The Vanishing of Ethan Carter28.07.2015, Jörg Luibl
The Vanishing of Ethan Carter

Im Test: Mystery-Adventure aus Polen

Letztes Jahr konnte The Vanishing of Ethan Carter (ab 7,89€ bei GP_logo_black_rgb kaufen) auf dem PC überzeugen: Das Mystery-Adventure von The Astronauts setzte auf subtilen Horror sowie Rätsel und Erkundung in prächtiger Kulisse. Bald wollen die Polen das Spiel auch in der Box für PlayStation 4 veröffentlichen, aber die digitale Version ist bereits im PlayStation Network erhältlich. Warum sich der Trip in den Wald auch auf der Konsole lohnt, verrät der Test.

Edgar Allan Poe lässt grüßen

Das Spiel öffnet sich wie ein gutes Buch mit einem einfachen Satz, der auch eine Kurzgeschichte von Edgar Allan Poe einleiten könnte. Während die charismatische Stimme des englischsprachigen Erzählers in wenigen Worten das Unheilvolle zusammenfasst, das einem womöglich bevorsteht, bewegt man sich durch einen dunklen Eisenbahntunnel hinein in dieses Abenteuer. Und es sieht immer noch fantastisch aus. Das polnische Studio The Astronauts besteht u.a. aus Ex-Leuten von People Can Fly (Painkiller, Come Midnight, Gears of War, Bulletstorm). Etwa zehn Monate haben sie daran gewerkelt, die ursprünglich für Unreal Engine 3 konzipierte PC-Kulisse für Unreal Engine 4 auf der

Das Abenteuer beginnt mit der Stimme des wahlweise englischen oder polnischen Erzählers, als sich ein Loch in den Vorhang brennt und ein Wald öffnet. Deutsche Untertitel sind zuschaltbar.
PlayStation 4 umzusetzen. Zwar hat die Konsolenversion mitunter ärgerliche Probleme mit der Bildrate und hinsichtlich der etwas steifen Mimik sowie einiger flackernder Kanten in der Distanz (z.B. am Staudamm) wird klar, dass man hier nicht alles aus der neuen Engine herauskitzelt. Aber das sindalles  Peanuts, die sich aufgrund des ruhigen Rhythmus' nicht negativ auf das Erlebnis auswirken. Wurde spielerisch etwas geändert? Nein. Man hat lediglich kleinere Bugs entfernt sowie leichte Anpassungen in einigen Situationen gemacht; mehr dazu im FAQ . Es bleibt also auch bei einem Spielstand, der ständig überschrieben wird - allerdings soll jetzt wirklich alles drumherum gespeichert werden.

Schon damals auf dem PC hat die natürlich wirkende Landschaft vom ersten Schritt an begeistert - und auch auf der Konsole lädt die prächtige Kulisse in 1080p zum langsamen Spazieren ein. Wald und Licht wirken unheimlich stimmungsvoll. Man erkennt nach dem Zoom über L2 von Moosflecken und kleinen Löchern auf den Felsen bis hin zur Baumrinde oder dem Kiesel im Fluss realistisch anmutende Oberflächen. Früher gab es so etwas nur in Shootern, mittlerweile auch in Adventures  - sehr angenehm.

Schatten über Red Creek Valley

Ein Fluss rauscht im Tal, die spätherbstliche Sonne taucht das Laub in Rot und

Als Privatdetektiv Paul Prospero mit übersinnlichen Fähigkeiten erkundet man das Red Creek Valley. Ein Junge namens Ethan Carter hat ihn um Hilfe gebeten. Sehr schnell entdeckt man den ersten Toten hinter der Brücke...
Gelb. Aber schnell wird klar: Unter der Schönheit dieser idyllisch anmutenden Natur verbirgt sich etwas Bedrohliches. Das zeigt sich nicht nur, wenn man im Einstieg diesen kleinen Pfaden ins Dickicht folgt und plötzlich von Fallen überrascht wird. Spätestens wenn man die ersten Leichenteile auf den Schienen findet, wird es blutig und schaurig – Beine hier, der Rumpf weiter unten. Läuft hier ein Irrer rum? Hat man wenigstens eine Beretta? Nein. Es gibt keine Waffe. Man kann lediglich rennen, kriechen und interagieren.

Was ist hier in Red Creek Valley passiert? Genau das gilt es herauszufinden. Ein kleiner Junge namens Ethan Carter berichtet davon in einem Brief. Und Paul Prospero, den man in Egosicht bewegt, lässt schon in seinen ersten laut gesprochenen Gedanken keinen Zweifel daran, dass neben der realen noch eine andere Welt existiert. Man weiß von Beginn an, dass man als Privatdetektiv mit übersinnlichen Fähigkeiten unterwegs ist - vielleicht steckt im Namen "Prospero" ja eher eine Anspielung auf William Shakespeares Zauberer in „Der Sturm" als an die Hauptfigur in „Die Maske des Roten Todes“  von E.A. Poe. Wie auch immer: Paul kann anhand von Gegenständen oder Tatorten in die Vergangenheit schauen. Um das ganze Bild zu bekommen, muss er allerdings Vorbereitungen treffen – also sammelt er wie in einem klassischen Adventure an verschiedenen Orten Indizien.

Ohne Kompass in der Wildnis

Vor allem das Erkunden macht Laune: Blickt man in die Ferne, über die verwitterten Schienen hin zum Staudamm, wo sich Fachwerkhäuser zeigen, wirkt diese nordamerikanische Idylle seltsam verwunschen – wie der Hexenwald in einem Grimm’schen Märchen. Und obwohl das keine offene Welt ist: man kann tatsächlich fast überall hin spazieren. Es gibt nicht nur einen weitläufigen Bergwald samt Flussufer, man kann diese alten Häuser durchstöbern, dazu eine Holzkirche samt Friedhof sowie ein labyrinthisches Bergwerk. Aber findet man auch den geheimen Eingang? Es gibt keine Karte.

Findet man Indizien oder Gegenstände, schwirren die Gedanken von Paul umher wie Bienen.
Und genau das ist gut so, denn gerade das Umherirren verstärkt das Erkundungsgefühl bei der Suche nach Antworten. Ab und zu kann man auch Schienenfahrzeuge oder Aufzüge benutzen. Ansonsten ist man lediglich zu Fuß unterwegs – ohne Waffe, Notizblock oder Inventar. Es gibt zwar keinen Tag- und Nachtwechsel oder Wettereinflüsse, aber je nach Ort wechselt die Stimmung. Etwas unrealistisch mutet an, dass man endlos ohne Erschöpfung rennen kann. Zwar ist das komfortabel, weil man sich in der Weite wirklich verlieren kann und lange Wege zurücklegen muss. Aber ansonsten haben die Entwickler auch sehr konsequent jeden helfenden Schnickschnack  vermieden – es gibt auch keine Hotspotanzeige, keine optionale Hilfe.

Umso gelungener ist das behutsame Heranführen an die Geheimnisse der Spielwelt. Man erfährt quasi über die Praxis, wie man mit den Hinweisen und Gegenständen umgehen muss. Dabei gibt es weder Dialoge noch ein klassisches Inventar: Sobald man z.B. eine Leiche untersucht, schwirren die Gedanken von Paul à la Heavy Rain wie Fliegen umher. Nur muss man sich nicht bei Zeitdruck für etwas entscheiden, sondern lediglich abwarten und weiter suchen.

Anhand von Gegenständen und Tatorten kann man nicht nur in die Vergangenheit blicken: man bekommt auch Hinweise auf Orte.
Aber wie soll man in dieser offenen Wildnis ohne Kompass, Zielmarkierungen oder Metalldetektor bloß einen Gegenstand finden? Da gibt es einen subtilen Kniff: Schwirren z.B. mehrere Worte „Kurbel“  wie Mücken umher, muss man sie manchmal mit der Maus auf einen bestimmten Punkt in der Landschaft ausrichten, wo sie sich zu einem Wort vereinen – dann blickt man nicht nur mit seinen übersinnlichen Fähigkeiten genau dorthin, sondern hat damit auch die ungefähre Richtungsanzeige. Ein sehr elegantes, angenehm intuitiv zu bedienendes System.

Schön ist auch, dass man Gegenstände als 3D-Objekte drehen und so genauer ansehen kann; schade ist allerdings, dass dieses System nur selten genutzt wird, um etwas Verborgenes zu entdecken - meist geht es nur um die Rückseite von Briefen. Da war mehr drin!

Detektiv mit übersinnlichen Fähigkeiten

Gesucht, gefunden: Endlich ist alles wieder an seinem Platz am Tatort. Ich habe die Axt zurück in ihre Wandnische gestellt und die Schere auf den Schreibtisch gelegt. Wenn ich jetzt die Leiche untersuche, reißt ein Loch in der Realität auf, das immer größer wird und mir schließlich einen gespenstischen Blick in die Vergangenheit gewährt. Dann fliegen mehrere blaue Lichter davon, denen ich folge und die bei meiner Berührung eingefrorene Szenen der mörderischen Tat zeigen – darunter z.B. ein Schlag, ein Gespräch, eine Verfolgung.

Im Gegensatz zu Dear Esther kann man hier auch aktiv werden, indem man Rätsel löst oder Fahrzeuge bewegt.
Aber was ist zuerst passiert? Ich kann die Szenen von eins bis fünf nummerieren und sie dann ablaufen lassen - das ist allerdings nicht besonders schwierig. Falls die Reihenfolge stimmt, komme ich dem Geheimnis um das Verschwinden von Ethan Carter wieder ein Stück näher.

Genau dieses Sammeln von Indizien, Zurückbringen zum Tatort plus Blaulichtverfolgung und Reihenfolge-Puzzle, sorgt schon beim zweiten Mal dafür, dass sich über die Routine auch eine gefährliche Gewöhnlichkeit in das übersinnliche Abenteuer einschleicht. Immerhin gibt es zumindest ein kniffligeres alternatives Rätsel, in dem man in einem Haus über mehrere Etagen mit vielen Türen eine Art Gedächtnis-Teleportspiel meistern muss, indem man sich für die richtigen Orte auf der anderen Seite entscheidet.

Schauriges Versprechen

Die polnischen Entwickler haben ihr Mystery-Adventure als „Dear Esther mit 18er-Einstufung und Gameplay" beschrieben. Und das beschreibt ganz gut, was man über knapp vier Stunden erlebt. Auch wenn der einleitende Satz „eine erzählerische Erfahrung“ verspricht, kann die Regie dieses Versprechen nicht so intensiv erfüllen wie etwa ein Dear Esther oder Gone Home. Das liegt nicht daran, dass es hier auch klassische interaktive Elemente gibt, sondern

Hat man alle Gegenstände am Tatort platziert, gibt es ein chronologisches Rätsel.
daran, dass das Drehbuch das Unheilvolle und Übersinnliche, das man ja zu Beginn erahnt, nicht immer gekonnt in schaurige Erlebnisse übertragen kann.

Es gibt tolle Ansätze dafür, aber die werden nicht konsequent genug verfolgt. Denn: Man weiß irgendwann, und zwar viel zu früh, dass einem nichts passieren kann. Selbst in den Situationen, in denen man etwas "falsch machen" kann, droht einem keinerlei Gefahr. Gerade das Teleportspiel mit den Zimmern hätte man auch nutzen können, um für mehr Angst oder schleichenden Wahnsinn zu sorgen.

Die Hintergrundgeschichte wird nur auf zwei Ebenen erzählt: Zum einen gibt es an bestimmten Stellen gesprochene Kommentare des Privatdetektivs Paul Prospero – keine trockenen Analysen, sondern Gedanken zum Übersinnlichen, das an diesem Ort für ihn spürbar scheint. Zum anderen findet man nicht nur Leichen, sondern auch mal ein Foto oder Notizen, die das Geschehen langsam mit Figuren und Geschichte füllen.

Etwas mehr Lovecraft

Das Red Creek Valley ist angenehm groß: Neben einigen Häusern erkundet man auch einen Friedhof und ein Bergwerk.
Aber es gibt keine Dramaturgie, die diese beiden Ebenen mal zusammen führt, die für mehr Spannungsmomente sorgt. Es ist nicht so, dass die Inszenierung der Story schlecht ist, zumal das Finale einiges aufklärt. Und dieses Spiel deutet immerhin an, was aus einem Alan Wake hätte werden können, wenn man sich in der Regie weniger auf Action, sondern mehr auf Erkundung und Story konzentriert hätte.

Gleichwohl lässt auch The Vanishing of Erhan Carter einiges an erzählerischem Potenzial liegen. Die uralte Macht wird skizziert, aber mehr nicht. Dabei hätte dem Spiel etwas mehr vom Schrecken eines H.P. Lovecraft sehr gut getan.

Eine erzählerische Schwäche ist vielleicht, dass das konfus Okkulte und Übersinnliche, also dämonische Beschwörungsformeln auf Latein hier, oder Krähenopfer dort, etwas im luftleeren Raum schweben, ohne einen Zusammenhang mit dem eigentlichen Ort und die Artefakte in ihm. Was hat es mit den Gräbern von Deutschen auf sich? Oder mit dem Platz im Wald, an dem erst Lichter brennen und dann ein Zelt steht? Indianisch? Noch älter? Mehr Wissenswertes über die Historie des Tals und seiner Anwohner oder die Vandegriff-Familie wäre wünschenswert gewesen. Natürlich darf das alles nicht logisch erklärt werden, aber es sollte zumindest in einen besseren Kontext der Ahnungen und Möglichkeiten gebracht werden. "The Vanishing of Ethan Carter" zitiert zwar Poe und Lovecraft, aber die schaurige Sogwirkung der Klassiker wird in diesem Adventure nur angedeutet. Trotzdem ist das ein guter erster Schritt, den die Astronauten da machen. Hoffentlich gibt es noch mehr Spiele dieser Art!

Fazit

The Vanishing of Ethan Carter ist auch auf PlayStation 4 ein stimmungsvolles Abenteuer im Stile einer Schauergeschichte. Hier steht nicht das blanke Entsetzen, sondern das Erkunden im Mittelpunkt. Und das in einer nordamerikanischen Naturlandschaft, die mit ihrem Bergwald zu den schönsten gehört, die man aktuell in Spielen findet. Zwar gibt es sporadische Bildratenprobleme, aber man fühlt sich zu Beginn fast wie in einem alternativen Alan Wake, das sich ohne Action und Schnickschnack auf das Wesentliche konzentriert – das mysteriöse Erlebnis. Aber so charismatisch der Erzähler ist, so sehr ich die offenen Erkundungsreize und vor allem das auf das Wesentliche reduzierte Spieldesign schätze, ist die Regie letztlich etwas zu entspannt. Man vermisst sowohl einen Spannungsbogen als auch – und das ist aufgrund der tollen Ansätze schade - die Faszination des Unheimlichen. Die interaktiven Chronologie-Puzzles sorgen zwar für Rätselflair und es gibt auch sonst einiges an Interaktion, aber auch eine gewisse Routine, Gewöhnlichkeit und Sicherheit. Unterm Strich ein gutes Adventure, das etwas mutiger mit dem Trügerischen und Schrecklichen hätte spielen können. So werden Poe und Lovecraft zwar zitiert, aber die unheimliche Sogwirkung der Klassiker nur angedeutet. Trotzdem: Hat Spaß gemacht, bitte mehr davon! PS: Die Entwickler sitzen bereits an einem Patch für die PC-Version, der sie auf Unreal-Engine-4-Niveau hievt; außerdem ist eine Boxversion für PS4 in Arbeit.

Pro

Schauer-Adventure à la Poe & Lovecraft
fantastische Kulisse, tolle Landschaft
dezenter Einsatz von Gedanken
elegant: Suchworte geben auch Ortshinweis
Einstieg macht sofort neugierig
automatisches Speichern
langsamer Rhythmus weckt Erkundungsreize
Logik-, Gedächtnis und Chronologie-Rätsel
Gegenstände drehen und zoomen
stimmungsvolle englische Sprachausgabe
kein Tutorial, keine überflüssigen Hilfen
angenehme Musikuntermalung
optional deutsche Texte als Untertitel
dramaturgisch gutes Ende

Kontra

man fühlt sich zu sicher
Chronologierätsel schnell Routine
Rahmenhandlung mit einigen Fragezeichen
Inspizieren von Gegenständen bringt selten was
Sprecher der Nebenfiguren nicht auf Niveau des Erzählers
nur ein Spielstand, der überschrieben wird
sporadische Bildratenprobleme (PS4)

Wertung

PlayStation4

Ein dramaturgisch etwas zu entspanntes, aber überaus stimmungsvolles Adventure im Stile einer schaurigen Kurzgeschichte - inklusive klassischer Rätsel.

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