Heavy Rain15.02.2010, Jörg Luibl
Heavy Rain

Im Test:

Es war einmal im Mai auf einer E3. Da haben ein paar Franzosen für Aufruhr im fernen Amerika gesorgt. Sie hatten allerdings weder einen Shooter noch Bin Laden oder einen Spielberg im Gepäck - bloß ein "Casting". Vier Minuten Film, in denen eine Frau nervlich zusammen bricht. Diese kleine Szene war so bewegend, dass sie große Hoffnungen weckte: Könnte das junge Medium irgendwann mal seine audiovisuelle Kraft ausspielen und bewegende Geschichten erzählen? Könnte das Videospiel zum interaktiven Drama für Erwachsene reifen?

Der Origami-Killer

Es hört einfach nicht auf. Es regnet weiter in Strömen. Es schüttet seit Wochen aus einem steingrauen Himmel, der wie ein finsteres Gewölbe über einer fiktiven Stadt an der amerikanischen Ostküste kauert. Darunter ist die Stimmung gedrückt: Ein Serienkiller hat zugeschlagen - zum siebten Mal. Schon wieder traf es einen Jungen. Schon wieder wurde das Opfer ertrunken aufgefunden. Schon wieder hat man eine Origami-Figur sowie eine Orchidee am Tatort entdeckt. Wer tut so etwas? Was geht in diesem kranken Hirn vor? Bevölkerung, Presse und Polizei sind ratlos. Selbst die Musik brandet traurig und trostlos in dunklen Akkorden auf. Und die Nerven liegen blank...

Madison wird von Schlaflosigkeit und Alpträumen geplagt, während die Stadt im Regen versinkt.

Diese scheiß Kopfschmerzen! Jetzt verschwimmt wieder alles. Soll ich ein bisschen Dope nehmen? Kann doch nicht schaden - dann steht die Welt wenigstens wieder gerade. Und es muss ja niemand im Büro sehen, wenn ich es geschickt anstelle. Hey, ich bin immerhin FBI-Profiler. Außerdem muss ich mich beruhigen, denn mir geht dieser cholerische Officer namens Blake auf den Geist. Dieser primitive Gorilla versteht doch nichts von der Psyche eines Killers! Der will einfach nur jemanden zusammen schlagen und einbuchten. Vorhin hat er ohne Durchsuchungsbefehl die Wohnungstür eines Verdächtigen eingetreten. Was soll das? Ich hatte keine Wahl, bin ihm in die düstere Kaschemme voller Kruzifixe gefolgt...

Das Spiel der Eskalation

In einer kleinen Stadt an der amerikanischen Ostküste schlägt ein Serienkiller zu - und es will nicht aufhören zu regnen.
Oh Mann - jetzt drängt er diesen labilen Freak auch noch in die Ecke mit seinem aggressiven Verhör! Wieso muss er ihn so unter Druck setzen? Erkennt er nicht, dass er gleich ausflippen könnte? Soll ich dazwischen gehen? Ich könnte es versuchen. Ich könnte den Officer zurechtweisen. Die Option schwebt verführerisch in der Luft. Aber erstmal abwarten, wie sich der Konflikt entwickelt. Verdammt, ist es hier stickig - wann wurde hier das letzte Mal gelüftet? Und überall diese Kreuze und Kerzen. Ich höre mir auf Knopfdruck meine Gedanken an: Der Mann kann nicht der Täter sein! Mir wird gleich wieder übel...der Typ brüllt plötzlich...schreit etwas...zieht eine Knarre...hey, was ist hier los? Verdammt, jetzt zielt er auf Blake! Was soll ich machen? Ihn beruhigen? Selber schießen? Ich hab die Waffe schon in der Hand! Wäre das Notwehr? Verflixt!

Je nachdem wie ich mich hier entscheide, wird Blut fließen. Oder auch nicht. Einfach ist das nicht, denn Blake brüllt mir die ganze Zeit ins Ohr, dass ich den Irren endlich abknallen soll, während der irgendeinen satanischen Unsinn aus der Bibel rezitiert - außerdem gibt es kein gemütliches Dialogmenü mit Dauerpause: Meine Handlungs- und Sprachoptionen schwirren wie nervöse Stichwortfliegen in Echtzeit umher. Es ist schwierig, den passenden Knopf zu einer Antwort auf Anhieb zu finden, zumal die Schrift manchmal verzerrt erscheint! Und ich habe nicht ewig Zeit, denn irgendwann wird automatisch etwas passieren. Es knistert in dieser Situation vor Spannung, denn die dynamische Benutzeroberfläche ist ein Teil der Dramaturgie - und von der beruhigenden Deeskalation bis hin zur blutigen Eskalation ist alles möglich. Was mache ich jetzt?

Leben oder Tod

Aggressiv oder verständnisvoll? Ruppig oder elegant? Ihr habt auch bei Verhören die Wahl.
Heavy Rain (ab 6,99€ bei GP_logo_black_rgb kaufen) ist ein Spiel der Konflikte und Entscheidungen, der Emotionen und Konsequenzen. Und es ist anders: Es gibt kein Inventar und keine Itemkombinationen, schon gar kein Point oder Click - und doch viel Adventure. Es gibt kein Waffenarsenal und keine Munition, schon gar keinen Bodycount oder fette Bosse - und doch viel Action. Es gibt keine Charakterwerte und keine Level-ups, schon gar keine Klassen oder Quests - und doch viel Rollenspiel. Man nimmt dieses Abenteuer trotz vertrauter Schatten ganz anders wahr, weil es auf viele Konventionen des klassischen Spieldesigns pfeift und die altbekannte Mechanik der Verwaltung und Steuerung bewusst in den Hintergrund rückt. Es sind die Gesten, Gedanken und Worte, die hier wichtig sind. Es geht nicht um Statistiken, nicht um Kills, nicht um das nächste Level, nicht um Lösungen, sondern einzig und allein um Situationen.

Hier steht nicht das Meistern einer Aufgabe im Vordergrund, obwohl man auch hitzige Schussgefechte bestehen, Hindernisparcours' bewältigen, gefährliche Labyrinthe durchkriechen, tödliche Fesseln lösen oder kleine Origamitiere falten muss - es gibt also genug Spiel im

Fahrenheit (Wertung: 86%) ist der spirituelle Vorgänger von Heavy Rain. Damit hat das französische Team von Quantic Dream schon 2005 angedeutet, in welche Richtung sie das Adventure bringen wollen: Weg vom klassischen Point&Click, hin zu modernen Kulissen mit Emotionen, Konsequenzen und filmisch inszenierter Story. Auf der PlayStation 3 gehen sie diesen Weg konsequent weiter.
Drama. Es geht aber immer um das Erleben einer Situation. Das kann etwas Alltägliches wie der Besuch eines Spielplatzes mit dem Sohn sein, wo man als Papa ganz brav die Wippe bedient, oder etwas Außergewöhnliches wie der anzügliche Strip vor einem Gangster, dem man den Arsch möglichst aufreizend ins Gesicht halten muss, nachdem man ihn unten auf der Tanzfläche erfolgreich aufgegeilt hat. Es geht vom Banalen in das Extreme. Damit setzt Heavy Rain an einem für Spiele immer noch überaus ungewöhnlichen Punkt an: Der Stimmung, dem Gefühl des Augenblicks.

                      

Langsam-Zeit-Aktionen

Ethan Mars verliert erst den einen, dann den anderen Sohn - er versinkt in Depressionen.
Als Spieler schlüpft man zunächst in die Rolle von Ethan Mars. Bei ihm Zuhause ist die Welt auf den ersten Blick noch in Ordnung: Der junge Architekt lebt mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen in einem hübschen Haus. Auf dieser Zeitreise entdeckt man zunächst die einfachen Aktionen im Alltag - weiße Symbole deuten dezent im Hintergrund an, wo man etwas machen kann: Schränke öffnen sich per Analogstickdreh, das Handtuch wird aktiv mit einem energischen Hin und Her des Wireless-Controller geschüttelt. Wer sich hinsetzen will, drückt den Analogstick in der Nähe des Stuhls nach unten und auch das Öffnen des Kühlschranks, das Schütteln des Orangensafts sowie das anschließende Trinken wird jeweils mit Stick ein geleitet.

Gibt es dafür Punkte? Nein. Läuft die Zeit dabei ab? Nein. Steige ich in einer Haushalts-Highscore auf? Nein. Aber was zu Beginn fast lächerlich anmutet, sorgt im weiteren Spielverlauf dafür, dass man sich besser mit seiner Rolle identifiziert - als würde man auch über diese Kleinigkeiten mehr Verständnis für sie entwickeln. Einfach nur, weil man etwas mit ihnen macht, weil man sie aktiv bewegt. Das, was Shenmue mal auf Dreamcast etabliert hat, wird hier quasi weiter geführt - die Simulation selbst einfacher Handgriffe, die irgendwann in lebensgefährliche Reaktionstests münden kann, in der jede Sekunde zählt.

Quantic Dream hat sich schon in Fahrenheit bewusst an diesem Vorbild orientiert, wenn es um Quick-Time-Reactions ging. Diesmal haben sie das System, das sie selbst PARs nennen ("physical action reactions") wesentlich besser in die Kulisse integriert und mit den neuen Möglichkeiten des Sixaxis-Controllers harmonisiert. Mal muss man ihn im richtigen Winkel ausrichten, wenn man balanciert oder lenkt, mal nach unten stoßen, wenn man eine Scheibe eintritt oder schnell schütteln, wenn man Fesseln an einer scharfen Schneide lösen will. Wenn man schleichen oder eine Tür leise öffnen will, muss man den Stick sachte nach vorne drücken. Und es gibt einige Kletter-, Akrobatik- und Bastelmomente, in denen man geschickt mehrere Knöpfe gleichzeitig gedrückt halten muss, während man weitere nacheinander aktiviert - dabei muss man auch mal geschickt umgreifen, um nicht den Druckpunkt zu verlieren.

Bevor das Spiel seine düsteren Schleier über die Schauplätze legt und wesentlich anspruchsvollere und mehrstufige Reaktionstests verlangt, kann man sich mit Ethan in lichtdurchfluteter Ruhe mit der Bewegung und der zweiten

Dabei fängt alles so friedlich an...
Kameraperspektive vertraut machen: Das braucht ein wenig, denn Ethan läuft nicht direkt, sondern erst auf R2-Druck in die Blickrichtung. Man kann also aus der Schultersicht in die Tiefe des Raumes oder quasi in die Kamera laufen. Sehr nützlich ist auf lange Sicht die Kopfdrehung mit dem linken Analogstick - so kann man sich auf engem Raum umschauen.

Vier Helden, ein Vermisster

Aber der Schein des harmlosen Alltags trügt. Man spielt hier nur einen ganz kurzen idyllischen Rückblick, der in der ersten Tragödie und der Motivation des Hauptcharakters mündet: Ethan verliert seinen ältesten Sohn, macht sich Vorwürfe, versinkt in eine Depressionen, seine Ehe zerbricht und in dieser Lebenskrise wird tatsächlich auch noch sein zweiter Sohn entführt. Der Mann ist quasi am Ende, als der Origami-Killer ihn kontaktiert und ein tödliches Spiel à la Saw beginnt: Nur wenn sich Ethan auf fünf Prüfungen einlässt, kann er seinen Sohn retten - die Zeit läuft allerdings mit jedem Regentropfen ab, denn auch Shaun soll qualvoll ertrinken.

...im Einstieg spielt man noch ausgelassen mit seinen Kindern.
Um das zu verhindern, schlüpft man für knapp vier Tage von Dienstag bis Freitag jeweils abwechselnd in die Rolle von vier Figuren und erlebt die Geschehnisse dieses Oktober 2011 aus ihrer Sicht. Da wären neben Ethan Mars noch die Journalistin Madison Paige, der FBI-Profiler Norman Jayden sowie der Privatdetektiv Scott Shelby. Jeder hat seinen eigenen Stil und seine eigene Persönlichkeit, die man bis zu einem gewissen Grad selbst prägen kann - ist man einfühlsam oder kaltherzig, hilfsbereit oder ignorant, aggressiv oder sachlich?

In der Kommunikation hat man zwei aktive Möglichkeiten: Entweder man lässt sich die Gedanken des Protagonisten anzeigen, die als Stichworte über seinem Kopf schwirren, wählt einen aus und lässt ihn als lauten Gedanken aussprechen; manchmal geht es hier nur um moralische Abwägungen, manchmal kann sich darin auch ein Hinweis verbergen. Oder man spricht eine Figur direkt an, indem man ebenfalls ein Stichwort aus einem über der Spielfigur schwebenden Repertoire wählt.   

Kampf über dem Kopf

Geteilte Bildschirme à la 24: Die Regie zückt alle perspektivischen Register.
Quantic Dream verzichtet auf die klassische Auswahl per Multiple-Choice - es gibt also keine Antworten A, B oder C, die ganz ruhig in einer Leiste warten. Stattdessen hebt man die Antworten quasi als dynamische Flieger direkt über den Kopf, wo sie je nach Verfassung des Sprechenden entweder klar und ruhig, benommen verzerrt oder hektisch hin und her flackernd erscheinen. Manchmal ist es also im wahrsten Sinne des Wortes schwer, einen klaren Kopf zu behalten, weil die eigentlich logische Antwort gerade kaum zu entziffern ist und man möglicherweise den falschen Knopf drückt.

Dieses auf den ersten Blick unruhige System unterstreicht den Stresspegel gut, zumal sich für die eigene Entscheidung auch nur ein kleines Zeitfenster öffnet: Wer sich in einer Krise nicht schnell genug für eine Antwort entschließt, muss mit einer automatisch gewählten rechnen, die nicht unbedingt vorteilhaft ist. Allerdings ist die Visualisierung der Antwortmöglichkeiten auch in manchen gewöhnlichen Situationen so diffus, dass man gar nichts erkennen kann - das hätte man klarer lösen können.

Die vier spielbaren Charaktere haben scheinbar bis auf die gemeinsame Heimatstadt nichts miteinander zu schaffen; sie starten auch an getrennten Orten, aber ihre Wege treffen und verknoten sich im Laufe des Thrillers - das Drehbuch lanciert diese Überschneidungen sehr geschickt. Vorher gibt es auch fliegende Wechsel: Kaum hat man in der Rolle der Madison den

Gesichter und Mimik auf höchstem Niveau: Jede Gefühlsregung ist sichtbar. Das Spiel läuft in 720p.
Scott gesehen, wechselt man auch schon in dessen Haut. Und so bleiben die erzählerischen Köder immer frisch. Im Gegensatz zu Fahrenheit verflüchtigt sich die Story auch nicht irgendwann in mystische Sphären, sondern bleibt erdverbunden und existentialistisch: Es geht immer um Leben und Tod. Es geht immer um knallharte Realitäten.

Wie weit würde man gehen?

Es gibt nicht nur den eigentlichen Plot mit der Frage des Killers. Die Story thematisiert vor allem innere Konflikte: Jeder der vier Protagonisten hat ein Problem - Alkohol, Drogen, Schuldgefühle, Schlaflosigkeit. Und alle schwanken zwischen ihren Dämonen, wobei man als Spieler in vielen Situationen selbst den Ausschlag geben kann, jetzt endlich die Pillen zu nehmen oder sich zusammen zu reißen.

Durch diese Variation der Blickwinkel entdeckt man zwischen den scheinbar extrem gegensätzlichen Charakteren irgendwann sogar Gemeinsamkeiten. Gerade aufgrund ihrer Ecken und Kanten wachsen einem die Figuren schnell ans Herz.

Leben oder Tod? Man kann viele Situationen entscheidend beeinflussen...
Vor allem die Hauptfigur Ethan macht ein Wechselbad der Gefühle durch, das bis ins Extreme ausufert. Man muss sich wirklich fragen, wie weit man für das Leben seines Sohnes gehen würde; und die Schmerzgrenzen werden alle ausgelotet.

Bis es zum dramatischen Wendepunkt gegen Ende des Spiels kommt, wird die Spannungskurve erst ganz behutsam aufgebaut, bevor sie von einigen potenziellen Verdächtigen ganz straff gezogen wird: Man kommt an einen Punkt des Abenteuers, wo theoretisch jeder der Killer sein könnte - und genau das macht die folgenden Episode so interessant. Die Story ist so packend, dass man auf jedes Detail und jedes Wort achtet. Und die Bandbreite der schauspielerischen Darstellung ist enorm: Es wird überzeugend geflucht und geweint, hysterisch geschrien und geschluchzt, blöd gemeckert und clever gelogen. Es gibt Monologe, Dialoge und gespielte Ansprachen, Rückblicke und Träume.  

Offene Spielstruktur

Ethan muss fünf Aufgaben bestehen, um seinen Sohn zu befreien. Wie weit wird er gehen?
Natürlich ist das kein ganz offenes Spiel, denn es gibt optische Schranken und inhaltliche Bahnen - wenn sich eine Szene aufbaut, kann man zwar die Bühne variabel mit seiner Interpretation von Scott Shelby oder Ethan Mars füllen, vielleicht sogar über Leben und Tod entscheiden, aber der Ausgang ist meist vorgegeben. Und es besteht kein Zwang zur perfekten Serie. Sprich: Auch wenn man innerhalb einer Flucht mal ein Hindernis nicht überspringt oder während eines Kampfes den Haken nicht blocken kann, ist das noch kein Beinbruch. Die Actionszenen sind so ausgelegt, dass man auch mit ein, zwei Fehlschlägen erfolgreich durchkommen kann, so dass nerviges Trial & Error kaum aufkommt - allerdings kann ein Scheitern auch fatale Folgen haben. Es gibt drei Schwierigkeitsgrade. Und jeder, der sich nur etwas mit Spielen auskennt, sollte gleich den höchsten wählen - dann werden die unterm Strich zu leichten Kämpfe in den knapp acht bis zehn Stunden Spielzeit etwas anspruchsvoller.

Es gibt auch Situationen, in denen man sich etwas mehr geografische und investigative Freiheit gewünscht hätte: Als man z.B. als FBI-Profiler einen möglichen Ort identifiziert, an dem der Täter vielleicht seine Origami-Vorlagen eingekauft hat, darf man diesen nicht besuchen. Warum kann man den Laden nicht untersuchen? Es gibt (bis auf eine Situation im Finale) nie eine Art Karte, auf der man eine Route oder ein Ziel auswählen kann - dieser Hauch von Open World à la Shenmue und etwas mehr eigene Ermittlungslogik über klassische Rätsel hätte Heavy Rain vielleicht noch faszinierender gemacht. Es gibt ja den visuell eindrucksvollen Ansatz dazu: Norman sammelt mit seinem virtuellen Analysetool ARI ("Added Reality Interface") Indizien und Gegenstände, kann Reifenspuren analysieren, Filme auswerten und Karteien durchforsten. Aber all das läuft eher automatisch ab, denn er muss die Fakten nicht wie in CSI logisch verknüpfen.

Kein Point&Klick

Nur FBI-Profiler Norman kann Indizien sammeln und analysieren.
Kombiniere Tesafilm mit Gartenzaunloch und scheuche die Katze mit der Sirene auf, damit diese hindurch jagt und ihre Haare am Kleber hängen bleiben, damit man sich einen Schnurrbart basteln kann? Nein, das vermisst man nicht. Aber Heavy Rain nutzt das Rätsel- und Verknüpfungspotenzial des ARI nicht ganz aus, obwohl das Spiel einige klassischere Momente anbietet: Mal muss einen Gegenstand von A nach B bringen, um dort etwas von Person C zu erfahren. Mal muss man kriechend durch ein Labyrinth aus Glasscherben, ohne dabei drauf zu gehen. Und sehr oft ist einfach Geschick, ein gutes Auge oder das Gedächtnis gefragt, wenn es um das Passwort eines Computers geht - es gibt also unterm Strich mehr Rätsel als noch in Fahrenheit.

Und das Drehbuch der vorgegebenen Pfade ist so genial, dass man diesen Wunsch nach mehr Kombinatorik zunächst gar nicht verspürt. Vor allem in der ersten Hälfte werden so die Fäden und Köder für die Geschichte sehr clever ausgelegt, ohne dass man sie ablehnen oder um sie herum entscheiden könnte. Allerdings hat man trotzdem das Gefühl, sich mit jeder Minute auf offenes Terrain zu begeben: Die Schauplätze sind zwar faktisch nicht sehr groß, aber die Illusion der Großstadt ist immer da. Das Umfeld wird über Unschärfe und architektonische Horizonte visuell sehr geschickt eingefangen, so dass man immer einen Ausblick in die Distanz hat. Und im letzten Drittel können die straffen Fäden plötzlich an einigen Stellen reißen, so dass man je nach Konflikt ein ganz anderes Finale mit anderen Überlebenden sieht. Richtig: Es gibt kein Game Over, denn selbst der Overkill aller Hauptpersonen kann ein mögliches Ende sein. Man spielt also mit diesen Toten im Nacken weiter, wobei sich ihre fehlenden Ermittlungen auf den Spielverlauf auswirken - wer den FBI-Profiler in einem Kampf verliert, darf auch nicht mehr auf seine Hinweise hoffen, die er über sein Hightechtool gewinnen kann. Und je nachdem, mit welchen Lebenden und Entscheidungen man die letzten Kapitel erreicht, ändert sich auch das Finale.

In Konfliktsituationen kann es zu interaktiven Kämpfen kommen, in denen man Reaktionstests meistern muss.
Entscheidungen und Handlungen wirken sich also spürbar aus: Auf der einfachsten Ebene kann man davon ausgehen, dass man einen Hinweis oder einen Gefallen bekommt, wenn man jemandem vorher hilft. Hier zeigt das Medium Videospiel endlich bewegliche Muskeln, die der lineare Film gar nicht erst anspannen kann. Der Wiederspielwert ist hoch, zumal man jede Situation auf dem Weg zum Ziel anders, teilweise auf drei Arten erleben kann. Ein Beispiel: Wer in der Rolle von Madison den zwielichtigen Arzt besucht, kann die Szene mit seinem Verhalten so stark beeinflussen, dass sie nichts weiter als eine ganz kurze Visite, ein unangenehmes Gespräch oder ein schrecklicher Horrortrip à la Saw wird - und diese Offenheit gibt es in vielen Kapiteln. Kein Wunder, dass all die Alternativen für ein 2000 Seiten starkes Drehbuch gesorgt haben. Und selbst ohne diese motivierende Dynamik würde dieser Besuch für sich schon begeistern, denn er wird atmosphärisch eindringlich und auf schauspielerisch höchstem Niveau inszeniert.

Ein großes Lob muss neben der unheimlich stimmungsvollen Musik, die mal traurig und trostlos im Hintergrund fließt, sich mal bedrohlich und finster zusammen ballt, auch an die deutsche Lokalisierung gehen: Die auf Wunsch einblendbaren Untertitel sind sauber und die Sprecher leisten angesichts der vielen emotionalen Momente Großartiges. Man kann zwar jederzeit, auch innerhalb einer Szene, auf die spanische, französische oder englische Sprachausgabe wechseln, aber ich habe das trotz der Ernüchterung angesichts der im Vergleich zum Angelsächsischen zu weich wirkenden Stimme Ethans irgendwann nicht mehr gemacht: Erstens passt auch seine Tonalität später immer besser zum Charakter, zweitens überzeugt nahezu der komplette Rest der Besetzung mit erstklassiger akustischer Schauspielerei - der cholerische Officer Blake, die clevere Madison und vor allem Scott Shelby werden im Deutschen hervorragend getroffen.       

Ein Oskar für den Kameramann

Officer Blake: Ein cholerischer Haudrauftyp mit klasse deutscher Stimme. Man kann jederzeit zwischen anderen Sprachen wechseln und Untertitel einblenden.
Heavy Rain sieht nicht nur fantastisch aus, weil sich die Polygonfiguren dank professionellem Motion Capturing (knapp 70 Schauspieler haben 172 Tage lang ihre Rollen gemimt) erstaunlich natürlich bewegen oder sich so tief in die Augen schauen lassen, dass man die haarscharfen Wimpern und Falten zählen kann - das, was in Uncharted 2 in den Zwischensequenzen für Filmflair gesorgt hat, gibt es hier quasi nonstop von der ersten Spielminute bis zum Finale. Quantic Dream konnte da natürlich aus dem Vollen schöpfen: Das Team besitzt als Motion Capturing-Dienstleister selbst einen 3D-Scanner und hat mal eben ein paar hundert Schauspieler zum Probe sprechen antanzen lassen.

Das berühmte "Casting"-Video war quasi nur der Anfang einer klassischen Filmrecherche. David Cage ist mit seiner offensichtlichen Filmbegeisterung in prominenter Gesellschaft: Auch Hideo Kojima hat den Bildschirm gerne und ausgiebig in eine Leinwand verwandelt. Allerdings gibt es hier einen Unterschied, denn während man in Metal Gear Solid 4  für lange Zeit reiner Zuschauer ist, bleibt man in Heavy Rain quasi immer die handelnde Person. Dadurch entsteht viel weniger ein Bruch als vielmehr ein Fluss zwischen Passivität und Aktivität.

Ohne die grandiose Kulisse wären das trotzdem nur herrlich animierte Gespenster: Und in diesem Fall geht es nicht nur um Texturen oder Plastizität, sondern um die authentische Architektur und Requisite all der Orte: Egal ob Polizeistation, Psychopraxis, Fabrikhalle, Uhrenladen, Shop oder Hotel - ich habe selten ein Spiel mit so glaubwürdig und akribisch

Ethan beim Psychiater: Wie schätzt er sich selbst ein? Das Spiel ist in vielen einfachen Situationen offen.
recherchierten Schauplätzen gesehen. Es entstehen fast Stillleben des Alltags, die mehr sind als bloße Fotografien. Denn obwohl man bis auf Ausnahmen nichts aufheben und einsammeln kann, ist im wahrsten Sinne des Wortes auch immer Leben in der Bude. In einer der ersten Szenen im Kaufhaus staunt man über die glaubwürdige Darstellung der Menschenmenge - natürlich kann man da mit kaum jemandem interagieren, aber schon das zähe Durchzwängen bildet den Alltag in einer überfüllten Einkaufsmeile gut ab. Später erlebt man Ähnliches in der Disco: Man kann in der Menge untertauchen, sich an hunderten Tanzenden vorbei zwängen, während einem die Trancebeats in die Ohren hämmern.  

Luft nach oben

Es ist allerdings schade, dass man bis auf die relevanten Ansprechpartner mit niemandem dieser Besucher in irgendeiner Form interagieren oder kommunizieren kann - man vermisst keine Dialogbäume, aber für die Illusion wäre es klasse gewesen, wenn ein knutschendes Liebespaar oder ein rauchender Gast einfach einen Kommentar abgegeben hätten, wenn man sie z.B. länger anstarrt. Gerade solche Reaktionen hätten aus all den Tanzenden noch mehr als Statisten machen können. Und manchmal meistert Heavy Rain auch diese stille Lebendigkeit abseits des Hauptpfades: Wer sich mit dem FBI-Ermittler über den ersten Tatorts an den Bahngleisen bewegt, trifft auf sehr natürlich agierende Polizisten.

Trotzdem wirkt die oben beschriebene Situation im Club "Blue Lagoon" wesentlich lebendiger als das, was etwa in Mass Effect 2 in den zwei Bars zu sehen ist. Und das, obwohl beide Spiele theoretisch dieselben Voraussetzungen hatten: Einen Raum mit tanzenden Menschen zu füllen. In Heavy Rain ist die Illusion eines vollen und lauten Hauses wesentlich stärker; auch später auf einer Hausparty kann man im Trubel abtauchen. Ohne zu viel verraten zu wollen: Auch der (natürlich optionale) Sex wirkt hier sinnlicher und natürlicher - für mich ist das eine der besten erotischen Szenen der Videospielgeschichte.

Selbst banale Aktionen wie der Gang auf den Spielplatz tragen zur Atmosphäre eines außergewöhnlichen Spiels bei - Quantic Dream etabliert den interaktiven Thriller für Erwachsene.
Selbst Kleinigkeiten in der Bewegung sorgen dafür, dass die Schauplätze (1080p wird übrigens nicht unterstützt) lebendig wirken - etwa, wenn jemand Unbeteiligtes plötzlich durch das Bild läuft, Schatten an Fenstern vorbei huschen oder irgendwo ein Kind jammert. Man fühlt sich immer in einer authentischen Situation. Heavy Rain wirkt aber vor allem deshalb fantastisch, weil die Kamera den Alltag so hervorragend aus zig Blickwinkeln einfängt und die Perspektive ähnlich wie in 24 auch mal geteilt wird: Mal schleicht die Kamera langsam wie eine Schlange von schräg unten um den Protagonisten, mal entfernt sie sich in erhabene Distanz und wenn es dramatisch wird, passiert auf zwei oder drei geteilten Bildschirmen etwas gleichzeitig, während man sich selbst aktiv bewegt. Es gibt derzeit kein Spiel, das so nah an die Cinematographie eines Films heran kommt - auch wenn das Tearing manchmal etwas stört.

Natürlich kann das langweilig anmuten, wenn man bloß einen Kühlschrank öffnet oder ein Blick auf die Uhr wirft - auch das ist Heavy Rain. Aber die scheinbar banalen Nebensächlichkeiten tragen mit dazu bei, dass man sich in die Rolle vertieft. Und es gibt zahlreiche psychologisch wacklige Situationen, in denen die Lage brenzlig wird: In einem Supermarkt hat man z.B. die Wahl, ob man sich in einen Überfall einmischt oder nicht - man kann sich auch verstecken oder sich an ihn heran schleichen, wenn man denn lautlos bleibt. Greift man ein, hat man wiederum die dynamische Wahl der Ansprache an den Täter, der schon den Kassierer bedroht. Man steht zunächst weit weg, muss die Hände erheben und kann während dessen etwas Aggressives, Professionelles oder Beruhigendes aus den über den Kopf schwirrenden Möglichkeiten wählen. Je nachdem, welche Worte man ausspricht, kann man zur Deeskalation beitragen und dem Mann langsam näher kommen. Aber das Ganze kann auch kippen und plötzlich muss man handgreiflich werden, um nicht selbst niedergeschossen zu werden.    

Fazit

Das ist ein ganz wichtiges Spiel. Das junge Medium demonstriert nicht nur wie so oft seine audiovisuelle Kraft, hier erzählt es eine bewegende Geschichte, hier reift es endlich zum interaktiven Drama. Dabei spannt es dramaturgische Muskeln, die der Film gar nicht hat: Es lässt mir nicht nur die Wahl der Worte, der Gefühle und der Perspektive - es lässt mich in einem offenen Thriller über Leben und Tod entscheiden. Mit diesem Abenteuer ist Quantic Dream weit über sich und Fahrenheit hinaus gewachsen, was die Qualität der Interaktion und Präsentation angeht: Die szenische Gestaltung ist exzellent, die düstere Musik ist ein Genuss, die Charakterisierung ist grandios. Ab und zu habe ich mir noch mehr Freiheiten, sogar einen Hauch von offener Welt und mehr Ermittlungsreize gewünscht. Aber das ist kein mystisches Experiment mehr, wo das Drehbuch im letzten Drittel die Bodenhaftung verliert - das ist bis zum offenen Finale durchdachter Existenzialismus mit inneren Konflikten, traurigen Leitmotiven und bitteren Konsequenzen. Wer sich auf das Erlebnis einlässt, wird für acht Stunden komplett in vier Rollen versinken. Ich habe noch nie so eine packende Story in einem Videospiel erlebt. Das letzte Mal hat mich Hotel Dusk so außergewöhnlich, so anders unterhalten. Auch hier wird das Banale des Alltäglichen auf subtile Art und Weise zu einem Teil einer Spielerfahrung, in der es neben großartig inszenierter Action auch großartige leise Momente gibt - und die vergisst man nicht so schnell. Es ist schön zu sehen, wenn Entwickler ihrer streitbaren Vision treu bleiben und auf die klassischen Konventionen der Point&Click-Tradition pfeifen. Und es muss abseits von bewegungssensitivem Rumgezappel, Leveluptretmühlen und Waffenpornos noch andere Ufer geben. David Cage öffnet mit seiner konsequenten filmischen Dramaturgie eine Tür, hinter der eine fantastische Spielezukunft wartet.

Zur Kolumne: Rain Effect - Wann ist ein Spiel ein Spiel?
Zum Video-Fazit: Heavy Rain mit allen Pros und Kontras!

Pro

exzellente Story
wunderbare Musik
hervorragende Regie+ authentische Kulissen
nicht-linearer Handlungsverlauf
vier spielbare Protagonisten
glaubwürdige Charaktere
hörbare Gedanken
fantastische Mimik & Kamera
dynamisches Stressdialogsystem
sehr gute deutsche Lokalisierung+ lebendig choreografierte Kämpfe
sehr elegante Benutzeroberfläche
intuitive Sixaxis-Einbindung+ cool visualisiertes FBI-Tool
mehrere Enden möglich

Kontra

etwas zu wenig Handlungs
& Ermittlungsspielraum

Wertung

PlayStation3

Ein interaktiver Thriller der emotionalen Art - dieses Spiel setzt dramaturgische Zeichen!

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