Kolumne

hundertprozent subjektiv

KW 39
Freitag, 24.09.2004

Mehr Humboldt, weniger Napoleon!


Die Festplatte ächzt unter der Gigabyte-Last, der Konsolenschrank platzt aus allen Nähten. Man hortet, zockt und verspeist tausende Spiele, aber man wird nicht satt. Trotz des Völlegefühls regt sich immer noch irgendwo der Appetit. Trotz berstender Regale ist man auf der Suche nach etwas Speziellem, etwas Besonderem. Schleicht sich nicht auch bei euch eine seltsame Spieleverdrossenheit ein? Fehlt da nicht irgendetwas? Vermisst ihr gar nichts?

Die Frage kann man vielleicht beantworten, wenn man sich ein paar Games der letzten Wochen in Erinnerung ruft. Nehmen wir einfach FarCry, Doom 3, Sudeki, Second Sight, Catwoman, Spider-Man 2, Champions of Norrath und Onimusha 3. Alle haben eines gemeinsam: Man hat sie viel zu schnell durchschaut, verinnerlicht und verdaut. Alle haben ein Problem, und zwar das System.

Egal ob Shooter, Rollenspiel oder Action-Adventure - sie laufen nach dem Muster der zerstörerischen Aufrüstung ab. Neue Waffen, neue Monster, neuer Level, neue Fähigkeiten. Und wenn man etwas durchschaut, wird es langweilig. Spaß ist mittlerweile levelisiert, skillisiert und monsterisiert. In der gesamten Branche herrscht die Philosophie der Eroberung. Soldaten, Killer, Helden und Generäle werden satt. Aber was ist mit dem Abenteurer, dem Entdecker?

Das Kuriose ist: Dieses Ungleichgewicht ist keine Krankheit der modernen Spielewelt, die von bösen Publishern forciert wird, sondern ein kulturgeschichtliches Phänomen. Selbst vor mehr als hundert Jahren dominierte der Eroberer das Geschehen, während der Entdecker eher stille Erfolge feierte. Ein gutes Beispiel bieten die Zeitgenossen Napoléon Bonaparte (1769 - 1821) und Alexander von Humboldt (1769 - 1859), zwei lebende Gegensätze. Was sagte Humboldt über Napoleon: "Er war voller Hass gegen mich."

Der begnadete Naturforscher geistert ja gerade durch die Gazetten und Fernsehkanäle. Der Spiegel widmete ihm kürzlich eine Titelstory, Enzensberger bringt seine Werke wie den "Kosmos" in edlem Format heraus und zahlreiche Fernsehsendungen sind ihm gewidmet. Und selbst für eine Kolumne in einem Spiele-Magazin kann der "Vorbild-Deutsche" herhalten.

Denn all die hungrigen, unzufriedenen und nach dem Besonderen schmachtenden Spieler des Internetzeitalters haben etwas mit ihm gemeinsam: Humboldt war ein Abenteurer par excellence! Er war kein idealistischer Träumer, sondern ein pragmatischer Haudegen des Geistes, ein Indiana Jones der deutschen Klassik. Er wollte wie Bilbo & Co hinaus in die Welt, den miefigen Staub seiner Heimatstadt Berlin hinter sich lassen. Er floh die Langeweile des spießigen Hauptstadtlebens!

Wollen wir das nicht auch, wenn wir PC oder Konsole anschmeißen? Abenteuerlust? Diese magische Mischung aus Neugier und Entdeckerdrang wird aber derzeit nur selten befriedigt. Dabei bietet die Technik mit all ihrem Textur- & Shaderpomp alle Voraussetzungen.

Wenn man durch die herrliche Botanik von FarCry schleicht, wird einem die ganze Zeit bewusst, was das für ein geniales Abenteuer hätte werden können: Versteckte Höhlen mit alten Artefakten, Fleisch fressende Pflanzen, giftige Schlangen, seltsame Ureinwohner, braune Flüsse mit Alligatoren. Und statt des ganzen Waffenarsenals nur einen Kompass, etwas Dörrfisch und ein Messer im Rucksack - fertig ist FarExplorer! Erinnert sich jemand an "Robinson`s Requiem" von 1994? Das war ähnlich konzipiert.

Aber in der Spielewelt herrscht das System Napoleon. Deshalb wird in FarCry Blei gerotzt, bis die Mündung kocht. So wie der kleine Korse nichts entdecken, sondern viel erobern wollte. Der geniale Feldherr würde sich mit einem Rechner im 21. Jahrhundert sicher pudelwohl fühlen: Man stelle sich vor, wie er in Age of Kings, Ground Control 2 oder Rome: Total War rocken würde.

Und dann Humboldt. Der Pazifist. Der Botaniker. Der Geologe. Was würde er spielen? Vielleicht Adventures. Aber was kann man heutzutage in dreidimensionalen virtuellen Welten wirklich enthüllen und enträtseln? Wo schlummern noch Geheimnisse? Gibt es überhaupt noch zarte Pflanzen im wilden Spiele-Dschungel abseits von Monsterfraß, Levelorgien und Schatzanhäufung? ICO? Beyond Good & Evil? Harvest Moon? Oder wird uns Fable endlich verzücken?

Vielleicht müssen sich einige Entwickler einfach wieder an die Magie des Entdeckerzeitalters wagen und eine Terra Inkognita schaffen, die uns eher mit Unerwartetem verblüfft, als mit Altbekanntem füttert. Man ist als Mensch und als Spieler nur so lange neugierig, wie man im Trüben fischt, im Dunkeln tappt oder nach Antworten sucht.

Also schaltet das grelle System-Licht aus und gebt uns mehr Unbekanntes, mehr Abenteuerkitzel, mehr Humboldt, weniger Napoleon! Bis es so weit ist, kann man ja erst mal Warhammer 40.000: Dawn of War zocken. Und Rome: Total War dürfte die Wartezeit ebenfalls versüßen. Aber dann ist wirklich Schluss...


Jörg Luibl
4P|Textchef 


 

Kommentare

Jörg Luibl schrieb am
Nintendoholik hat geschrieben:du sprichst mir wirlich aus der Seele Jörg. Deine beste Kolumne bisher!...
Danke, danke - auch an alle anderen wie Max_Headroom, Doggy, Eisregen121, Merandis, Icesurfer007 oder gre_bug. Obwohl ich mir beim Verfassen gar nicht sicher war, ob der Humboldt`sche Ansatz greift. Mein Anliegen ist immer, andere Ideen, Philosophien und Gesichtspunkte in die Welt der Spiele zu transportieren. Manchmal gelingt`s...
Nintendoholik hat geschrieben:da man "Angst" hat, dass man in Europa bzw. den USA keinen Absatz findet...
Angst ist ein gutes Stichwort. Denn vor allem Publisher zittern sich gerne in sichere Mainstram-Häfen; mutige Entwickler gibt es genug.
Max_Headroom hat geschrieben:Ich bin ja einer der "ewigen" Story-Verfechter und propagiere Storylines soweit es geht.
Ja, die Story, der Inhalt und die Dramaturgie werden auch immer weiter in den Vordergrund drängen. Irgendwann haben wir den Fotorealismus erreicht - aber auch der 12-Millionen-Polygonen-Mann braucht eine Seele, einen Charakter.
Max_Headroom hat geschrieben:Neuerdings soll Fable eine "vollkommen neue" Erfahrung bringen. Ich habe es noch nicht gespielt, aber was ich im Netz gelesen habe und was ich auf GIGA gesehen habe, haute mich überhaupt nicht vom Hocker. Es erschien mir wie eine X-Box Version von Maximo (2) mit neuen Texturen.
Hihi - das war ein köstlicher Vergleich! Aber noch habe ich es auch nicht gespielt. Trotzdem bin ich gespannt wie ein Flitzebogen, inwieweit sich Molyneux mit seiner an sich grandiosen Idee dem Mainstream angenähert hat...oder eben nicht.
MüderJoe hat geschrieben:Ein Shenmue,Ico oder SOS-the final escape würden sie nach 5 Minuten gelangweilt weglegen. (...)P.S.Ich finde dass Metroid Prime genau die richtige Mischung zwischen Napoleon und Humboldt darstellt..
Ja, die ersten drei Spiele gehören zu den Perlen jedes Konsolenarchivs. Und es stimmt mit Metroid Prime: Vor allem das Scannen und Sammeln von fremdartigen Daten erinnert an Humboldt`sche...
johndoe-freename-69294 schrieb am
Das Problem ist glaube ich, dass sich Gelegenheitsspieler nicht mit etwas komplizierteren Spielen auseinandersetzten wollen/können.
Das beobachte ich sowohl bei meinem Bruder als auch bei Freunden. Man muss schnell ins Spiel reinkommen, darf bestenfalls 2-3 Knöpfe benötigen und wenn keine Nonstop-Action geboten wird, verschwindet das Spiel ganz schnell wieder in der Ecke...
So spielt mein Bruder nur Ego-shooter der einfachen \"Jeden erschießen der auf dem Bildschirm zu sehen ist\" art.
Und meine Kumpels zumeist Sportspiele(Olympia und Fußball) und natürlich auch Ego-shooter.
Ein Shenmue,Ico oder SOS-the final escape würden sie nach 5 Minuten gelangweilt weglegen.
P.S.Ich finde dass Metroid Prime genau die richtige Mischung zwischen Napoleon und Humboldt darstellt.
Max Headroom schrieb am
Fantastische Kollumne. Eindeutig ! Respekt !
Ich bin ja einer der \"ewigen\" Story-Verfechter und propagiere Storylines soweit es geht. Aber manchmal muss ein Zocker ausspannen und Prügelspiel-ähnlich die Sau rauslassen :)
Dennoch.. ein FarExplorer... DAS wäre wahrlich ein genialer Titel. Nehmen wir z.Bsp. das alte Die Hard (Nakatomi Plaza). Anstatt einen gradlinigen Shooter zu basteln, hätte man eine komplexe RPG/DeusEx ähnliche Mechanik einbauen können. Es existieren aber hier und da *glücklicherweise* immer noch Langzeit-Perlen wie z.Bsp. Gothik im Fantasy-Adventure Bereich oder X/X2 im Space-Opera Bereich. Doch in der Shooter-Welt sind solche Spiele leider eine Rarität.
Seit einiger Zeit schwirrt mir im Kopf eine Spielidee rum, bei der man die Rolle eines 007-ähnlichen Geheimagentes annehmen muss. Der Unterschied zu den klassischen Spielen ist, es ist KEIN Haudrauf-Shooter wie die übrigen Bond-Titeln, sondern stark an Deus Ex und NOLF angelehnt. Die Werte pusht man sich langsam auf, indem man Sidequests löst oder besonders unauffällig handelt. Eine spezielle intelligente Engine bastelt im Hintergrund an der Storyline und ermöglicht hunderte von Aufträge, ohne Wiederholung. Die Landschaften sind ähnlich weitläufig wie in Project IGI und die Missionen schwanken vom simplen Beschatten bis hin zur Industriespionage und Sabotage. Man kann selbst die Sache in die Hand nehmen, oder Leute rekrutieren, ... und und und.
Die Idee ist da, die Lust auch... nur kein Team dafür ;)
Viele Spiele versprechen Freiheit. Neuerdings soll Fable eine \"vollkommen neue\" Erfahrung bringen. Ich habe es noch nicht gespielt, aber was ich im Netz gelesen habe und was ich auf GIGA gesehen habe, haute mich überhaupt nicht vom Hocker. Es erschien mir wie eine X-Box Version von Maximo (2) mit neuen Texturen. Da wird hoffentlich mehr zu sehen sein, das muss ich abwarten.
Aber im Grunde genommen sind der Grossteil der Spiele alle auf dem selben Grundmuster gestrickt. Ob es ein Halb-Leben oder ein FEAR...
johndoe-freename-44630 schrieb am
du sprichst mir wirlich aus der Seele Jörg. Deine beste Kolumne bisher! Allerdings muss ich auch sagen, dass \"Mainstreamgames\" positive Seiten haben, insbesondere für den e-sports. Stellt euch doch mal vor es gäbe in der Zukunft nur noch Shooter wie Stalker (weil es gerade als Beispiel gebracht wurde). Wie soll man dort spannende, tunierartige Duelle zwischen menschlichen Spielern abhalten. Daher brauch der Markt Spiele wie UT, CS oder Doom. recht geben muss ich auch Merandis, dass gerade für den GCN (nicht NGC, denn es heißt Gamecube of Nintendo) noch Spiele rauskommen, die nicht für den Massenmarkt bestimmt sind. Da wären zum Beispiel Animal Crossing, Donkey Konga, Harvest Moon, Wario Ware etc. Und es gibt noch einige weitere (Konsolen-)games (nicht nur für die Nintendokonsolen), die nicht für die breite Masse entwickelt werden, jedoch dann meistens leider nur in Japan erscheinen, da man \"Angst\" hat, dass man in Europa bzw. den USA keinen Absatz findet...ich weiß ich bin jetzt etwas vom der eigentlichen Kolumne weg, aber egal...
johndoe-freename-39533 schrieb am
Respekt! Sehr schöne und durchaus zeitgemäse Kolumne! Kann dem Poster über mir (Merandis) beistimmen. Ist bei meinem 11jährigen Neffen voll und ganz das selbe!
schrieb am