Amnesia: The Dark Descent17.09.2010, Jörg Luibl
Amnesia: The Dark Descent

Im Test:

Wenn man sich hilflos fühlt, ist die Angst am Größten - vor allem im Dunkeln. In der Spielewelt wird man zwar oft in ausweglose Situationen voller Düsternis gebracht, aber meist bekommt man tödliche Argumente in die Hand, um die Gefahr nieder zu ballern oder weg zu metzeln. Kann ein Abenteuer Spaß machen, in dem man eher flüchten statt angreifen, sich eher clever verstecken als genau zielen muss?

Daniel sucht sich selbst

In diesen düsteren Gemäuern beginnt das stimmungsvolle Abenteuer.
Wo zur Hölle bin ich? Wer bin ich? Ich kann mich nicht orientieren, meine Sicht schwankt und dann meldet sich wie aus weiter Ferne eine Stimme in meinem Kopf: Ich bin also Daniel, komme aus London, soll bloß "nicht vergessen" und vor "dem Schatten" fliehen. Noch kann ich nichts mit diesen seltsamen Mahnungen anfangen, aber so langsam melden sich meine Sinne wieder, ich erkenne eine Rüstung, höre Regen, schaue mich mit der Maus um - ich muss in einer Burg sein.

Moment: Rieseln da Rosen von der Decke? Oder ist es Blut? Es donnert Unheil verkündend außerhalb der dicken Mauern, der Regen prasselt unaufhörlich auf ein scheinbar undichtes Dach - eine Pfütze bildet sich vor meinen Füßen, als ich mich auf den Weg durch einen düsteren Korridor mache, der von aschfahlen Lichtstreifen gestreichelt wird. In meinen Notizen raschelt es, ich öffne sie über Tab und finde einen ersten Hinweis: "Folge der Spur der Flüssigkeit und finde ihre Quelle."

Verstörender Einstieg

Es geht nicht nur im Schloss, sondern auch unterirdisch um das nackte Überleben im Dunkeln.
Der Einstieg in das Horror-Adventure ist ebenso klassisch wie gelungen: Schon in den ersten Minuten wird man Teil einer schaurigen Atmosphäre, die zunächst von der Orientierungslosigkeit des verwirrten Helden und der ebenso barock wie verfallen wirkenden Kulisse lebt - man ist neugierig, aufmerksam und angespannt. Obwohl die einzelne Textur nur mittelprächtig aussieht, sorgt das große Ganze aus Interieur, Architektur und vor allem Akustik dafür, dass man sich mit jedem Schritt dem lebendigen Grauen öffnet, das in vielen Situationen wie eine Klaue zugreift. Man merkt der Regie an, dass sie jede Szene im Griff haben wollte.

Plötzlich pfeift der Wind schärfer durch die mittelalterlich anmutenden Flure. Eine schwere Holztür öffnet sich am Ende des Ganges mit einem Knarzen, Staub wird aufgewirbelt. Kommt da jemand? Waren da nicht Schritte zu hören? Ich wollte eigentlich nur schnell der Spur folgen. Jetzt bleibe ich stehen, denn ich könnte den Raum ja erforschen, in dem ein gemütliches Feuer knistert. Soll ich? Aber es wird dunkel, meine Sicht verzerrt sich und ich neige das Gesicht zur Seite, als hätte ich Schmerzen - hat mir da jemand in der Finsternis etwas Boshaftes zugeflüstert? Dann höre ich auch noch Schreie.

       

Es werde Licht

In dieser Finsternis wird der Held schnell wahnsinnig - er muss für Licht sorgen.
Ich kann bei jedem der nächsten Schritte nicht nur meinen schweren Atem, sondern meine eigene Angst im verzweifelten Hecheln des Helden hören. Es ist so, als würde mein Verstand mit jeder Sekunde in der Dunkelheit aufgefressen, bis ich nur noch wie eine schwankende Marionette vorwärts torkeln kann! Was ist hier los? Ist das der Schatten, vor dem ich mich in Acht nehmen soll? Erst als ich mit einer Zunderbüchse einen Kandelaber entzünde und der Raum in warmem Licht erstrahlt, kann ich mich regenerieren. Die Dunkelheit ist im wahrsten Sinne des Wortes mein Feind, ich husche von Lichtquelle zu Lichtquelle und muss mir bei Bedarf selbst welche schaffen. Ein Blick ins Inventar zeigt dann einen "glasklaren" Geisteszustand - das sollte beruhigen, tut es aber nicht.

Spätestens als ich einen Brief finde, der mit "Dein früheres Ich" unterzeichnet ist, wird auch die erzählerische Neugier geweckt und die Qualität der durchweg Texte offenbar: Endlich weiß ich, dass man das Jahr 1839 schreibt und dass ich scheinbar schon mal in diesem Schloss war, das irgendwo in Preußen liegen muss. Aber das beruhigt mich nicht gerade: In meinem Brief an mich ist nämlich davon die Rede, dass ich einen Alexander von Brennenburg finden und töten soll, dass ich aber gleichzeitig dem Schatten entfliehen muss. Was zur Hölle ist hier los? Und wie soll ich in diesem Alptraum jemanden töten?

Ego-Horror

Allerdings sieht man dann nicht immer das, was den wackligen Verstand auf Vordermann bringt.
Amnesia zieht alle Register des klassischen Schauerromans, um mich in seine düstere Welt zu locken - Dunkelheit, Unwetter, innere Monologe, seltsame Briefe und verstörende Erscheinungen. Und diese Köder schlucke ich nur allzu bereitwillig, weil Story und Spieldesign weit über das gewöhnliche Grusel-Adventure hinaus gehen. Ich spaziere nicht mit Hotspotanzeige durch statische Abschnitte, um mit Figuren vorgegebene Dialogzeilen runter zu quatschen, sondern werde mit allen Sinnen zum Beobachten und Erkunden einer dreidimensionalen Umgebung animiert, die grausige Geheimnisse birgt. Hier wird kein Ego-Shooter, sondern Ego-Horror inszeniert, bei dem ich laufen, rennen, springen und mich ducken, aber nicht metzeln kann. Und das ist gut so, denn erst ohne die Sicherheit von Blei und Schrot kann sich die Angst anschleichen.

Auch wenn Edgar Alan Poe in einigen Situationen des Wahnsinns sowie in den erzählerischen Motiven hier und da grüßen lässt, schreit zwischendurch auch mal Clive Barker rein. Denn zum gepflegten Grusel gesellt sich bald der Terror: Je weiter ich in das Abenteuer abtauche, desto mehr grausige Entdeckungen von Leichenteilen über Folter bis hin zu blutigen Erfahrungen muss ich machen - Daniel wird tatsächlich verfolgt und ist nicht nur geistig, sondern auch körperlich in Gefahr, wenn er wie aus dem Nichts von einem undefinierbaren Etwas attackiert wird. Ich kann nicht nur irre werden, sondern bluten und sterben, wenn ich nicht rechtzeitig fliehe und mich clever verstecke. Aber keine Bange: Man muss weder lange Laufwege noch Wiederholungen fürchten, denn Daniel kann sofort weiter machen - allerdings verändert sich mit jedem Tod die Umgebung.

Die grausame Fratze

Spannend: Man darf den Kreaturen nicht ins Auge sehen, muss schnell flüchten oder sich verstecken.
Hier zeigt das Spieldesign abseits der schaurigen Erkundung bei knarzenden Dielen und dem Stöbern zwischen Notizen, Tagebuch und Mementos seine grausame Fratze: Ich muss so schnell wie möglich weg, wenn ich einen Schlag im Nacken verspüre, dann einen oder mehrere schief torkelnde Schatten am Ende des Flurs sehe; die Finger pressen sich dann auf Shift und W, jede sauber geöffnete Tür fühlt sich dann an wie ein gelungener Headshot und ich hocke mit pochendem Herzen irgendwo in einem Schrank! Denn all die Halluzinationen verwandeln sich manchmal in greifbare Monster - gut, dass mir die Physik auch das Verbarrikadieren erlaubt, das man mit feuchten Fingern per Mausklick organisiert. Denn Sichtkontakt ist in diesen Hetzsituationen ebenso gefährlich wie Licht: Ich darf nicht zu lange auf diese Kreatur starren, sonst breche ich vor Angst zusammen - sehr unheimlich!

Nicht nur das sind klasse Ideen, die auch einem Alan Wake gut zu Gesicht gestanden hätten, das im Vergleich zu Amnesia wie Horror zweiter Klasse wirkt. Hinzu kommen immer wieder klasse inszenierte Wahrnehmungsstörungen, die das Gefühl der Hilflosigkeit nicht nur über Kameraschwenks verstärken: Plötzlich laufen Käfer über den Bildschirm und die Sicht verschwimmt, plötzlich hört man glasklar unheimliche Stimmen neben sich, obwohl da nichts ist - all das erinnert angenehm an Eternal Darkness, das auf exzellente Art und Weise mit visuellen Verstörungen arbeitetet. 

Abwechslungsreiche, aber wenige Rätsel

Neben verstörenden Halluzinationen gibt es auch klassische Rätsel.
Im Gegensatz zur verstörenden Inszenierung bleibt man ansonsten klassischen Tugenden des Sammelns und Rätselns treu, denn ich muss zum einen in vielen Schubladen, Schränken und Regalen aktiv nach Zunderbüchsen oder Öl für meine Laterne Ausschau halten, indem ich sie per Maus aufziehe - einfach anvisieren und den Nager nach hinten ziehen. Zum anderen gilt es einige Aufgaben zu lösen, um den Weg durch das Schloss frei machen, in dem blutrote Organismen für Sackgassen sorgen. Wie kann ich diese ekelhaften Schleimnetze wohl auflösen? Muss ich vielleicht ins Labor oder erst ins Archiv?

In einigen Räumen warten Rätsel. Mal muss ich aus Zutaten einen Trank herstellen, mal muss ich gegen die Zeit versteckte Schalter aktivieren, bestimmte Schlüssel finden und ganz selten Gegenstände wie Seil und Besen kombinieren. Das Inventar füllt sich nur langsam und die etwas spärlich gesäten Rätsel verlangen kaum kombinatorische Kreativität. Dafür werden sie physikalisch glaubwürdig in die Welt des verwitterten Schlosses eingebunden, wenn man sich etwa eine Treppe aus Kisten oder Brettern bauen, ein Hindernis aus Schutt vielleicht Stein für Stein verschieben oder eine brüchige Wand per wuchtigem Schlag mit einem Helm aufbrechen muss.

Licht und Schatten

Allerdings hätte die Physik konsequenter sein und die Aufgaben etwas mehr Vielfalt vertragen können.
Obwohl das Licht und die Physik eine große Rolle spielen, werden sie allerdings nicht konsequent eingesetzt: Ein Besen brennt nicht, obwohl man ihn in den Ofen steckt; manche Regale und Gläser trotzen selbst schwerem Bewurf; dicke Kakerlaken lassen sich mit einer Kiste nicht zerquetschen und man begegnet trotz liebevoll ausgestalteter Räume immer wieder gleichen oder starren Objekten, kann in keinem der tausend Buchstaffagen lesen oder mal einen der schweren Vorhänge bei Seite ziehen - ab und zu hätte dem Spiel etwas mehr Interaktion gut getan, auch wenn sie letztlich belanglos wäre.

So hat man immer eine Fixierung auf leicht blau schimmernde Zunderbüchsen und Notizen bei der Erkundung. Interessanter als diese etwas monotone Sammelei wird mit der Zeit die Story, die nicht nur einige Personen rund um den mysteriösen Alexander aufbaut und Andeutungen zu einem Geheimbund macht, sondern auch koloniale Schauplätze wie Algerien und afrikanische Kulte mit einbezieht. Das geschieht manchmal über sehr gute gesprochene Rückblicke in englischer oder in sehr gut geschriebenen Texten deutscher Sprache. So erschafft die Story trotz fehlender Dialoge mit echten Personen ein ebenso authentisch wie mysteriös wirkendes Szenario im 19. Jahrhundert.

  

Fazit

Glückwunsch nach Schweden: Dieses kleine Abenteuer für 15 Euro ist intensiver, schauriger und unheimlicher als Alan Wake! Wer eine Mischung aus gepflegtem Grusel à la Edgar Alan Poe und grausigem Terror à la Clive Barker sucht, findet in den Gemäuern des preußischen Schlosses über knapp sechs bis acht Stunden seine Gänsehautgarantie mit mysteriöser Story. Zwar sind Gedächtnisverlust, Lichtspiele und Spukschlösser wahrlich nichts Neues, aber schon im Einstieg wird man von der Regie gepackt, die subtile Schockmomente ebenso gut zu inszenieren weiß wie blanken Terror, der einen auf der Flucht durch düstere Korridore verfolgt. Dieser Survival-Horror kommt ohne Waffen, ohne Level und martialische Fähigkeiten aus, aber hält all dem intensive Momente und verstörende Halluzinationen à la Eternal Darkness entgegen. Zwar fehlt es den Rätseln auf lange Sicht an Anspruch und Vielfalt und der solide eingebundenen Physik an Konsequenz, aber hier bekommt man sehr guten Grusel für sehr wenig Geld. Was könnte das kreative Team von Frictional Games leisten, wenn man ihnen mehr technische und finanzielle Möglichkeiten bieten würde? Sicher mehr als Bill Roper, Chris Taylor & Co!

Pro

klasse Atmosphäre
angenehm intuitive Steuerung
gut visualisierte Geisteszustände
subtile Schreckmomente & grausiger Horror
interessante Schauergeschichte im 19. Jahrhundert
logische & physikalische Rätsel
gute englische Sprecher
gute deutsche Texte in Notizen & Co
drei mögliche Enden

Kontra

zu wenig anspruchsvolle Rätsel
Physik wird inkonsequent eingesetzt- etwas monotone Zunderbüchsensuche
Gedächtnisverlust Nr. 6578

Wertung

PC

Viel Grusel für wenig Geld: Amnesia bietet Gänsehautgarantie im Eternal Darkness-Stil!

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