Traumatisches Erlebnis
Nur noch wenige Sekunden verbleiben auf der Anzeige. Panisch schreit die gefesselte Frau nach dem Code, der die Bombe entschärfen soll, die um ihren Körper geschnallt wurde. Ein paar Zahlen, die über Leben und Tod entscheiden. Nur ein Versuch... Er scheitert – die Bombe geht hoch! Doch das ist nicht das Ende, sondern erst der Anfang einer Spielerfahrung, die sich nur schwer einordnen lässt. Es gibt Momente, in denen sich Get Even anfühlt wie ein Ego-Shooter, wenn man in der Rolle des Privat-Detektivs Cole Black die Schusswaffen zückt oder Gegner mit Nahkampfangriffen lautlos von hinten ausschaltet. Kurze Zeit später weicht die Action der Erkundung, wenn man sich mit seinem Hightech-Smartphone inklusive Analyse-Funktionen, Wärmesicht und Karte auf Spurensuche begibt oder kleine Umgebungsrätsel löst. So muss man z.B. mit dem Einsatz von Licht verborgene Zahlen entdecken und das Muster entschlüsseln, um den richtigen Zugangscode für eine Tür zu bekommen. An anderer Stelle muss man dagegen elektrische Leitungen verfolgen, um ans gewünschte Ziel zu gelangen. Und dann gibt es wieder Situationen, in denen Get Even ein leichtes Horror-Flair im Stil von Outlast oder BioShock verströmt: Die Kombination aus düsteren Gängen, Schreien, dem Fund von grausam zugerichteten Leichen und einigen äußerst lebendigen Irren sorgen für ein allgegenwärtiges Gefühl der Bedrohung, das vom dynamischen Soundtrack aus der Feder von Olivier Deriviere (Remember Me) noch verstärkt wird. Überhaupt zählt der Audio-Bereich zu den ganz großen Stärken des Spiels und
Ist Get Even Ego-Shooter? Nein, nicht wirklich... Denn nichts ist so, wie es scheint.
neben den Effekten ist es vor allem die großartige Musik und deren Entwicklung, die für die beklemmende Mystery-Atmosphäre sorgt. Grafisch wirkt die Kulisse dagegen trotz moderner 3D-Scanning-Technologien (Photogrammetrie) etwas angestaubt.
Die Wahrheit ist da draußen...vielleicht
Doch das wird schnell nebensächlich, denn die zahlreichen überraschenden Wendungen und die vielen, vielen Fragezeichen hinsichtlich der Story halten den Spieler trotz durchschnittlicher Technik bei der Stange. Was ist real? Was Einbildung? Wer ist dieser Mr. White, der sich zwischendurch immer wieder meldet? Was genau hatte es mit der entführten Frau des Einstiegs und den dortigen Ereignissen auf sich? Und was ist das für eine merkwürdige Therapie, die bei manchen Probanden den Wahnsinn eher zu fördern scheint? Fragen über Fragen...und viele Antworten darauf gibt es in den ersten Stunden nicht. Im Gegenteil: Alles scheint sich irgendwie noch abgedrehter, unerwarteter und mysteriöser weiterzuentwickeln als man es für möglich gehalten hätte. Und genau darin liegen sowohl Reiz als auch Stärke von Get Even!
Das Smartphone ist als Allround-Werkzeug (u.a. zur Analyse und Spurensuche) immer griffbereit.
Hinzu kommt der Faktor „Schmetterlingseffekt“: Im Gespräch haben Produzent Lionel Lovisa und Creative Director Wojciech Pazdur bereits angedeutet, dass sich viele Handlungen und Entscheidungen auf den weiteren Spielverlauf auswirken werden. Im Gegensatz zu einem Until Dawn wird man dabei aber nicht ständig darauf hingewiesen, dass man sich gerade an einer möglichen Story-Gabelung befindet. Stattdessen nimmt man eher subtil, mitunter sogar unwissend Einfluss auf die Handlung oder wird stellenweise tatsächlich gezielt auf einen „falschen“ Pfad geführt. Als Beispiel nennt Lovisa einen Abschnitt, in dem man als Spieler die Hightech-Waffe namens Corner Gun in die Hände bekommt. Mit ihr kann man aus der sicheren Deckung heraus sogar um Ecken schießen. Es ist ein Moment, der gezielt so gestaltet wurde, damit sich der Spieler mächtig fühlen soll. Dank der überlegenen Wumme und massig Munition wird man regelrecht dazu verführt, die gegnerischen Wachen kurz und schmerzlos über den Haufen zu ballern. Aber ist es auch der richtige Weg? Wäre es nicht sinnvoller, trotz des höheren Aufwands die enorme Feuerkraft zu ignorieren und sich stattdessen an den Wachen vorbei zu schleichen und ihr Leben zu verschonen? Man darf gespannt sein, wie viele solcher Momente und späterer Aha-Effekte es wohl geben wird. Andere Entscheidungen nimmt man dagegen schneller als solche wahr, wenn sich etwa die Frage stellt, ob man die Zellentür eines Patienten öffnen soll oder nicht...