Jörg Luibl
Per Anhalter in die Spielezukunft VIEine Kolumne von Jörg Luibl, 21.11.2008
Plötzlich stehe ich vor einem riesigen Ork. Bevor ich mich erschrecken kann, lese ich auf einem Sockel am Boden "World of WarCraft II". Der Anblick sorgt zunächst für ein angenehmes Gefühl der Sicherheit. Eine Sekunde später wird es von einer vergessen geglaubten Abscheu überschwemmt: Wird diese scheiß Leveltretmühle auf ewig mahlen? Und muss ich bei meinem ersten Trip in die Zukunft genau vor Blizzards Füßen landen?

Ich höre Stimmen und Gezeter hinter mir: "Mama, ich will aber lieber Ponyworld haben!" Darf das wahr sein? Ich drehe mich langsam um - helles Licht, viele Regale, zig Plakate, bunte Verpackungen, übergroße Videospielfiguren. In einer Ecke stehen dutzende Wii 2 in strahlendem Weiß zu einer Pyramide geformt, direkt gegenüber die Kartons mit der Xbox Universal. Ich bin also tatsächlich in einem blöden Spieleshop gelandet. Im Jahr 2011.

Ich schaue mich um - scheinbar wundert sich niemand, dass ich mich hier einfach so vor der giftgrünen Statue materialisiert habe. Wo ist eigentlich die Tür, die zur Datenautobahn zurück führt? Oder war das eine Art Einbahnstraße? Leichte Panik macht sich breit. Habe ich mir den ganzen Kram mit Jack und dem Buick etwa nur eingebildet? Mir wird heiß. Erst will ich mich kneifen. Dann drehe ich vorsichtig meine Hand um - ein blaues Glimmen lächelt mich an. G.R.I.N. ist da. Wenigstens etwas. Durchatmen.



"Per Anhalter in die Spielezukunft" ist eine Fortsetzungsgeschichte, die alle 14 Tage erscheint. So lange, bis Jack der Sprit ausgeht oder die Welt gerettet wurde. Was bisher geschah:

Kapitel I - Das gelbe Taxi

Kapitel II - Der Spielehistoriker

Kapitel III - Tennis for Two

Kapitel IV - Der Feuerwehrmann

Was zuletzt geschah:

Kapitel V - G.R.I.N.

Der Laden ist gut gefüllt. Zwei Verkäufer haben im Getümmel mit Kundengesprächen zu tun, an der Kasse bildet sich eine Schlange von drei Leuten. Ganz vorne zückt ein junger Typ mit Sneakern und Sonnenbrille fünf Hunderter und nimmt ein violettes Paket mit der Aufschrift "Xbox Universal" entgegen. Dahinter wartet ein genervt wirkender Mann mit drei Spielen und Sohn an der Hand. Und zu guter Letzt stochert eine alte Dame in ihrer Handtasche herum.

Die Kasse klingelt, der Verkäufer grinst genau so breit wie der Sneakertyp.

"Viel Spaß damit - die Kiste hat es wirklich in sich! Ist quasi Wii II plus Full Motion Definition, plus Blu-ray und vor allem die Andockstation für den Xboy macht die Konsole einmalig. Handheld, Videoplayer, Motion-Controlling, 800 Gigabyte-Festplatte, Mediacenter und Konsole in einem. Was will man mehr?"

"Eben. Deshalb hab ich den DSi auch verkauft. Hat mir zwei Jahre Spaß gemacht, aber der Xboy hat einfach die geilere Grafik. Und die Handyfunktion. Also, bis demnächst!"

Der Mann mit dem Jungen schiebt sich mürrisch nach vorne, legt drei Spiele auf die Theke und fragt, was er dafür bekommen kann. Der Verkäufer runzelt die Stirn.

"Hm. Mal sehen. FIFA 2009 für die alte Xbox 360? Fünf Euro. Need for Speed: Overdrive? Auch fünf Euro. Und Dragon Age? Auch kalter Kaffee. Fünf Euro, macht zusammen fünfzehn."

"Das ist alles? Mein Sohn will das neue FIFA für Wii II haben - wie viel muss ich dann noch draufzahlen?"

"Aha, der Nachwuchs weiß Bescheid: Bewegungssensitives Kicken in Full HD von Disney Electronic Arts! Guter Geschmack, wirklich guter Geschmack - das wären dann noch 39,95 Euro."

Der Mann grummelt, der Junge grinst und die Spiele wechseln den Besitzer. Nintendo dreht also auch an der Grafikschraube und Microsoft setzt auf bewegungssensitive Steuerung samt Konsolen-Handheld-Hybrid? Denis Dyack hatte also doch Recht, als er 2008 die zwangsläufige Annäherung aller Kontrahenten prophezeite, die zur One-Console-Future führen muss. Nur was ist mit Sony? In den Regalen stehen überall PlayStation 3-Spiele, aber von neuer Hardware ist nichts zu sehen.

Ich schlender ein wenig herum. Eine Mutter versucht, ihre Tochter mit hörbar gereizter Stimme davon zu überzeugen, besser "Englisch Training" zu kaufen:

"Schau mal Schatz, Ponyhof kannst du dir doch zu Weihnachten wünschen. Aber dein Englischlehrer hat gesagt, dass das hier wirklich gut für dich ist! Das ist Spielen und Lernen in einem!"

"Aber ich will nicht lernen! Jessica und Anja haben auch Ponyhof!"

Der Verkäufer schaltet sich ein und beugt sich zu dem Mädchen runter:

"Hey, da sind sogar Minispiele drin in diesem Englisch Training! Und wie wäre es denn, wenn wir dir zusätzlich noch Ponyhofaufkleber einpacken, damit du nicht so lange auf die Pferde warten musst, hm? Wir haben auch Lutscher!"

Die Mutter grinst den Verkäufer dankbar an.

"Genau Schatz, das ist doch eine tolle Idee!"

Als ich mir gerade einen Totalausraster der Kleinen wünsche, knickt sie ein:

"Na gut, Mama. Welche Aufkleber gibt's denn?"

Der Nachwuchs ist auch nicht mehr, was er mal war. Ich wundere mich über die prall gefüllten Regale mit Boxen und Deluxe-Editionen. Also gibt es doch noch keine komplett virtuelle Distribution im Jahr 2011? Das Handbuch ist noch nicht tot? Aber was ist mit Sony - haben die noch keine Nachfolgekonsole entwickelt? Ich schau mir noch mal gelangweilt die PS3-Ecke an und plötzlich fällt mein Blick auf einen Koloss. Das Cover zieht mich magisch an. Und meine Finger greifen fast automatisch zur Packung: Da steht tatsächlich "Shadow of the Colossus II - Platinum Edition". Zum ersten Mal lodert eine Flamme in mir, die mich an meine Kindheit erinnert. Zum ersten Mal überlege ich, wie viel Geld ich dabei habe. Ich drehe die Box um und zuerst springen mir die Awards ins Gesicht. Dann das Zitat "Ein Erdbeben für die PlayStation 3 - dieses Spiel wird euch zittern lassen!" Es macht Klick, ich bin angefixt und marschiere mit dem Spiel in der Hand zur Kasse. 29,90 Euro sind ja fast geschenkt!

Die alte Frau wühlt immer noch in ihrer Tasche und macht keine Anstalten, sich dem Tresen zu nähern - das ist meine Chance! Ich überhole sie seitlich, grinse den Verkäufer an, der grinst zurück und ich lege das Spiel stolz auf die Theke.

"Oh, so eine alte Kamelle soll es sein?"

Am liebsten würde ich dem Kerl etwas entgegnen, aber ich schlucke alles Unverschämte runter und bemühe mich um Haltung.

"Ja, ich habe ein Faible für Klassiker."

"Na ja, kann ich verstehen. Kurz bevor die PlayStation 4 kommt, will man noch mal alles Revue passieren lassen, nicht wahr?"

"Ja, ja - ähm: Wann kommt die PlayStation 4 denn jetzt genau?"

"Also in Japan und den USA kommt sie im März 2012, in Europa im Oktober. Aber wollen Sie wirklich so lange warten und 1200 Euro hinlegen? Die Xbox Universal ist jetzt schon da für 500 inklusive Xboy! Und Wii II gibt's mit Zelda Mythology und Mario Marvellous Magic für 400!"

"Nein, passt schon. Einfach nur das hier."

"Okay, das wären dann 29,90 Euro. Wenn ich noch kurz ihren Ausweis sehen könnte?"

Erst jetzt bemerke ich den faustgroßen roten Aufkleber auf der Verpackung. Erst will ich einfach so meinen Ausweis zücken, aber dann kann ich mir eine Bemerkung nicht verkneifen. Schließlich bin ich Mitte 30 und seit Tagen unrasiert.

"Wieso Ausweis? Seh ich etwa aus wie ein Minderjähriger?"

"Entschuldigung, aber ich halte mich nur an das neue Erwachsenenschutzgesetz."

"Wie bitte? Sie meinen Jugendschutzgesetz?"

"Nein, ich meine das Erwachsenenschutzgesetz, das seit Januar 2010 in Kraft ist. Sie sind scheinbar nicht auf dem neuesten Stand!"

Hinter mir entsteht unruhiges Murren - es hat sich wieder eine Schlange gebildet. Ich fleddere resigniert 30 Euro und meinen Ausweis aus dem Portemonnaie. Was soll's. Ich will einfach nur noch raus aus dem Laden und in Jacks Buick Shadow zocken. Der Mann nimmt meinen Ausweis entgegen, schüttelt den Kopf und betont mit genervter Stimme:

"Erstens ist ihr Ausweis abgelaufen. Und zweitens ist das Spiel erst ab 40 Jahren freigegeben."

Mir wird kotzübel. Irgendetwas in mir macht Klick. Irgendeine Sicherung fliegt raus, mir wird ganz heiß und ich höre mich nur noch schreien:

"WILLST DU MICH EIGENTLICH VERARSCHEN?"

Der Mann weicht entsetzt zurück.

"OB DU MICH VERDAMMT NOCH MAL VERARSCHEN WILLST?"

Erst jetzt bemerke ich zum einen, wie still es in dem Laden geworden ist, und zum anderen, wie weit sich ein feuchter Faden schon aus meinem Mund bewegt hat. Erst jetzt bemerke ich wie in Trance das übergroße bunte Poster, auf dem die Alterseinstufungen des Erwachsenenschutzgesetzes erläutert werden - das Ganze fängt bei USK 18 an, geht über USK 30, USK 40, USK 55 und so weiter bis kurz nach USK 70 noch ein Sticker kommt, auf dem tatsächlich noch "Keine Erwachsenenfreigabe" steht. Ich muss in einem schlechten Film sein. Oder in einem Paralleluniversum. Ich kann jedenfalls nicht in Europa sein.

Der Verkäufer zieht vorsichtig mein Shadow of the Colossus II in seine Richtung und lässt mich nicht aus den Augen, als wäre ich eine giftige Klapperschlange. Wirre Gedanken schießen mir durch den Kopf: Wie lange habe ich nichts mehr gegessen? Warum habe ich die Kettensäge nicht dabei? Wieso ist die deutsche Spielewelt so scheiße? Warum glüht meine Hand so? Mir wird schwindelig und jemand stützt mich von hinten. Ich bin in diesem Moment dankbar für die Hilfe, drehe mich um und starre der alten Frau ins Gesicht. Sie nickt mir fast mitleidig zu. Erst jetzt erkenne ich ihre grauen Handschuhe. Jack hatte mich gewarnt: Die BKfIBU sucht uns. Als sie den Mund aufmacht, blitzen mich blankpolierte dritte Zähne an.

"Dürfte ich ihren Ausweis mal sehen, junger Mann?"


To be continued...


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