Psychonauts20.01.2006, Mathias Oertel
Psychonauts

Im Test:

Na? Wer kann mit dem Namen Tim Schafer etwas anfangen? Adventure-Fans werden jetzt vermutlich hellhörig, denn immerhin stammt z.B. das Kult-Abenteuer Grim Fandango aus seiner kreativen Feder. Nach einer längeren Schaffenspause meldet sich Schafer zurück – mit einem waschechten Action-Adventure, das euch um den Verstand bringen wird.

Spätes Vergnügen

Ich kann mich noch gut erinnern: Als wir letztes Jahr zur E3-Berichterstattung in Los Angeles waren und in der spärlichen Freizeit dem einen oder anderen Spieleshop einen Besuch abstatteten,  sprang mir das psychedelische Cover zu Tim Schafers Psychonauts (ab 1,00€ bei kaufen) ins Auge.

Abgefahrenes, aber liebevolles Figurendesign und Umgebungen, die kaum fantasievoller sein könnten: Willkommen in der Welt von Psychonauts!
Dennoch verzichtete ich auf den Kauf, da ich davon ausging, dass der viel versprechende Titel auch bald in Deutschland erscheinen würde.

Und so sollte es auch sein – allerdings nur, wenn man den Begriff "bald" auf sieben Monate ausdehnt.

Weswegen das neue Action-Adventure des Grim Fandango-Machers hierzulande so lange auf sich warten ließ? Schwer zu sagen, denn auch wenn die Lokalisierung zugegeben exzellent ist und die Charaktere mit überzeugendem Leben füllt (so z.B. der Psychoanalytiker, der mit seinem leichten Wiener Dialekt Assoziationen an Sigmund Freud wach ruft), dürfte diese nicht die mehr als 200 Tage Wartezeit erklären.

Doch viel wichtiger als die Lösung für die unerklärliche Wartezeit sind die Fragen: Hat sich das Warten gelohnt?  Und was zum Teufel ist Psychonauts überhaupt?

Fragen und Antworten

Die Antworten sind mit "Definitiv ja!" und "Im Kern ein lupenreines Action-Adventure mit außergewöhnlichem Setting und viel zu entdecken" scheinbar leicht zu geben. Doch wie so oft verbirgt sich dahinter viel mehr.

Wie viel mehr? Wie wäre es z.B. mit einer herrlich abgedrehten Story um den mit PSI-Talenten gesegneten Razputin (für seine Freunde "Raz"), der in einem Sommercamp einem wahrlich überraschenden Komplott um die so genannten Psychonauts auf die Schliche kommt. Diese mit mentalen Kräften ausgestatteten Mitglieder einer Spezialeinheit können in den Verstand von Menschen wie du und ich eindringen, sich dort umschauen und ggf. Manipulationen (natürlich nur zum Wohle der Menschheit) vornehmen.

Wer hat Angst vorm bösen Fisch? Dieser Bosskampf ist einer der Höhepunkte von Tim Schafers Action-Adventure!
Auch Raz möchte zu diesen Psychonauten gehören. Und wie sich herausstellen soll, sind er und seine überragenden  Talente, die ihn quasi zum psychokinetischen Gegenstück zu Anakin Skywalker machen, der Schlüssel zum Überleben.

Oder wie wäre es mit einem gut dosierten Schuss an Humor? Ein durchgeknallter General, der nichts anderes als Krieg in allen Formen im Kopf hat, über den streng analytischen und in geometrischen Mustern denkenden Freud-Nachfolger bis hin zur Levitations-Lehrerin, die im Herzen ein Disco-Star sein möchte, finden sich überall Punkte, an denen Grim Fandango-Meister Tim Schafer die Lachschrauben anzieht – und das meist erfolgreich. Immer wieder ertappe ich mich, wie sich ein kleines Schmunzeln auf mein Gesicht legt – um dann von einem lauten Lachen abgelöst zu werden. Zugegeben: manchmal ist der Witz etwas überzogen, doch da die Geschmäcker verschieden sind und Humor ist, wenn man trotzdem lacht, wird eigentlich jeder in Psychonauts immer wieder Elemente finden, die mal mehr, mal weniger die Lachmuskeln strapazieren. Mir persönlich hat es der Riesen-Anglerfisch angetan, der vom ernst zu nehmenden Bossgegner zum Freund avanciert und der einige ganz besondere Gedanken auf Lager hat…

   

Doch wie sieht es mit dem Spielprinzip aus? Natürlich erfindet Tim Schafer das Action-Adventure-Rad nicht neu, doch er hat sich die Referenz-Spiele der letzten Jahre gut angeschaut und Psychonauts mit zahlreichen bekannten Elementen angereichert. Dabei hat er das Kunststück geschafft, dem abgefahrenen Abenteuer bei allen Dèja-vus Eigenständigkeit und Seele zu verpassen.

Spielerisch verlässt sich Psychonauts größtenteils auf bekannte Elemente, setzt diese aber gut für die eigenen Zwecke ein.
Wen stört es, dass man die große Freiheit, die man in den Abschnitten genießt (samt Entdeckung haufenweise kleinerer oder größerer Gimmicks) bereits in Super Mario 64 kennen gelernt hat? Mich nicht, wenn sie sich so autark und stimmig präsentiert wie hier!

Doch gleichzeitig hat es Schafer nicht geschafft, die Klippen des "Hab-ich-schon-gesehen"-Riffs zu umschiffen. Ja: das Design der Abschnitte ist fantasievoll, immer wieder überraschend und dadurch, wie z.B. im Falle des Bosskampfes mit dem Anglerfisch ein Garant für Motivation. Auch die Kulisse kann sich sehen lassen: Abgedrehte Disco-Landschaften wechseln sich ab mit streng geometrischen Umgebungen, die dann wiederum von einer Kleinstadt abgelöst werden, in der ihr als Godzilla/King Kong im Kinderformat für Zerstörung sorgt.

Bis zum Abspann, der nach ca. zehn bis 15 Stunden über den Bildschirm flimmern wird, bekommt man immer wieder neue Umgebungen zu Gesicht, die von ebenso fantasievollen wie skurrilen, jedoch immer überzeugenden und lebendig wirkenden Figuren gefüllt werden.

Konservativ auf hohem Niveau

Allerdings hat das Design-Team beim Ausarbeiten der spielerischen Möglichkeiten weniger Fantasie an den Tag gelegt als bei der optischen Gestaltung. Denn auch das abgefahrenste Aussehen von Figuren und Umgebungen kann nicht verschleiern, dass im Kern bekannte Kost wartet: Ihr hüpft, ihr kämpft, ihr sammelt ein, ihr setzt euch hin und wieder mit einem Boss auseinander.

Ein weiteres Beispiel für das fantasievolle Design: die Blaupausen-Welt.
Einzig die nach und nach eingeführten PSI-Fähigkeiten, die Raz zu einem wahren Meister-Psychonauten machen, sind neu (zumindest im Genre) und letztlich neben dem Design dafür verantwortlich, dass Tim Schafer einen Award kassiert.

Sicher: in "normalen" Action-Spielen wie PSI-Ops oder Second Sight wurden übersinnliche Fähigkeiten bereits eingeführt und adäquat eingesetzt. Psychonauts schafft es aber, Telekinese, Levitation usw. nicht nur in einem Genre zu etablieren, sondern auch im Hinblick auf das Leveldesign clever einzusetzen – zumindest auf den ersten Blick.

Denn auf den zweiten verbirgt sich z.B. hinter dem PSI-Ball mit seiner Schwebe-Fähigkeit wenig mehr als hinter den Hubschrauber-Ohren von Rayman – Spaß macht’s trotzdem.

Wenn jetzt auch noch z.B. mehr Mini-Spiele zu finden wären oder gar alternative Abschnitte, die man nach Abschluss des Abenteuers hätte entdecken können – wer weiß, vielleicht hätte Raz sich sogar Platin angeln können.  

Fazit

Das klassische Action-Adventure wurde in den letzten Monaten sträflich vernachlässigt. Doch Tim Schafer zeigt mit Psychonauts eindrucksvoll, dass man den alt hergebrachten Plattform-Hüpfspaß noch lange nicht abschreiben sollte. Dabei verlässt er sich zwar im Wesentlichen auf bekannte und erfolgreiche Mechanismen. Doch mit dem liebevoll skurrilen, in jedem Moment überzeugenden Design von Figuren und Umgebung, dem feinen Humor sowie den zumindest im Genre neuen PSI-Fähigkeiten präsentieren sich Raz, seine Freunde und Feinde als todsicherer Tipp für alle, die ein Spiel in der Tradition von Schlappohr Rayman oder Klempner Mario suchen. Mit wenigen Ausnahmen muss man Neuerungen zwar mit der Lupe suchen und Wiederspielwert hätte Psychonauts sicher ebenfalls gut getan, doch angesichts der Genre-Dürre ist man um jeden Titel dankbar – vor allem, wenn er so viele Lacher garantiert wie Psychonauts.

Pro

liebevolles Charakterdesign
sauber inszenierte Plattform-Action
viel zu entdecken
exzellente Lokalisierung
spaßige PSI-Fähigkeiten
gute Steuerung
akkurate Kollisionsabfrage
spannende Geschichte
viel Humor

Kontra

im Kern nichts Neues
kaum Wiederspielwert
hierzulande sehr spät veröffentlicht

Wertung

XBox

0
Kommentare

Du musst mit einem 4Players-Account angemeldet sein, um an der Diskussion teilzunehmen.