Life Is Strange02.02.2015, Benjamin Schmädig

Im Test: Mystery zum Wohlfühlen

Nichts drängt mich. Ohne Eile schweben rotbraune Blätter unter der warmen Mittagssonne über dem Boden, während Max unter einem Baum Halt macht. Zu leiser Gitarrenmusik lässt sie ihren Tag Revue passieren. Die Kamera zeigt einen Sportplatz, eine Schule, Teenager, die die Pause genießen. Life Is Strange (ab 21,90€ bei kaufen) ist ein Adventure in der Tradition von The Walking Dead. Und doch ganz anders.

Endlich Zuhause, endlich erwachsen?

Vor fünf Jahren verließ Max ihre Heimatstadt Arcadia Bay. Jetzt ist sie zurück, um an der renommierten Blackwell Academy Fotografie zu studieren – ein Zufall, dass ihr Vorbild (und Schwarm) gerade hier unterrichtet!

Doch die Achtzehnjährige kommt nur schwer in ihrem altem Zuhause an. In den ersten drei Wochen hat sie kaum Anschluss gefunden, ihre ehemalige Freundin Chloe noch nicht einmal angerufen. Die Attitüden ihrer Kommilitonen machen ihr zu schaffen und Mitglied des elitären Vortex-Clubs möchte sie auf keinen Fall sein.

Die erste Epiosde zu Life Is Strange ist vor allem eins: Eine persönliche Geschichte ums Erwachsenwerden. Sie streift ernste Themen wie Freundschaft, Trennungsschmerz, ungewollte Schwangerschaft sowie Alltägliches wie coole Horrorfilme auf einem USB-Stick, Klamotten, Skateboards oder das Versäumnis, einem alten Freund Hallo zu sagen.

Der Gast aus der Zukunft

Und natürlich steckt in Life Is Strange auch ein handfester Krimi. Schließlich findet Max bald heraus, dass Rachel Amber, Chloes neue beste Freundin schon seit einem halben Jahr verschwunden ist. Gibt es jemanden, der weiß, was mit ihr geschehen ist? Hat Chloes ruppiger Stiefvater seine Hände im Spiel? Das Geheimnis um Rachel scheint der rote Faden zu sein.

Scheint... denn ihr Verschwinden ist nicht das einzig Sonderbare in Arcadia Bay. Immerhin kann Max die Zeit zurückzudrehen. Beliebig oft spult sie zum Anfang einer Szene, um getroffene Entscheidungen zu revidieren

Mit viel Ruhe, guter Kameraarbeit und einem hervorragenden Soundtrack erzählt Dontnod einen ebenso persönlichen wie spannenden Mystery-Krimi.
oder einen Gegenstand zu verwenden, den sie vorher noch nicht in der Hand hielt. Was verleiht ihr diese Fähigkeit? Und welche Bedeutung haben Hinweise auf z.B. Klimaerwärmung oder Umweltverschmutzung?

Mein Klick, mein Tempo!

Mit viel Ruhe erzählt Dontnod (Remember Me) die geheimnisvolle Geschichte – nicht nur erzählerisch, sondern auch spielerisch. Denn anders als in einem Telltale-Abenteuer wie The Walking Dead kann ich mir für Antworten in den zahlreichen Gesprächen beliebig viel Zeit lassen. Beschränkt sich die Interaktion bei Telltale fast ausschließlich auf Dialoge, bewege ich mich hier außerdem frei an allen Schauplätzen.

Während Chloe etwa einen Joint raucht, sieht sich Max in ihrem Zimmer um. Sie kommentiert Bilder aus der Vergangenheit, erinnert sich an ein altes Regal und das Versteck im alten Kleiderschrank. Und falls mir danach ist, setzt sich Max eben unter einen Baum, lässt sich auf ihr Bett fallen oder zupft eine Melodie auf ihrer Gitarre. In Gedanken lässt sie die Ereignisse dann Revue passieren, während stimmungsvolle Einstellungen den Moment einrahmen. So lange, bis ich Max aufstehen lasse.

Immer bin ich es, der den nächsten Schritt macht. Nie drängt das Spiel. So hatte ich auch die Ruhe, viel in dem mit Zeichnungen und Aufklebern verzierten Tagebuch zu lesen, das von ihrer Aufnahme an der Blackwell Academy und den ersten Tagen in Arcadia Bay berichtet. Nach und nach ergänzt Max die Seiten mit dem, was sie erlebt. Sie klebt Fotos hinein und fügt Personen hinzu, denen sie begegnet. Ich habe dieses ausführliche Kennenlernen in vollen Zügen genossen!

Mitleid oder Häme?

Ich freue mich außerdem, in einem Adventure mit Telltale-Formel wieder richtige Rätsel zu lösen. Wie bringe ich Victoria, die Zicke der Schule, etwa dazu, den Weg frei zu geben? Wie komme ich an einem umgestürzten Baum vorbei, der mir den Weg versperrt?

Die Antwort ist meist an das Zurückspulen der Zeit gebunden. Oft beobachtet Max nämlich das Geschehen, bevor sie weiß, was geschehen wird – über das Gesehene oder Gehörte ergibt sich beim erneuten Erleben eine Lösung. In Dialogen kennt sie dann z.B. die richtige Antwort. Eine Pappe schiebt sie beim zweiten Mal unter den Schrank, bevor der Schlüssel darunter fällt. Und unter dem umstürzenden Baum schlüpft sie hindurch, weil sie sich vor dem Zurückdrehen der Zeit direkt davor stellt.

Rätsel der Zukunft

Entscheidungen, die den Fortlauf der Geschichte beeinflussen, ähneln denen der Telltale-Geschichten. Anders als z.B. Clementine kann Max ihre Wahl allerdings in Ruhe treffen. Und natürlich kehrt sie zum Punkt der Entscheidung zurück, falls sie im Nachhinein einen anderen Weg gehen will. Innerhalb einer Szene darf sie das beliebig oft wiederholen.

Der Clou daran: Die Konsequenzen sind im Verlauf einer Szene, ja die komplette Episode über, kaum absehbar. Ich spiele also nicht jede Möglichkeit durch, um irgendwann das bequemste oder moralisch einwandfreie

Chloe, Max' ehemalige beste Freunding, scheint in Schwierigkeiten zu stecken.
Ergebnis zu wählen. Vielmehr muss ich eine Entscheidung fällen, die ich am besten mit meinem Gewissen oder meiner Gefühlswelt vereinbaren kann.

Stichpunkt und Wirklichkeit

Im Grunde fällt die Entscheidung also vor der Wahl, nicht nach dem Abklappern aller Varianten. Das Zurückspulen ist daher keine Spielkrücke. Es könnte lediglich verhindern, dass man sich überrumpelt vorkommt, weil das erwartete Ergebnis eines Stichpunkts nicht der tatsächlichen Antwort von Max entspricht. Ich kenne solchen Frust aus The Walking Dead.

Nicht zuletzt nutze ich in Dialogen gewonnene Informationen in weiteren oder wiederholten Unterhaltungen. Statt der arroganten Victoria gibt so Max z.B. ihrem Dozenten die richtige Antwort. Viele Lösungen erschließen sich auch über das genaue Beobachten der Umgebung und einige Rätsel sind echte Kopfnüsse, obwohl ich sie gar nicht lösen muss – ein Detail, das die Welt lebendig macht. Nicht jede Erkenntnis sollte Max dabei unverblümt ansprechen. Auch das ist ein cleveres dramaturgisches Mittel!

Kleiner Schluckauf

Im Gegenzug sind viele der Aufgaben, die Max zum Vorankommen lösen muss, leider zu einfach. Vielleicht platziert Dontnod echte Kopfnüsse nur "abseits" des roten Fadens, um Gelegenheitsspieler nicht zu

Max kann zahlreiche Gegenstände ansehen und sich mit vielen Personen unterhalten.
verschrecken. Eine Idee anspruchsvoller könnten die Rätsel allerdings sein. Gelegentliche Grafikfehler erinnern zudem an kleine Ärgernisse der Telltale-Geschichten.

Bulle und Sternchen

Die größte Schwäche sind jedoch die vielen stereotypen Charaktere, allen voran die übertrieben zickige Victoria und die betont rebellische Chloe. Zu abrupt wechselt Chloe vom schmerzhaften Verlust ihrer Freundin Rachel zur sorglosen Leck-mich-am-Arsch-Attitüde. Eine Idee zu grob reagiert ihr paranoider Stiefvater, zu einfältig brummt der bullige Football-Star.

Übertrieben hat Dontnod zudem das Kennerlernen der vielen Figuren, mit denen ich mich im Mittelteil der Episode unterhalte. Ich bin ohnehin kein Freund des Adventure-typischen "Hey, wer bist du? Erzähl mir, was du hier tust!" und Life Is Strange strapaziert genau das beinahe über. Hoffentlich ist dies eine Notwendigkeit des Einstiegs, für die es in den kommenden Episoden keinen Bedarf mehr gibt.

Fazit

Irgendwie passt es sogar zum unschuldigen Tonfall des Teenager-Dramas, dass seine Figuren das Richtige sagen, es aber mit dem Wortschatz eines Klischee-Almanachs ausdrücken. Immerhin treffen die Sprecher der stereotypen Charaktere den richtigen emotionalen Tonfall, während sie von sanfter Gitarrenmusik begleitet werden – Dontnod erzählt mit viel Feingefühl einen ebenso persönlichen wie spannenden Mystery-Krimi. Dessen Stärke sind das ruhige Tempo und ein gemächliches Entdecken. Der Einblick in die Gedanken der Protagonistin, ihr umfangreiches Tagebuch und viele Momente zum Durchatmen helfen mir in Max' Welt anzukommen. Das Begutachten zahlreicher Objekte sowie Rätsel abseits dringlicher Notwendigkeiten verbinden mich auch spielerisch mit ihrer Umgebung. Mit wichtigen Entscheidungen definiere ich Max zudem als Charakter, anstatt lediglich auf Konsequenzen zu schielen. All dies hebt das von The Walking Dead geprägte Adventure auf eine neue Stufe, weil es mehr als eine Dialogfolge ist. Das jederzeit mögliche Zurückspulen der Zeit ist dabei nicht nur cool, es dient auch dem Lösen vieler Aufgaben. Zur profanen Spielkrücke verkommt die "Zeitreise" aber nicht, weil die Folgen wichtiger Entscheidungen selbst nach dem Abschluss der Episode kaum absehbar sind. Manche Rätsel sind zwar übertrieben leicht und das Kennenlernen der zahlreichen Personen nimmt zu viel Platz ein. Dennoch habe ich jede Minute dieses Wohlfühl-Abenteuers in vollen Zügen genossen und bin gespannt darauf, wie es im März weiter geht!

Pro

Regie stellt Figuren in den Vordergrund
interessanter Krimi mit Mystery-Flair und Umweltthema
kleine interessante Rätsel mit und ohne Zeitmanipulation...
ruhiges Entdecken aller Schauplätze
Max schaut zahlreiche Gegenstände an und kommentiert sie
umfangreiches Tagebuch gibt Einblick in ihre Welt und ihren Charakter
interessante Entscheidungen mit unabsehbaren Konsequenzen
beliebiges Zurückdrehen der Zeit bringt Ruhe in Entscheidungen
gute Kameraarbeit mit vielen gelungenen Einstellungen
Soundtrack mit sanfter Gitarrenmusik
optionales Suchen von Sammelgegenständen ohne getroffene Entscheidungen zu beeinflussen

Kontra

auffällig stereotype Figuren
die vielen Charaktervorstellungen halten Handlung und Spiel auf
... von denen einige zu wenig fordern
kleine grafische Fehler
ausschließlich englische Sprache und Texte

Wertung

360

Ein ebenso persönlicher wie spannender Mystery-Krimi mit interessanten Entscheidungen.

XboxOne

Ein ebenso persönlicher wie spannender Mystery-Krimi mit interessanten Entscheidungen.

PC

Ein ebenso persönlicher wie spannender Mystery-Krimi mit interessanten Entscheidungen.

PlayStation4

Ein ebenso persönlicher wie spannender Mystery-Krimi mit interessanten Entscheidungen.

PlayStation3

Ein ebenso persönlicher wie spannender Mystery-Krimi mit interessanten Entscheidungen.

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