Im Test: Aufstieg der tausend Tode
Gerade mal vier Monate sind seit der hitzigen Diskussion um den Schwierigkeitsgrad von
Cuphead vergangen – und schon gibt es mit Celeste (
ab 19,98€ bei kaufen) einen weiteren Retro-Titel, der manch einen an den Rand der Verzweiflung bringen dürfte. Auch Heldin Madeline muss über sich hinauswachsen, um nicht Opfer von Panikattacken oder Selbstsabotage zu werden. Ein erhebender Aufstieg?
Klatsch, tot. Klatsch, tot. Hüpf, kletter, hüpf, klatsch, tot. Fans von Super Meat Boy kennen das Prozedere, das den Spieler auch in Celeste binnen Sekunden mehr fluchen lässt als den kompletten Rest des Jahres. Eines wird hier mehr als deutlich: Lead-Entwickler Matt Thornson besitzt eine gewaltige Vorliebe für Stacheln, die den Spieler auf Anhieb ins Jenseits befördern. Ganz ohne Energieherzchen oder ähnlich weichgespülten Krempel, Gott bewahre! Weiße Stacheln, krumme Stacheln, extrafies platzierte Stacheln, Stachelhecken. Und sogar Exemplare, die immer dort aus dem Boden wachsen, wo man gerade noch über sicheren Untergrund lief – jetzt bloß nicht umdrehen! Hat der Daumen doch noch in die falsche Richtung gezuckt, darf man aber sofort wieder am Anfang der Kammer einsteigen, um es so oft wie nötig erneut zu versuchen. Tief durchatmen!
Wusch: Der "Sprint" bugsiert die Heldin mit Schwung durch die Luft.
Die Ausgangslage des klassischen Jump-n-Runs ist einfach: Protagonistin Madeline findet sich zu Beginn ihres Abenteuers am Fuße des berüchtigten Berges Celeste wieder. Warum sie ihn erklimmen möchte, weiß sie zu Beginn selbst nicht so genau. Es scheint in ihrem Leben aber einige Hürden zu geben, die sie auch metaphorisch mit ihrem Selbstfindungstrip überwinden möchte. Worum es sich dabei handelt, wird dem Spieler nach und nach in kurzen Story-Häppchen serviert, in denen Madeline mit ihren neuen Bekanntschaften über das Leben sinniert. Oft geht es um ihre Panikattacken, die sogar in einigen (langweiligen) Minispielen mittels rhythmischer Atemübungen gemeistert werden müssen. Oder es ergeben sich Probleme, weil sie ihre gegensätzlichen Gefühlsausbrüche nicht unter einen Hut bringen kann – vor allem, wenn dabei auch noch andere Gesprächspartner involviert sind.
Im Laufe des Aufstiegs trifft Madeline z.B. immer wieder auf eine alte Frau, die ihre Geschichten nur mit schnippischen Kommentaren und hämischen Stakkato-Lachern quittiert. Ein weiterer sporadischer Begleiter ist Hipster-Photograph Theo aus Seattle, der mich mit seinen ständigen nervigen Instagram-Selfies beinahe in den Wahnsinn getrieben hat. Angenehmere Zeitgenossen sind z.B. der untote Direktor eines verlassenen Hotels, das Madeline mit ihren Hüpfausflügen erkunden muss. Oder die finstere übernatürliche Gegenspielerin, von der sie immer wieder unter Zeitdruck verfolgt wird.
Mehr Stacheln gefällig? Speedrunner können übrigens auf Wunsch einen eingebauten Timer aktivieren.
Im Zentrum des Aufstiegs steht ihre Fähigkeit zu klettern: Ähnlich wie in Cryteks
The Climb krallt man sich immer wieder an der Wand fest und klettert ein Stückchen nach oben – am besten bevor sich die Ausdauer geleert hat, so dass man gerade noch den Absprung auf den sicheren Vorsprung schafft. Den Entwicklern ist ein schönes System aus Hüpfen, Klettern und kleinen Spezialfähigkeiten gelungen: Mit Hilfe eines „Sprints“ kann man sich zwischendurch noch ein Stückchen durch die Luft katapultieren, um gefährliche Tunnel und Nischen zu durchqueren. Die Energie dafür lässt sich hier und da mit Kristallen aufladen. Oder man geht in Nebenräumen der halboffenen Levels auf die Suche nach versteckten Erdbeeren. Auch Gegner wie unter Strom stehende Flipperkugeln oder finstere Tentakel-Bosse mit Laservisier lassen sich auf der Reise blicken. Manchmal muss man zudem den passenden Weg durch ein Labyrinth finden oder den in einem Käfig gefangenen Theo durchs Level wuchten.
Unbarmherzig bis aufs Mark
Beim Design der Levels macht sich ebenfalls die Erfahrung bezahlt, die das Team mit dem Mehrspieler-Plattformer Towerfall gesammelt hat. Meist geht es darum, in der passenden Richtung durch geleeartige Kugeln oder eine Art Antimaterie zu flutschen. Nur wenn man im passenden Winkel hineinspringt, zerschellt man nicht an der Wand, sondern „surft“ elegant in Richtung Ausgang. So ergeben sich schöne kleine Puzzles, die den knallharten Hüpfalltag ein wenig auflockern. Und damit sind wir auch schon beim größten Problem des Spiels: Dem absolut unbarmherzigen Schwierigkeitsgrad. Wer schon in Oris Fluchtpassagen geflucht hat, sollte hier gar nicht erst sein Glück versuchen. Auch Cuphead ist der reinste Spaziergang gegen das, was einem Celeste in punkto Hand-Auge-Koordination abverlangt. Der Vergleich hinkt natürlich etwas, da es sich um verschiedene Genres handelt, trotzdem wollte ich es anmerken.
Was hat es mit diesen geleeartigen Blöcken auf sich? Nach und nach werden weitere Mechaniken eingeführt.
Speedrunner und knallharte Fans von
Super Meat Boy oder
Spelunky dürften frohlocken, doch mir war dieser Aufstieg der Selbstgeißelung zu krass: Vor allem im späteren Spielverlauf sind die Hüpfpassagen derart erbarmungslos mit Fallen zugepflastert, dass man sich nicht den kleinsten Fehler erlauben darf. Jede Millisekunde und jeden Millimeter, den man vom Weg abweicht, führt dann unweigerlich in die Stacheln, einen Gegner oder den Abgrund. Irgendwann ist es einfach nur noch ermüdend, jedes noch so kleine Detail auswendig zu lernen und im Muskelgedächtnis zu verinnerlichen, um nach dem 30. Tod doch noch ans andere Ende des Raums zu gelangen. Oder schlimmstenfalls sogar ans Ende mehrerer scrollender Räume.
Offenbar bemerkten auch die Entwickler irgendwann, dass sie es etwas übertrieben haben, so dass sie ihrem Spiel einige Hilfe-Optionen verpasst haben. Man kann z.B. die Ausdauer der Heldin beim Klettern erhöhen oder ihr unendlich viele „Sprints“ verpassen, so dass sie knifflig verwinkelte Passagen einfach „umfliegt“. Eine echte Alternative zum normalen Spiel sind die Hilfen aber nicht, weil man mit aktivierten Tricks einige spaßige Feinheiten des Level-Designs einfach links liegen lässt. Noch unpassender wirken die Optionen, mit denen man dauerhaft die Spielgeschwindigkeit senkt oder die Figur gleich komplett unbesiegbar macht.
Vorsicht, bissiger Boss!
Warum hat man stattdessen nicht eine temporäre Zeitlupe als Special-Move eingebaut – wie es in einigen anderen Plattformern gängig ist? Schade drum, denn erzählerisch schwingt sich Celeste kurz vorm Gipfel zur Höchstform auf. Die Geschichte ist zwar vorhersehbar, ihre Inszenierung hat mich aber richtig mitgenommen. In den Verfolgungsjagden mit Madelines missmutiger Gegenspielerin geht es zum Schluss immer intensiver hin und her. Während der Überlebenskampf immer dramatischer wird und ich mich auch vorm Bildschirm schon richtig ausgelaugt fühlte, kocht auch der Streit in den Dialogen noch einmal richtig hoch. Ein besonderes Lob geht dabei an Komponistin Lena Raine und Power Up Audio, welche die aufgeladene Stimmung unheimlich gut einfangen und die Abmischung dynamisch an die Action anpassen.
Die dynamische Musik unterstreicht die Stimmungsschwankungen unheimlich gut.
Mal versacken die Synthie-Melodien in einem Sumpf aus Niedergeschlagenheit, um in einem hektischen Augenblick plötzlich scharf klirrend zu explodieren oder am romantischen Lagerfeuer locker-flockig gen Himmel zu flattern. Wirklich erhebend! Der grafische Stilmix trifft dagegen nur bedingt meinen Nerv. Dazu wirkt der Mischmasch aus groben Pixeln und hochaufgelösten Portrait-Bildern einfach zu uneinheitlich, zumal im Hauptmenü sogar ein rotierender Polygon-Berg einen weiteren Stilbruch mit sich bringt. Wer seine Pixel noch gröber mag, kann übrigens auch das Vorbild des Spiels ("Celeste Classic") freischalten, das die Entwickler im Jahr 2015 als Konzepttitel für die Fantasiekonsole PICO-8 entwarfen.
Auch die Online-Version ist nach wie vor kostenlos spielbar .
Fazit
Das kann doch nicht deren Ernst sein? Das kann doch nicht deren Ernst sein!!! Doch, ist es in Celeste leider viel zu oft. Ich habe nichts gegen eine ordentliche Herausforderung in einem Jump-n-Run, doch Entwickler Matt Makes Games übertreibt es in seinem Retro-Hüpfer vor allem zum Ende hin viel zu häufig. Die verwinkelten Höhlen am Rande des Todesberges sind derart flächendeckend mit Stacheln und Fallen zugepflastert, dass jeder noch so winzige Fehltritt auf Anhieb zum Tod führt. Wer Spaß daran hat, spätere Räume dutzend- oder hundertfach anzugehen, dürfte auf seine Kosten kommen. Ich empfand den übertriebenen Schwierigkeitsgrad aber irgendwann nur noch als nervig und ermüdend. Schade um die schönen Grundmechaniken mit ihrem Fokus auf Ausdauer bei Klettern und Sprints. Auch Tricks wie die magischen Kugeln und funkelnden Quader sorgen für einen schönen Mix aus Hüpfen und dem Austüfteln des passenden Wegs. Zudem schafft Celeste es nebenbei, eine erstaunlich vereinnahmend inszenierte Geschichte zu erzählen, welche die Protagonistin dazu zwingt, sich nicht nur dem Berg, sondern auch ihren eigenen Dämonen zu stellen. Letztendlich hat mich der übertrieben hohe Schwierigkeitsgrad aber wieder unsanft auf den Boden der Tatsachen befördert. Auch einige optionale Spielhilfen können das Problem nicht wirklich aus der Welt schaffen, da sie einige der gelungenen Spielmechaniken einfach umgehen.
Pro
add_circle_outline viele clevere Plattform-Mechaniken
add_circle_outline jederzeit aktivierbare Hilfen entschärfen bockschwere Passagen
add_circle_outline schön in die Levels eingeflochtene kleine Puzzles
add_circle_outline mitreißend dynamischer, gefühlvoller Soundtrack
add_circle_outline lustiges Synthie-Gequäke bei den Text-Dialogen
Kontra
remove_circle_outline abartig hoher, oft frustrierender Schwierigkeitsgrad
remove_circle_outline Hilfen untergraben aber mitunter coole Mechaniken
remove_circle_outline peinliche Referenzen an hippe Phänomene wie ständige Instagram-Selfies
remove_circle_outline seltsamer Design-Mix grober Pixel mit moderneren Elementen
Wertung
Echtgeldtransaktionen
Wie negativ wirken sich zusätzliche Käufe auf das Spielerlebnis, die Mechanik oder die Wertung aus?
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