Call of Juarez: Gunslinger24.05.2013, Mathias Oertel
Call of Juarez: Gunslinger

Im Test:

Billy the Kid, Butch Cassidy and the Sundance Kid, Jesse James, die Dalton Brüder: Ubisoft versammelt in Call of Juarez Gunslinger nahezu alles, was im Wilden Westen als Revolverheld oder Gangster zu zweifelhaftem Ruhm gekommen ist. Und mittendrin steckt Silas Greaves, ein abgehalfterter Kopfgeldjäger, der seine ganz eigene Sicht auf die Geschehnisse hat. Actionreiche Räuberpistole oder langweiliges Geballer?

Groschenroman-Held mit Sinn für Humor

Die glorreiche Zeit des Wilden Westens ist Anfang des 20. Jahrhunderts beinahe schon vorüber. Revolverhelden wie Pat Garrett, Wyatt Earp oder der Kopfgeldjäger Silas Greaves werden in Groschenromanen zu Ikonen stilisiert. Doch wie viel Wahrheit steckt in den Schundbüchern? Das finden die Gäste eines Saloons schnell heraus, nachdem Greaves dort Station macht, erkannt und von einem der Anwesenden gefragt wird, ob er ein bisschen aus seiner Vergangenheit erzählen könne. Silas lässt sich nicht lange bitten: Die Stimmbänder geschmiert durch Bier und Whisky erzählt er, wie er zu seinem zweifelhaften Beruf als Kopfgeldjäger kam und wen er dabei kennen gelernt (oder getötet) hat. Es ist kaum zu glauben, mit wem sich seine Wege oder Pistolen gekreuzt haben: Er ist mit Billy the Kid geritten, hat die Daltons gejagt und Jesse James sowie sein jüngerer Bruder Frank gehören ebenfalls zu seinen Bekanntschaften.

All diese Westernhelden erzählerisch unter einen Hut zu bringen, ist ein gewagtes Unterfangen. Wenn man sich an die historisch verbürgten Ereignisse hält, ist dies geradezu unmöglich und kann eigentlich nur nach hinten losgehen. Doch was, wenn Silas Greaves als Zeitzeuge die Dinge anders erlebt hat, als sie überliefert wurden? Was, wenn z.B. Butch Cassidy und Sundance Kid nicht, wie man es auch aus dem grandiosen Film mit Paul Newman und Robert Redford kennt, in Bolivien erschossen wurden, sondern ihre Saga ein ganz anderes Ende nimmt, in das man spielerisch eingreift? Selbst scheinbare Widersprüche oder Lücken in seiner Erzählung, auf die er von seinen Zuhörern hingewiesen wird, wischt Greaves ebenso nonchalant beiseite wie manche Kugeln, denen er mit einem siebten Sinn ausweichen kann. Wer auf Wahrheit besteht, kann über 50 Erinnerungsstücke finden, die jeweils einen Eintrag im Archiv freischalten und in denen die Tatsachen auf den Tisch kommen - obwohl: Ein gewisser Ray McCall aus dem ersten Call of Juarez ist dort auch zu finden...

Nichts ist, wie es scheint

Die Duelle sind dank interessanter Mechanik hoch spannend.
Die Duelle sind dank interessanter Mechanik hoch spannend.
Diese Art der Erzählung bzw. Inszenierung ist eine grenzgeniale Idee und wird von Techland sehr gut umgesetzt, so dass die stringenten Ballereien immer wieder durch überraschende, häufig zum Schmunzeln anregende Momente aufgewertet werden. Denn je nachdem, wie seine Zuhörer auf seine Räuberpistolen reagieren, verändert der alternde Kopfgeldjäger seine Geschichte. Und damit ändern sich auch der Abschnitt, die Gegner und mitunter sogar der Ausgang des Kapitels. Dies wirkt aber niemals überzogen oder unglaubwürdig. Das Zusammenspiel zwischen Erzählebene, den Zweifeln der Hörerschaft, den Anpassungen von Silas sowie den Auswirkungen auf das Erlebnis sind mitunter sehr subtil und ließen mir immer wieder die Frage in den Kopf schießen, ob ich nun die Spielwelt beeinflusse oder die Spielwelt mich.

Wenn Silas "Ich suchte nach einem Ausweg" sagt und ich mich daraufhin umdrehe und sich vor mir ein neuer Gang öffnet oder ich höre, dass die Dächer des nächsten Häuserblocks ein ideales Versteck für Gegner wären, komme ich gar nicht umhin, als kurz nach oben zu schauen. Das wechselseitige Spiel von Gunslinger und mir ist erschreckend intensiv: Die Erzählung beeinflusst das Geschehen und meine Reaktion, das Geschehen und meine Reaktion die Erzählung. Natürlich ist dies nur eine Illusion. Abgesehen von ein paar Geheimnissen, die man rechts und links finden kann, ist die 14 Abschnitte umfassende und Erinnerungen an LucasArts' Outlaws heraufbeschwörende Action so linear wie die Schienen, auf denen die Minenloren stehen.

Was nicht passt, wird passend gemacht

Diese Idee ist aus einer weiteren Perspektive unheimlich clever: Techland kann seine Fantasie spielen lassen, muss nicht auf Kontinuität achten, kann logische Zusammenhänge vernachlässigen und kommt sogar mit schwacher KI durch. Wenn Greaves von Dutzenden Indianern erzählt, die auf ihn zustürmen und man diese in Zeitlupe einen nach dem anderen ausschaltet, fragt man nicht mehr danach, wieso sie sich keinen besseren Plan zurechtgelegt haben oder effektiver zusammenarbeiten.

Die Action ist trotz herkömmlicher Mechanik unterhaltsam.
Die Action ist trotz herkömmlicher Mechanik unterhaltsam.
Man ballert, was die Revolver, das Gewehr oder die Schrotflinte an Blei hergeben, wirft wie wild mit Dynamit um sich und freut sich, wenn der Kombozähler nach oben schnellt. Nur um dann festzustellen, dass die ganze Mühe quasi umsonst war, weil Silas nicht meinte, dass man gegen Dutzende Indianer kämpfte, sondern dass sich die Gang, die er jagte, sich Versteck-Techniken der Indianer zu Nutzen machte – woraufhin man wieder vor die Grotte gesetzt wird, in der die Indianer warteten und man nun mit neuen Gegebenheiten und Gegnern konfrontiert wird. Dadurch wird die lineare Action immer wieder von angenehmen Überraschungen aufgewertet, die mich geradezu ans Pad gekettet haben, bis ich nach ca. sieben bis acht Stunden am Ende von Silas Greaves' Geschichte ankam.

Hier wird mitten im Abschnitt der Sumpf mit dumpfen Nebelschwaden gefüllt, weil der Kopfgeldjäger veranschaulichen will, wie gut seine Fähigkeiten als Fährtensucher sind. Auf einer mit Sprengstoff versehenen Brücke wird Cliffhanger an Cliffhanger aneinandergereiht, die durch einen plötzlich aus dem Nichts materialisierenden Weg gekontert werden. Und selbst der Tod wird auf die Schippe genommen, wenn Silas am Ende eines Minengangs das Zeitliche segnet, man den "Game Over"-Bildschirm zu sehen bekommt, er aber nur lapidar so etwas wie "Glücklicherweise musste ich nicht durch die Mine" meint und man nun auf einer vorher noch nicht sichtbaren Leiter einen anderen Weg nehmen kann.  Und während Silas nach seinen zig Bieren die Toilette aufsucht und sich die anderen Saloon-Gäste über ihn unterhalten, läuft man immer wieder in einer Schleife durch den gleichen Waggon, bis mit der Rückkehr des Pistoleros die nächste Tür wieder zu Gegnern führt. Das alles passiert mit einer zielsicheren Selbstironie und in den Gesprächen von Silas mit seinem Zuhörern mit einem sarkastischen Augenzwinkern, das es in dieser Form in der modernen Action viel zu selten gibt. Und damit habe ich mich wechselweise sowohl als Teil der Geschichte gefühlt als auch als derjenige, der die Geschichte beeinflusst. Wie viel die Atmosphäre ausmacht, stellt man fest, wenn man sich an den zwei alternativen Spielmodi versucht: Sowohl der Arcade-Modus, bei dem man auf zeitgetriebene Punktejagd geht als auch die Duelle können ohne den erzählerischen Hintergrund als Triebfeder nur wenig Reiz entfachen.

Schundroman-Kulisse

Man kann seine Fähigkeiten in drei Bereichen aufwerten.
Man kann seine Fähigkeiten in insgesamt drei Bereichen (hier: Fokus auf Pistolen) aufwerten.
Die Groschen- oder Pulp-Druckwerke werden thematisch auch von der Kulisse aufgegriffen: Techland verfolgt mit der Verwendung der hauseigenen Chrome Engine 5 hinsichtlich Landschafts- und Figurendesign generell eine realistische Ausrichtung. Durch einen angedeuteten Cel-Shading-Stil und mitunter gut eingesetzte farbdämpfende Filter bekommt der Abstecher in den Wilden Westen jedoch einen deutlichen Comic-Anstrich. Der wird zusätzlich durch die gezeichneten Zwischensequenz-Standbilder betont, die maximal mit kleinen Ebenenverschiebungen oder Zoom-Effekten animiert werden. Der gute Eindruck, den die Kulisse hinterlässt, wird allerdings  von ein paar Kleinigkeiten geschmälert. Am deutlichsten fallen einem die Clipping-Fehler ins Auge, wenn getötete Feinde teilweise mit der Umgebung verschmelzen, anstatt der Schwerkraft folgend zu Boden zu gehen. Probleme, die hauptsächlich die Konsolenversion betreffen, sind Rollschatten, kleinere Pop-Ups sowie das sporadische Textur-Ploppen. Die Bildrate wird allerdings durch nichts beeinflusst und bleibt überall stabil.

Und spätestens wenn der nächste von Silas geknurrte Satz (er erinnert mich immer wieder an eine sarkastische Interpretation von Clint Eastwoods Will Munny aus Erbarmungslos) mich wieder in die Gunslinger-Welt gezogen zieht, sind mir die visuellen Mankos egal:

Die Abschnitte sind zwar streng linear, Western-Stimmung kommt dennoch nicht zu kurz.
Die Abschnitte sind zwar streng linear, Western-Stimmung kommt dennoch nicht zu kurz.
Ich will weiter. Weiter die alternative Wildwest-Geschichte erleben. Großen Anteil daran hat auch die Musik. Teilweise im Stil klassischer Spaghetti-Western, dann wieder mit modernen Rhythmen, Rock- und Pop-Einschlägen, stört mich an dem Soundtrack nur, dass er nicht dynamisch auf das Geschehen reagiert.

Solide Ballereien, coole Duelle

Angesichts der hohen Atmosphäre und der passenden Kulisse ist es schade, dass die Action per se nicht mehr als durchschnittliche Arcade-Schießereien bietet. Nicht falsch verstehen: Die Waffen aus drei Kategorien (Schrotflinte, Gewehr, Revolver) fühlen (und hören) sich gut an und machen mächtig Schaden. Der Kombo-Zähler, der für jeden erledigten Gegner hochschnellt, sorgt zusammen mit den Punkteboni für Kopfschüsse, Umgebungskills, Distanztreffer usw. immer wieder für die Gewissensfrage. Geht man in zusätzliches Risiko, um die Kombo am Laufen zu halten oder zieht man sich doch lieber zurück und heilt sich aus? Je höher die Punkte am Ende ausfallen, umso schneller wächst die Erfahrungsleiste, die einem beim Aufstieg in die nächste Stufe die Möglichkeit gibt, sich in einem von drei Zweigen zu entwickeln. So kann man z.B. schnell nicht nur einen Colt bedienen, sondern sich mit zwei Knarren durch den Westen ballern - wahlweise auch im Akimbo-Stil, bei dem man das Schießen jedes Revolvers separat steuert. Schnelleres Nachladen, Verlängerungen von Fokus-Dauer (Zeitlupe sowie Markierung der Gegner) oder automatische Kopfschüsse kann man ebenfalls erlernen. Sogar neue durchschlagskräftigere Waffen kann man auf diesem Wege bekommen.

In bestimmten Momenten kann man sogar tödlichem Beschuss ausweichen.
In bestimmten Momenten kann man sogar tödlichem Beschuss ausweichen.
Durch ein Wechselbad der Gefühle hetzen mich die Bosskämpfe, die in zwei Kategorien fallen: Die "Standard-Auseinandersetzungen", bei denen man den Endgegner konventionell beharkt, bis er das Zeitliche segnet, werden unnötig in die Länge gezogen und sind mitunter langweilig. Einmal konnte ich aus meiner Deckung hinter einem Stein unentwegt Dynamit auf ihn werfen, bis er aufgab - ich musste zwar ab und an zu einer Kiste und zurück sprinten, um Sprengstoff-Nachschub zu arrangieren, aber das war es auch schon. Hier wäre definitiv mehr drin gewesen. Gleiches gilt für die Sequenzen, in denen man mit einer Gatling Gun gefühlte Hundertschaften ausradiert. Anfänglich fühlt man sich noch mächtig, bald jedoch schon unterfordert. Immerhin kann Gunslinger mit seinen Duellen punkten, die natürlich nicht fehlen dürfen  - man kann sogar einen "Mexican Stand-Off" erleben, bei dem sich drei Duellanten gegenseitig beäugen. Während man einerseits versuchen muss, den (oder die) Gegner in den Fokus zu nehmen muss die rechte Hand immer wieder justiert werden, damit man im richtigen Moment so schnell wie möglich ziehen kann. Je höher die Werte in der hochspannenden Duell-Vorbereitung gepusht werden können, umso höher sind die Siegchancen - wobei man durch Geschick und etwas Glück auch einen gewissen Malus ausgleichen kann.

Fazit

Nach dem unsäglichen Neowestern The Cartel kehrt Techland mit Gunslinger zu den Wildwest-Wurzeln von Call of Juarez zurück - und das zum größten Teil erfolgreich. Mit seinem Arcade-Ansatz samt Kombo-System, Erfahrungspunkten sowie Fähigkeitenaufstieg unterscheidet es sich angenehm vom Baller-Einerlei, mit dem es allerdings Schwächen in der Mechanik wie schonungslos lineare Abschnitte teilt. Doch das war mir sehr schnell ebenso egal wie die langweiligen Standard-Bosskämpfe oder die reizlosen Gatling-Sequenzen. Denn die erzählerische Kreativität, mit der Silas Greaves seine tollkühne Story spinnt und die sich daraus ergebende Wechselwirkung zwischen dem Einfluss der Spielwelt auf mich und meinen Aktionen auf die Spielwelt haben dafür gesorgt, dass ich erst aufhören konnte, als der Abspann über den Bildschirm lief. Selbstironisch, süffisant, immer wieder überraschend und gekonnt mit bekannten Mythen und Figuren von Billy the Kid bis Butch Cassidy spielend, erreicht Gunslinger zwar unter dem Strich nicht die Klasse von z.B. Rockstars Western Epos Red Dead Redemption. Doch mit seinem Ansatz irgendwo zwischen dessen Arcade-Vorgänger Red Dead Revolver und LucasArts' Outlaws habe ich gut sechs bis acht unterhaltsame Stunden mit brachialen Gefechten sowie hoch spannenden Duellen erlebt.

Pro

kurzweilige Arcade-Ballerei
gut designte Abschnitte...
fantastische englische Sprecher
großartige Musik...
tolle Geschichte
interessanter Comic-Stil
coole Inszenierung
nette dramaturgische Ideen
spannende Duelle

Kontra

Grafikfehler (Clipping, Pop-Ups, Rollschatten), v.a. auf Konsolen
... die aber dennoch komplett linear bleiben
Gatling-Sequenzen bar jeglicher Spannung
... die allerdings nicht dynamisch variiert
unspektakuläre Standard-Gefechte bei einigen Bossen

Wertung

360

Amerikanische Wildwest-Geschichte mal anders: Silas Greaves' Abenteuer ist mechanisch zwar meist konventionell, doch die Arcade-Ballerei überzeugt hinsichtlich Erzählung und Inszenierung auf ganzer Linie.

PlayStation3

Mechanisch ist der etwas andere Blick auf Billy the Kid & Co zwar meist bieder, doch die Story sowie die fantasievolle Inszenierung machen dies mehr als wett.

PC

Arcade-Ballerei mit Wildwest-Flair, deren Mechanik zwar meist konventionell bleibt, die aber hinsichtlich Erzählung und Inszenierung punkten kann.

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