Osmos02.02.2011, Jörg Luibl
Osmos

Im Test:

Independent hier, Independent da - wie kommt es eigentlich, dass unabhängige Spielentwicklungen so populär sind? Hat das etwas mit dem Unmut der Käufer gegenüber den Großen zu tun, die ihren zigmal durchgekauten Mainstream für viel Geld auf den Markt schmeißen? Klar, es gibt auch eine verständliche Portion Konsumententrotz. Aber die Popularität dieser kleinen Spiele wäre ohne ihre kreative Qualität nicht denkbar. Osmos ist ein ganz besonderes Schmuckstück.

Meditativer Darwinismus

Das Spiel der Kugeln: Die eigene blaue Kugel kann die kleineren blauen fressen, aber vor der roten muss sie sich in Acht nehmen.
Sphärische Musik fließt beruhigend im Hintergrund, leuchtende Kugeln schweben friedlich durch den Raum. Ist das ein Weltall mit Planeten? Nein, wenn man genauer heran zoomt, sehen die runden Körper eher aus wie futuristische Murmeln oder biologische Organismen - man erkennt wabernde Fasern und Lichtpunkte wie bei Tiefseefischen. Was es auch immer ist: Es sieht irgendwie lebendig, irgendwie faszinierend aus. Aber es ist nicht alleine das Artdesign, das Osmos vier Nominierungen beim Independent Games Festival 2009  bescherte (leider haben wir die PC-Version damals nicht getestet). Denn spätestens, als eine Kugel mit einem gleißenden Zischen absorbiert wird, ist klar, dass es hier trotz einlullender Akustik nicht um rein pazifistisches Zen-Gaming, sondern um das älteste Spiel der Welt geht: Fressen und Gefressen werden.

Man bugsiert einen kreisrunden Körper wie ein Raumschiff durch ein Meer voller Gefahren und muss clever wachsen, indem man gezielt so lange mit kleineren Wesen kollidiert, bis man selbst der Größte ist - dann ist ein Level meist gemeistert. Es gibt leider nicht all zu viele Spielvarianten, obwohl man auch mal gezielt andere Kugeln jagen muss. Wie sich das Ganze steuert? Sehr komfortabel: Ein Fingertipper hinter der eigenen Kugel sorgt für einen Schub in die entgegen gesetzte Richtung; ein Fingertipper vor ihr bremst ab. Je öfter und schneller man tippt, desto mehr Tempo nimmt man auf. Das Prinzip dieser indirekten 360-Grad-Steuerung ist einfach und schon während des Tutorials bewegt man sich angenehm präzise durch den Raum, zoomt mit zwei Fingern für eine bessere Übersicht ganz nah ran oder weit raus.

Der Verschleiß ist der Preis

Wie soll man hier die größte Kugel werden? Das geht nur über behutsames Billard im Kugelkosmos.
Aber man darf es nicht übertreiben, denn jede Bewegung kostet die eigene Kugel quasi Lebenskraft, symbolisiert durch den Verlust winziger Kügelchen, die wiederum Nahrung für Feinde darstellen. Davon gibt es einige mit unterschiedlichen Fähigkeiten, die das sofort ausnutzen: Die aggressiven KI-Kugeln wollen auch möglichst schnell wachsen. Und weil es nicht unbegrenzt Futter oder gar einen offenen Raum gibt, sollte man sich zuerst um diese Konkurrenten kümmern - sonst heißt es Game Over. Es gibt auch schwarzgrüne Antimaterie-Kugeln, die wie Parasiten an allem Größeren saugen oder flink flüchtende, die in der Nähe wie Magneten gleicher Polung abgestoßen werden.

Das Motivierende an Osmos ist, dass man behutsam und clever wachsen muss. Manchmal gilt es, sich mit sanften Tippern einen Weg durch riesige Fressfeinde zu bahnen. Wer hier schnell und hektisch tippt, ist auch schnell tot. Manchmal ist es sogar entscheidend, dass man die Zeit verlangsamt, um die optimale Richtung zu treffen. Erst wenn man schon eine gewisse Größe hat, kann man getrost vorspulen und seine Kugel flitzen lassen. Allerdings geht es oftmals um effiziente Wege im beengten Raum: Die Welt ist nicht frei, es gibt Grenzen und das kann schon mal dazu führen, dass etwas Trial&Error ins Spiel kommt, wenn die Futterrohstoffe aufgebraucht sind.

Billard im Kosmos

Fressen und Gefressen werden: Wenn man rauszoomt, erkennt man die grünen KI-Feinde - auch sie wollen wachsen!
Das Spielprinzip ähnelt also weniger einem chaotischen Flipper, sondern vielmehr dem gezielten Billard. Allerdings mit einem wichtigen Unterschied: Auf diesem kosmischen Tisch wirken nicht nur Einfalls- und Ausfallswinkel an den Rändern, sondern auch die planetaren Gesetze der Schwerkraft. Es gibt große Kugeln, die wie mächtige Sonnen eine unwiderstehliche Anziehungskraft aufbauen, mit zig kleinen Satelliten und potenziellem Futter in ihrem Radius. Diese planetaren Level besitzen im Gegensatz zu den einfachen Fressleveln eine ebenso gefährliche wie spannende Dynamik.

Kommt man ihnen nahe, schwebt man zunächst mit einem Temposchub in ihrer elliptischen Umlaufbahn - das kann taktisch klug sein, denn so gewinnt man ohne Verlust eigener Masse an Geschwindigkeit und kann dabei kleinere Kugeln absorbieren. Das Regulieren der eigenen Richtung aus dieser Anziehung heraus wird über eine Hilfslinie erleichtert. Das ist jedoch ein gefährliches Spiel, denn kommt man dem Kern zu nahe, wird man selbst angezogen und aufgesaugt; wer jetzt gegen steuert, kann sich nur unter großen Verlusten retten und endet meist als kosmischer Nachtisch.

Fazit

Bunt, laut und schrill sind so viele. Düster, blutig und explosiv sind noch mehr. Es gibt allerdings nur ganz wenige Spiele, die still, elegant und intelligent sind. Und noch weniger dieser überaus seltenen Exemplare sind auch noch so unterhaltsam, dass man in eine unwiderstehliche Spielumlaufbahn gerät, die sich dreht und dreht und dreht, während die Zeit vergeht. Ist das Zen-Gaming? Ja, aber ähnlich wie Flower alles andere als l'Art pour l'Art. Auch wenn die leisen Klänge fast für eine meditative Stimmung sorgen und man auf Dauer mehr Levelvarianten vermisst: Die Spannung ist immer greifbar, wenn man mit seiner Kugel durchs All schwebt. Es geht um die alte Geschichte von Fressen und Gefressen werden, um Aktion und Reaktion, um Wachsen und Schrumpfen. Nicht auf die schnelle, sondern auf die taktische Art, denn man spielt quasi Billard im Kosmos. Dieses Spiel ist entspannend und fordernd, arcadig und physikalisch, sphärisch und gefährlich - ein ebenso taktisches wie ansehnliches Erlebnis der Kräfte im Raum. Aufgrund der direkten Fingersteuerung inklusive herrlichem Zoom ist die Spielerfahrung auf dem iPad noch einen Tick intensiver als auf dem PC. Wer braucht irgendwelche Shooter oder Triple A-Umsetzungen? Genau diese kreativen Spiele veredeln das iPad! Daher besser spät als nie: Glückwunsch an das kanadische Team von Hemisphere Games.

Pro

klasse Spielidee
subtile Fingertipp-Strategie
entspannend und fordernd
 knackige Rätsel-Level
physikalische Auswirkungen
sehr elegantes Artdesign
intuitive & präzise Steuerung
cooles Zoomen, tolle Aussichten
taktische Zeitmanipulation
sechs Arcade-Spielmodi freischalten
 sphärischer Elektro-Soundtrack

Kontra

"Kampagne" ist recht kurz
nur eine Hand voll Spielvarianten

Wertung

iPhone

Ansehnlich und fordernd, meditativ und spannend: Das ist kosmisches Billard und Zen-Gaming vom Feinsten!

iPad

Dieses Spiel ist entspannend und fordernd, arcadig und physikalisch, sphärisch und gefährlich.

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