. Wenn eine Figur der "Märchenwelt" in Schwierigkeiten steckt, muss ich das Portal in seine Heimatstadt öffnen: Manchmal entdeckt Oliver den entscheidenden Hinweis nämlich in den Eigenheiten der Seelenverwandten, die dort leben…

Fazit

Was für ein bezauberndes Abenteuer! Die traumhaften Kulissen tragen die unnachahmliche Handschrift der Zeichenkünstler des Studio Ghibli. Die wundervolle Geschichte dreht sich fast ohne Pathos um große Emotionen. Und das Rollenspiel öffnet die Tür in ein weites Land voller Fantasie und Gefahren. Ich erschaffe eigene Ausrüstung und trainiere Begleiter, um für anspruchsvolle Gefechte gewappnet zu sein: Im taktischen Echtzeitkampf muss ich clever und rechtzeitig zwischen Angriff, Magie und Verteidigung wechseln. Schade, dass mich ausgerechnet große Gegner kaum fordern, dass meine selbstständigen Begleiter Fehler machen und dass in unübersichtlicher Hektik schon mal die Übersicht verloren geht. Wälder, Höhlen und Gewölbe abseits der Landkarte bestehen zudem aus wunderschönen, aber uninteressanten Gassen voller Gegner. Eine spielerische Offenbarung ist Ni no Kuni nicht; in ihrer Summe schrammen die Einzelteile an Gold vorbei. Doch das emotionale Erlebnis ist einfach zauberhaft: Das Entdecken der malerischen Welt mit ihren zahllosen Kreaturen, die liebevollen Anekdoten um ihre Bewohner, die Geheimnisse hinter versperrten Wegen und die warmherzige Verbindung von Fantasie und Wirklichkeit – all das hat die Auszeichnung verdient!

Pro

wunderschöne gezeichnete Kulissen und Figuren
warmherzige, fantasievolle Geschichte
behutsamer Einstieg und ruhige Erzählweise
großer orchestraler Soundtrack
fordernde Kämpfe auf normalem Schwierigkeitsgrad
viele Bosse und Kopfgeld-Gejagte
umfangreiches Sammeln und Trainieren zahlloser Begleiter
aktives Reisen auf weitläufiger, bildschöner Weltkarte
Herstellen eigener Verpflegung und Ausrüstung
zahlreiche freiwillige Aufgaben, aber kein Zufallswust
aufwändig gestaltete Enzyklopädie zum Blättern
sehr gute Übersetzung der Texte, einschließlich der Enzyklopädie
Wahl zwischen englischer und japanischer Sprache

Kontra

Übersicht geht in hektischen Kämpfen schnell verloren
unsinniges Verhalten der Mitstreiter
wenige Möglichkeiten bei taktischen Vorgaben
keine taktische Planung vor dem Kampf möglich
viele Bosskämpfe viel zu einfach und monoton
sehr enge Gassen in Höhlen oder Wäldern
Ziel wird bei ausgeschalteter Wegmarkierung nicht gut genug erklärt
keine deutsche Sprachausgabe

Wertung

PlayStation3

Ein bezauberndes Abenteuer mit spielerischen Schwächen, aber einer warmherzigen Geschichte in einer fantastischen Welt.

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