...dabei befinde ich mich in einem Action-Rollenspiel namens Vampyr. Im London des Jahres 1918 in einem Herrenhaus, in dem ein Geheimbund von Vampiren das Sagen hat. Einer hat mich zunächst grimmig durch einen Sichtschlitz begutachtet, bevor er mir widerwillig mit seinen kalten Augen die Tür öffnete - sein Meister will mich sehen. Kaum mache ich die ersten Schritte, sehe ich überall Leichen. Der untote Blutsauger in Schwarz steht an der Treppe und schaut mich misstrauisch an. Laut der Story sowie dieser Szene kann ich nicht sicher sein, ob ich gleich angegriffen werde!
Aber da hinten blinkt ein Schrank, direkt hinter dem Vampir. Und etwas weiter weg im Saal sehe ich auch schon was glitzern. Und weil ich das seit Stunden so machen kann, mach ich weiter. Also jogge ich locker zu diesem Vampir, öffne wie ein dreister Dieb den Schrank hinter ihm, bevor ich überall im ganzen Erdgeschoss alles abgreife, was ich kriegen kann. Hey, da ist ein verschlossener Keller? Irgendwo sacke ich den passenden Schlüssel ein, schließe ihn auf und entdecke eine geheime Notiz über diesen Geheimbund. Ach so: Ich muss ja noch zum Hausherren! Ganz ruhig: Erstmal den zweiten Stock plündern...
Jeder Pen&Paper-Rollenspielleiter würde von seiner Gruppe gelyncht werden, wenn er diesen Bruch der Glaubwürdigkeit zulassen würde, der die Immersion sofort zerstört. Und Dontnod lässt ein potenziell gutes Abenteuer in diesen Situationen verdammt schlecht aussehen. Moment: Immersion ist ein nichtssagender Begriff. Viel schöner ist das Eintauchen. Oder noch besser: das Abtauchen. Das beschreibt zumindest mein Erlebnis beim Spielen von fesselnden Abenteuern wunderbar. Da bewege ich mich wie ein Taucher vorsichtig, schaue mich um und erwarte eine Gefahr oder Schätze im Verborgenen.
In der Szene oben wurde genau dieses Spannung durch die Story aufgebaut und von der primitiven Spielmechanik konterkariert. Noch schlimmer: Das auf Crafting fokussierte Spieldesign konditioniert, nein nötigt mich sogar, alles robotisch einzusacken. Wer immer das bei Dontnod oder Focus Interactive durchgewunken hat, sollte künftig nur noch Mobile Games entwickeln dürfen. Beute und Bastelei sind natürlich nicht per se schlecht - aber ein God of War, ja selbst ein The Last of Us konnte eher trotz statt aufgrund dieser Mechanik begeistern, die in viel zu vielen Spielen mittlerweile zum Standard gehört. Ich kann Zutaten und Rohstoffe, Arbeitstische und Labore, nicht mehr sehen.
Die maritime Metapher ist auch ganz gut geeignet, um zu verdeutlichen, auf welcher Ebene manche Abenteuer dahin plätschern, die auf der einen Seite eine glaubwürdige Geschichte und Welt inszenieren wollen, aber sich gleichzeitig der All-you-can-grab-Mentalität bis ins Extrem verschreiben. Man treibt als Spieler nur wie Holz an der Oberfläche, wird nicht mit in die Tiefe gezogen. Denn schon beim Schwimmen kann man ja genau erkennen, was sich auf dem Grund verbirgt. Statt einer Dunkelheit mit schemenhaften Bewegungen erkennt man eine hell ausgeleuchtete Leere, in der Vampire nicht beißen und Spiele zerbrechen.
Also: Kann mal einer dieses Glitzern abschalten?
Jörg Luibl
Chefredakteur
Mehr dazu auch im Video-Epilog zu Vampyr.
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