Deus Ex: Invisible War20.02.2004, Jörg Luibl
Deus Ex: Invisible War

Vorschau:

Während sich Amerikaner schon seit letztem Jahr in der düsteren Zukunft von Deus Ex 2 austoben, muss man sich hierzulande noch zwei Wochen in Geduld üben. Aber das Warten lohnt sich: Wir haben die deutsche Xbox-Fassung des SciFi-Rollenspiel angespielt und neben einigen kleinen Kritikpunkten viele große Pluspunkte entdeckt.

Deus Ex? Kein Thema!

Eines gleich vorweg: Als Konsolenspieler interessieren mich das vier Jahre alte Deus Ex  sowie die hitzige Diskussion darüber, was damals alles besser war, nur am Rande. Warum?

Laserschranken? Kein Problem! Oder besser: Nicht ein Problem, sondern derer gleich viele, denn ihr könnt dieses Gebäude auf mehrere Arten infiltrieren.

Erstens, weil dieser Nachfolger für die Xbox konzipiert wurde und vollkommen ohne Vorkenntnisse von der Couch aus spielbar ist. Die Story spielt zwanzig Jahre nach der des PC-Kultspiels, bietet zwar einige Anspielungen, ist aber ansonsten eigenständig.

Zweitens, weil das kleinliche Gejammer über Nichtigkeiten wie die fehlende Munitionsvielfalt angesichts der großen Handlungsfreiheit und atmosphärischen Dichte lächerlich wirkt. Spiele mit Projektilrealismus fluten die Mattscheiben, Spiele mit einer glaubwürdigen Welt  haben leider Seltenheitswert.

Es gibt derzeit keinen einzigen Xbox-Titel, der mir dermaßen viel Raum zum neugierigen Experimentieren und zum freien Taktikwechsel gibt. Ich habe immer das wohlige Gefühl, die Probleme nach eigenem Ermessen lösen zu können.

Ihr sollt z.B. eine gesicherte Suite infiltrieren und steht vor der delikaten Qual der Wahl: Wollt ihr den korrupten Hausmeister bestechen? Das kostet eine Menge Geld. Wollt ihr den düsteren Hintereingang nutzen? Da wartet ein bissiger Roboterhund. Wollt ihr den defekten Fahrstuhlschlacht nutzen? Dann müsst ihr die Stromversorgung kappen und geschickt klettern. Oder wollt ihr den politisch heiklen Bruch einfach abblasen? Wer spielerische Einbahnstraßen hasst, wird hier voll auf seine Kosten kommen – und das bei jedem noch so kleinen Auftrag. __NEWCOL__I`ll do it my way

Außerdem könnt ihr die Ausrüstung und eure Fähigkeiten an euren Stil anpassen: Der Schleicher bleibt im Schatten, setzt auf den leisen Elektroschocker, knackt Schlösser, trägt Leichen weg und pflanzt sich nur die Biomodule ein, die seine Schritte dämpfen, ihn für lästige Wachroboter unsichtbar machen oder Hackerfähigkeiten verleihen. Der Stealth-Aspekt ist nicht ganz so ausgefeilt wie in Splinter Cell , aber durchaus befriedigend. 

Der soldatisch veranlagte Spieler gibt patzige Antworten mit Duellgarantie, setzt auf große Kaliber, ruiniert Alarmanlagen mit EMP-Granaten und stählt seinen Körper mit Stärke- und Nahkampfmodulen. Ein Wermutstropfen für Action-Freunde: Anstatt Trefferzonen gibt`s nur Energiebalken. Aber im Kern ist Deus Ex 2 eben kein Shooter, sondern ein Rollenspiel. Nur dass euer Charakter und seine Fähigkeiten hier von euren Handlungen und Implantaten ersetzt werden.

Es gibt aber nicht nur entweder die harte oder die leise Tour, sondern auch den Mittelweg. Und wenn ihr keine Lust mehr auf den Gentleman habt und die Killerinstinkte rufen, dann lasst ihr beim nächsten Auftrag eben Schrotflinte und Raketenwerfer sprechen. Aber Vorsicht: Im Gegensatz zu Star Wars: Knights of the Old Republic hat das zwar keine moralischen Auswirkungen auf einer Gut-Böse-Skala, aber eure Morde können später zum Bumerang werden.

Wachroboter und Kapuzenmänner? Die Welt von Deus Ex bietet zwar ein futuristisches Ambiente, aber auch mittelalterliche Sitten und Gruppierungen. Selbst die Kirche spielt eine Rolle.

Auf welche Art und Weise ihr durch die ebenso düstere wie lebendige Welt streift, ist also einzig und allein eure Sache. Es gibt keine Klassen, keine Vorschriften, keinen besten Weg. Ob das auf Dauer zu beliebiger Langeweile oder prickelnder Freiheit führt, werden wir im kommenden Test erörtern – momentan überwiegt Letzteres, denn die ersten Stunden wecken den Spielekitzel. Warum?

Science-Fiction, die lebt!

Schon der packende Einstieg entfacht Mittendringefühl: Das dramatische Intro sorgt für düstere Katastrophenstimmung, ganz Chicago versinkt nach einem mysteriösen Terroranschlag, es gibt nur bruchstückhafte Informationen und ihr seid als Auszubildender einer Agenten-Schule von der ersten Sekunde an umzingelt von Gerüchten, vermeintlichen Freunden und lächelnden Helfern. Wem kann man trauen? Wer hat Recht? Wer hat eure Heimatstadt vernichtet?

Virtuelle Schönheit weckt Fleischeslust: In der Zukunft strippen Hologramme in exklusiven Nachtclubs.

Ähnlich wie bei Star Wars: Knights of the Old Republic startet ihr das Abenteuer mit einem Haufen Fragen im Kopf. Nur, dass hier kein erzählerisches Korsett mit einem mehr oder weniger linearen Spielablauf, sondern die frische Luft der Freiheit wartet. Sobald ihr in Seattle seid, gebt ihr das Tempo vor.

Die Orte und Personen wirken dank stimmiger Architektur, gesripteter Zwischenfälle und glaubhafter Dialoge sehr natürlich, fast schon wie eine plausible Vision der Zukunft. Dazu tragen auch die politischen Fraktionen bei, die alle einer anderen Ideologie frönen und euch auf ihre Seite bringen möchten - und das Herausfordernde ist: Es gibt keine abgegriffenen Gut-Böse-Klischees. Und weil die bruchstückhaften Hinweise von der ersten Sekunde an die Neugier auf diese Science-Fiction-Welt und die mysteriöse Rahmenhandlung wecken, kommt man so schnell vom Pad nicht los.

Auch der Zugriff auf Inventar und Waffen flutscht zwar nicht sofort, bereitet nach einer Weile keine Probleme mehr: Ein Buttondruck öffnet das Menü, die Schultertaste feuert, mit B schaltet man die Waffen durch, Y ist für`s Springen, A ist für alle Aktionen reserviert.__NEWCOL__Was stört? Was nervt?

Natürlich hat Deus Ex 2 Schwächen, die vor allem im technischen Detail und im Komfort auftauchen: Auch auf der Xbox gibt es hier und da Ruckler. Und die insgesamt klasse inszenierte Kulisse hat zwar viele Licht-, aber auch einige Schattenseiten wie z.B. die unzureichende Kantenglättung, ab und zu fehlende Lippenbewegungen oder recht eintönige Todesanimationen. Auch das Springen und Leitern erklimmen hätte sicher sauberer umgesetzt werden können.  Das stört, geht aber im Spielspaßsog der ersten Stunden unter.

Zumal die bis auf wenige  Ausnahmen sehr gute deutsche Sprachausgabe und die unheimlich lebendig wirkende Umgebung vieles ausgleichen. Schwankende Deckenlampen entzücken mit tanzenden Lichtkegeln auf Wänden und Fluren; jeder Raum ist dank des beweglichen Mobiliars und der kleinen Verstecke eine Entdeckung wert. Und die Physikengine lässt euch Basketball spielen und jede Mülltonne werfen – wenn auch alles unrealistisch leicht ist.

Neben der Taschenlampe sollte man immer projektilfreudige Argumente bei sich tragen, damit man keine knurrende Überraschung erlebt.

Schwerer als diese Inkonsequenzen wiegt das viel zu kleine Inventar, das Platz für magere zwölf Waffen und Gegenstände bietet. Viel zu schnell muss man sich daher mit dem Ablegen von vermeintlich unwichtigen Dingen quälen – diese Beschränkung hätte angesichts der von Items überfluteten Welt nicht sein müssen. Auch die Auffrischung der Biomodulenergie hätte komfortabler über einen Button geregelt werden können, anstatt durch Inventarklickerei. Und last but not least hinterließ die KI trotz aufmerksamer Geräuschortung noch einen durchwachsenen Eindruck; im Test werden wir dem Gegnerverhalten daher genauer auf den Zahn fühlen.

Ausblick

Ja, Deus Ex 2 hat kleine Schwächen – sowohl was die Grafik als auch den Komfort angeht. Da stören Details in der Steuerung und das Interface wirkt nicht ganz so durchdacht wie bei Star Wars: Knights of the Old Republic. Aber es gibt derzeit kein einziges Spiel für die Xbox, das mich so fesselt und das mir spielerisch so viele Möglichkeiten zum Experimentieren lässt. Ich liebe es, meine Taktik zu wechseln, Waffen und Gegenstände zu testen und die düstere SciFi-Welt auf eigene Faust zu erkunden. Der Einstieg ist klasse, die ersten Stunden verfliegen im Nu und das Allerwichtigste: Warren Spectors Zukunfts-Szenario wirkt so lebendig, dass man es von er ersten Sekunde an voller Neugier erforscht. Dazu trägt auch die verwickelte Story bei, denn es gibt keine Gut-Böse-Klischees, keine billige Heldenkarriere, sondern ein Abenteuerschicksal mit vielen Grautönen und ideologischen Konflikten. In Sachen Architektur, Lichteffekte, Physik und Interaktivität lässt IonStorm selbst das preisgekrönte Jedi-Rollenspiel hinter sich. Die Frage bleibt allerdings, ob die Freiheit auf Dauer beliebig wird oder mein Weg tatsächlich entscheidenden Einfluss auf die Spielwelt hat. Auch die KI verdient noch einen genaueren Blick. Eines dürfte jedoch jetzt schon klar sein: Wer abseits vom linearen Actionbrei nach einem erfrischenden Cocktail Freiheit lechzt, kann sich den 5. März bedenkenlos vormerken.

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