Pokémon GO21.07.2016, Jan Wöbbeking

Im Test: Das Massenphänomen unter der Lupe

Man kann sich dem Hype nur schwer entziehen: Wer momentan nicht selbst Pokémon GO spielt, wird schon hinlänglich Bekanntschaft mit durch die Straßen stolpernden Monsterjägern gemacht haben. Im Test untersuchen wir, was hinter der Faszination der Jagd in der realen Welt steckt. Siegt der Spaß am sozialen Spiel oder ersticken technische Fehler und überlastete Server ihn im Keim?

Runter vom Sofa!

Was für ein Drama: Direkt vor mir ploppt eine neue Spezies mit ebenso bizarrem Namen wie Aussehen auf die Karte: „Ultrigaria“ heißt das Pokémon, das mir eigentlich gleich ein bizarres neues Wesen in den Pokédex und 500 Bonus-Punkte verschaffen soll. Der Haken an der Sache ist mal wieder die Technik: Panisch hämmere ich auf das grüngelbe giftige Pflanzenviech-Etwas, aber das Fang-Minispiel will einfach nicht starten. Ausgerechnet jetzt, war ja klar. Ein paar Bildhänger und Fehlermeldungen später geht es doch noch los: Die ersten zwei Superbälle fliegen zwar durch einen Bug wie ein Curveball seitlich vorbei, im dritten Anlauf klappt es aber und ich schnappe mir das neue Biest. Na endlich! Wer die App schon einmal ausprobiert hat, wird beim Lesen dieser Zeilen vermutlich leidgeprüft nicken. Manchmal läuft die neue Monsterjagd im Freien einfach nur erstaunlich schlecht. Das liegt zum Teil natürlich an überlasteten Servern wegen des gewaltigen Ansturms – und daran, dass sich das Programm bei fast jeder Aktion erst einmal verbinden muss. Vor allem vormittags gibt es aber auch immer wieder Phasen, in denen die App erstaunlich gut läuft und man quasi spielen kann, wie es eigentlich gedacht war.

Ach wie putzig: Das unheimlich gelungene Design von Pikachu & Co. und eine Nostalgiewelle junger Erwachsener dürften das Massenphänomen momentan stark beflügeln.
Pokémon GO baut auf Googles Augmented-Reality-Spiel Ingress vom Entwickler Niantic Labs auf (zum Special). Es wird sogar zu großen Teilen vom gleichen Team entwickelt und reichert es mit Figuren und Regeln aus Nintendos beliebtem Sammel-Rollenspiel Pokémon an. Ähnlich wie in Ingress schreitet man also über eine Karte, die jener von Google Maps ähnelt. Hier und da fängt man in einem Minispielchen Pokémon, „erntet“ bei an Sehenswürdigkeiten gelegenen Pokéstops nützliche Hilfsmittel und liefert sich in Arenen Kämpfe, um sie für die eigene Mannschaft einzunehmen. Dabei spielen auch die typischen Stärken und Schwächen der Monstertypen eine Rolle. Ab Level 5 entscheidet man sich für eine der drei Team-Farben (am besten die vieler Freunde und Kollegen, um gemeinsam angreifen zu können). Nähere Details und Tipps zur Spielmechanik findet ihr übrigens in unserem Einsteiger-Guide.

Urbane Monsterjagd in der realen Welt

Die meiste Zeit über wandert man aber durch die Landschaft auf der Suche nach neuen Schützlingen. Sie tauchen vermehrt in der Nähe von Pokestops auf, die sich zusätzlich mit Lockmodulen ausstatten lassen. Dabei handelt es sich um Sehenswürdigkeiten, Gedenksteine, Graffiti und andere Objekte, die aus der Umgebung herausstechen und oft direkt aus Ingress übernommen wurden. Wer möchte, kann auch neue Orte fotografieren und bei den Entwicklern einreichen – die Bearbeitung dürfte momentan aber ziemlich viel Zeit in Anspruch nehmen. Diese Schnitzeljagd ist nach wie vor eine nette Art, seine Umgebung näher kennenzulernen. Plötzlich entdeckt man direkt um die Ecke urige Torbögen, alte Brunnen und andere Dinge, die einem vorher nie aufgefallen sind. Im Grünen finde sich übrigens eher Pflanzenpokémon, während in der Stadt z.B. eher Stein- oder Psycho-Exemplare wie Traumato auftauchen. An Seen und Flüssen sind es wiederum Wasser-Arten wie Enton, Goldini oder Quapsel – was auf unserer Tour am Hamburger Hafen aber seltsamerweise selten vorkam. Ländliche Gebiete sind leider klar benachteiligt: Dort finden sich meist viel weniger Pokéstops, die neue Tierchen anlocken könnten.

Taucht ein Pokémon in freier Wildbahn auf, zückt man je nach Stärke den passenden Pokéball, besänftigt es gegebenenfalls mit einer Himmihbeere und fängt es dann mit einem Fingerschnippser ein. Ein kleiner werdender Kreis und angeschnittene Curveballs sorgen für etwas mehr Herausforderung. Trotzdem wirkt das Minispiel reichlich simpel – gerade im Vergleich zur nötigen Taktik in anderen Pokémon-Titeln oder zum feinfühligen Präparieren im DS-Spiel Spectrobes mit seinen zahlreichen Werkzeugen.

Auf in die Arena!

Ähnlich wie die Fangsequenz bauen auch die Kampf-Minispiele deutlich weniger auf Taktik als klassische Pokémon-Titel. Auch hier spielt die Wahl passender Monster mit all ihren Stärken und Schwächen eine Rolle, allerdings deutlich weniger als früher. Nacheinander tritt man gegen all die vom Gegner eingesetzten Feindwesen an, um die Abwehr zu schwächen. Da die Kämpfe in Echtzeit ablaufen, wird dabei hektisch auf den Schirm gehämmert. Ein kurzer Tippser löst eine Standard-Attacke aus, welcher wiederum die Energie für Spezialangriffe auflädt. Sie lassen sich mit einem langen Tippser aktivieren; ein seitlicher Wischer startet eine Ausweichbewegung. Das war's schon – ganz und gar nicht üppig für ein Spiel, das sich zu einem erheblichen Teil um Kämpfe dreht. Im Gegensatz zu komplexeren Serienteilen werden zwei vorgegebene Attacken einfach zufällig an die Arten verteilt. Auch die Augmented-Reality-Spiele der Invizimals-Serie und vor allem Custom Robo Arena boten viel dynamischere und vielseitigere Echtzeit-Gefechte. Pokémon-Veteranen, die sich mit den speziellen Stärken und Schwächen ihrer Schützlinge auskennen, sind natürlich im Vorteil, da sie bei entsprechender Auswahl stärkeren Schaden anbringen. Das Verhältnis im Schere-Stein-Papier-Prinzip ist nach wie vor clever ausgetüftelt und bereichert auch hier das Spiel ein wenig.

Hat man eine Arena mit seinem Pokémon besetzt, kann man dort gegen seinen eigenen Schützling im Trainingskampf antreten. Jeder Spieler darf aber nur ein Monster pro Stützpunkt platzieren.
Wer Echtgeld für Erfahrungspunkte-Verdoppler ausgibt, kann leider beinahe doppelt so schnell hochleven (oder zumindest die technischen Stolpersteine der überlasteten Server ein wenig ausgleichen). Für meine Geschmack dauert es allgemein ein wenig zu lange, seine Taschenmonster mit viel Fleißarbeit aufzurüsten. Glücklicherweise sind dazu neben der Universalwährung Sternenstaub zusätzlich auf die Arten zugeschnittene Bobons nötig, die auch für die Weiterentwicklung eingesetzt werden. Wer beispielsweise einen Traumato in einen größeren Hypno verwandeln will, muss erst einmal zahlreiche Exemplare der Art fangen, um sie gegen Bonbons für die Weiterentwicklung einzutauschen.

Auch Kleinvieh macht Bonbons

Da auf einem höheren Spieler-Level auch die Stärke gewöhnlicher Kleinviecher mitlevelt, werden die Fänge im späteren Spielverlauf deutlich kniffliger bzw. kosten mehr Ressourcen. Das wird aber dadurch entschärft, dass man an Pokéstops eigentlich immer genügend Pokebälle und andere benötigte Utensilien erhält. Die Investition von Echtgeld kann die Chancengleichheit also nur in manchen Bereichen verzerren. Das „Ausbrüten" von Eiern sorgt für eine willkommene Extra-Motivation: Hat der Schrittzähler genügend Kilometer registriert, schlüpfen teils seltene Spezies wie Sichlor aus den Inkubatoren. Viel hängt auch von der Qualität und Geschwindigkeit der Internetverbindung ab – und welche Hardware im Handy steckt. Obwohl das Spiel bereits ab Android-Version 4.4 läuft, gibt es je nach verbautem Chip-System deutliche Unterschiede. Während die Minispiele auf meinem Nexus 4 bei guter Internet-Performance weitgehend flüssig laufen, hat Dieter mit seinem etwas schwächeren Huawei P7 mit kleinen Rucklern zu kämpfen. Letzteres bringt vor allem in Arena-Kämpfen Nachteile, weil man nicht so flüssig ausweichen kann. Im Gegenzug geht mir mit dem schwachen Akku aber viel schneller der Saft aus, so dass ich meist mit einem externen Akkupack in der Tasche herumlaufe.

Soziales Phänomen quer durch die Bevölkerung

Schade, dass sich die gefangenen Monster nicht mit Freunden tauschen lassen wie in nahezu jedem anderen Monstersammelspiel. Trotzdem ist die soziale Komponente der Ausflüge aber ein klares Highlight, das man auf diese Weise nirgendwo sonst erlebt. Allein wenn wir in der Mittagspause zum Dönerladen um die Ecke gehen, sammeln sich dort schon massenhaft Spielergrüppchen, mit denen man sofort ins Gespräch kommt und nach Herzenslust über die letzten Fänge, lustigen Zusammenstöße oder technischen Wehwehchen fachsimpeln kann. Eine derart große Teilnehmerzahl eröffnet natürlich Möglichkeiten, wie es sie im Videospielbereich bislang nicht gab. Besonders viel Spaß macht es, zusammen mit Freunden loszuziehen und Arenen zu überfallen. Da man mit vereinten Kräften den „Prestige-Level“ des Stützpunkts senkt, macht die Übernahme und die darauf folgende Sicherung umso mehr Spaß.

An "Pokestops" in der realen Welt lassen sich allerlei nützliche Ressourcen ernten.
Mit dem passenden Timing können sogar Fremde dazwischen spuken und einfach einen eigene Schützling in einen leeren Platz einsetzen. Ein Nachteil gegenüber Ingress ist, dass sich die Stützpunkte nicht mehr zu Dreiecken verbinden lassen, um noch stärkere Festungs-Verbünde aufzubauen. Auch das Drumherum wirkt hier karger: Während es bei Googles früherem Augmented-Reality-Spiel immerhin auf Youtube begleitende professionelle Story-Videos gab, wird hier nichts Vergleichbares zur Einstimmung geboten: Keine Geschichte, keine Zwischensequenzen – und sogar der Charakter-Editor des generisch designten Monsterjägers fällt sehr karg aus. Auch Invizimals verstand es viel besser, den Spieler gleich zu Beginn mit toll inszenierten Videoübertragungen aufs Spiel vorzubereiten. Dort konnte man allerdings nur ohne GPS-Unterstützung auf die Jagd gehen. A propos GPS: Einige Cheater sind bereits seit geraumer Zeit mit manipulierten GPS-Daten unterwegs, was natürlich manch einem den Spaß vermiesen kann und von den Entwicklern bisher offenbar kaum geahndet wird. Meist traf ich bisher aber auf ehrlich spielende Gegner, die auch persönlich zu sehen waren.

Selbst ist der Jäger

Ein weiteres Versäumnis ist der Mangel an Infos und Tutorials: Wichtige Grundlagen wie das Abholen von Münzen im Shop werden gar nicht erst erklärt. Vielleicht steckt auch ein wenig Absicht dahinter: Die Diskussion über Tricks und Kniffe unter Freunden ist schließlich auch ein wichtiger Motivationsfaktor. Leider zählen dazu auch Tricks, wie man am besten all die technischen Mankos umgeht. Immer wieder kommt es neben hängenden Menüs auch zu Abstürzen. Sogar beim Fangen seltener Monster friert gelegentlich das Bild ein – oder der Pokeball verzieht seltsam zur Seite, was einige Ressourcen kosten kann.

Fazit

So sehr mir der Wust an technischen Fehlern und die chronisch überlasteten Server auch auf die Nerven gingen: Irgendwie hat Pokémon GO es immer wieder geschafft, meinen Sammeltrieb zu wecken und mich doch wieder zum Weiterspielen zu motivieren. Die Minispiele beim Fangen und in den Kämpfen sind im Vergleich zu klassischen Pokémon-Titeln oder Spectrobes leider reichlich simpel gestrickt. Außerdem baut das Spiel insgesamt zu sehr auf langwierige Fleißarbeit. Und doch ist es eine faszinierende Art, seine Umgebung und andere Mitspieler kennenzulernen. Danach nimmt man mit vereinten Kräften ein paar Arenen ein oder diskutiert über die neuesten Funde, Kniffe beim Leveln und lustige Momente unterwegs. Vermutlich liegt es am Reiz des Neuen – weil noch kein anderes Spiel ein Erlebnis in dieser Form bieten konnte. Fast so, als hätte man gerade Radfahren gelernt und den alten Drahtesel der Schwester geschenkt bekommen: Er ist rostig, sieht peinlich aus, das Vorderrad eiert und das Treten ist dank kaputter Gangschaltung schrecklich mühsam – und doch macht es Spaß, auf diese neue Weise die Welt zu erkunden. Bleibt also zu hoffen, dass Nintendo oder jemand anderes die aus Ingress und Pokémon entliehenen Konzepte weiter ausbaut und ein richtig cooles, komplexeres und sauber laufendes Spiel daraus bastelt. Potenzial ist definitiv vorhanden!

Pro

faszinierende Erforschung der realen Umgebung
viel soziale Interaktion mit unbekannten Spielern
gemeinsame Angriffe motivieren und werden belohnt
bewährtes, unheimlich knuffiges Design der Biester
ausgetüfteltes Kräfteverhältnis zwischen den Monstertypen
häufige Arena-Wechsel bringen auch Anfänger dazu, mitzukämpfen
man entdeckt viele interessante Plätze und Sehenswürdigkeiten
Einreichen eigener Orte und Lockmodule motivieren zusätzlich
gelungene Spiel-Einbindung von Fitness-Funktionen

Kontra

Unmengen technischer Fehler
ständige Abstürze
überlastete Server sorgen für quälend lange Wartezeiten
umständliche, hakelige Menüs
simpel gehaltene Kampf
und Fang-Minispiele
keine ausführliche Story-Einbettung wie in Invizimals oder Pokémon
zahlende Spieler können fast doppelt so schnell leveln
Pokémon lassen sich noch nicht tauschen
wichtige Mechaniken und Feinheiten der Bedienung werden nicht erklärt
dünn besiedelte Gegenden sind klar im Nachteil
Monster nur sehr einfach animiert
GPS-Manipulation ermöglicht leichtes Cheaten
karger Charakter-Editor
kitschiger Soundtrack

Wertung

iPhone

Faszinierend sozialer Mix aus Schnitzeljagd im Freien und einfachen Monsterkämpfen - der aber stark unter zu schlichten Minispielen, überlasteten Servern und Unmengen technischer Probleme leidet.

Android

Faszinierend sozialer Mix aus Schnitzeljagd im Freien und einfachen Monsterkämpfen - der aber stark unter zu schlichten Minispielen, überlasteten Servern und Unmengen technischer Probleme leidet.

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