Im Test: Game of Geduld
"Die Geschichte liebt es bisweilen, sich auf einmal in einem Menschen zu verdichten, welchem hierauf die Welt gehorcht."
"Das Antizipieren eines Weltplanes führt zu Irrtümern, weil es von irrigen Prämissen ausgeht."
Selber Geschichte schreiben
Beide Zitate stammen von Carl Jakob Burckhardt (1891 – 1974), dem großen Schweizer Historiker, der damit zwei Merkmale von Crusader Kings 3 ganz gut trifft: Zum einen schlüpft man in die Rolle von Anführern mit Gestaltungsmacht. Zum anderen muss man oft zusehen, wie die Geschichte alle eitlen Pläne zermalmt. Trotzdem ist da immer diese historische Chance...
Des Kaisers neue Kleider
Einsteiger und Strategen mit ästhetischen Ansprüchen schauen nicht nur auf Karten, Tabellen oder Zahlen, sondern blicken direkt in die Augen komplett animierter Fürsten. Sie taxieren einen, als wollten sie sagen: Du willst herrschen? Du willst mich spielen? Du willst das Schicksal meiner Familie leiten? Du weißt gar nichts!
Zwar gibt es mal Probleme mit den Haaren oder Händen, die durch Kleidung ragen, dazu einige Klone bei Kindern. Aber die Fülle an sich verändernden Figuren und visuellen Merkmalen ist beeindruckend. Und nach einer Schlacht samt Verwundung kann auch ein zuvor tapfer strahlender König wie Rocky Balboa aussehen, der lieber nach Adrian verlangt. Mit dieser Visage muss man dann in die nächste Ratssitzung...
Komplett zoombare Karte
Leider lässt die angenehm zoombare Karte die Details des Figurendesigns vermissen. Die Brandung an der Küste ist ansehnlich, aber Städte, Klöster, Burgen oder landschaftliche Merkmale sind kaum erkennbar. Trotzdemgibt es ansehnliche Karten mit edlen Übergängen, die auf Knopfdruck zwischen zig Ansichten wie Grafschaften, Kulturen oder Religionen umschaltet, von denen es dutzende gibt - auch den heidnischen Glauben des Nordens oder der Slawen. Menschenopfer, Bekehrung? Alles dabei.
Zunächst muss man sich aber zurechtfinden. Sehr praktisch angesichts all der verwirrenden Wappen, die man geografisch nicht zuordnen kann: Fährt man mit der Maus rüber, wird das entsprechende Land auf der Karte aufgehellt. Allerdings fehlen auf lange Sicht nützliche Filter für Diplomatie, Militär oder Wirtschaft.
Globale Strategie
Das Spektrum dieser globalen Strategie ist auch ohne diese offenen Wünsche enorm. Trotzdem ist das natürlich keine Simulation: Es gibt zwar einen authentischen Rahmen, viele kulturelle und religiöse Schwerpunkte sowie “sichere” historische Entwicklungen wie etwa die Gründung des Danelag, die erwähnten Kreuzzüge oder das Aufkommen des schottischen Nationalbewusstseins. Aber das ist letztlich ein Sandkasten voller Algorithmen und Zufälle, in dem die Geschichte anders geschrieben werden kann.
Facebook im Mittelalter
Das hat natürlich auch Reize und eröffnet theoretisch unendliche Möglichkeiten der Interaktion - man kann die Meinung ja auch positiv verändern. Überhaupt ist das ein freies Spiel ohne ein klassisches Ziel wie etwa die Welteroberung oder das meiste Gold. Ganz im Sinne Machiavellis sollte man alles tun, um die ewige Währung zu mehren, nämlich die Bekanntheit oder den Nachruhm, der die eigene Dynastie bis auf die elfte Prachtstufe "Legendär" bringen kann.
Von Europa über Asien bis Afrika
Aber wo und mit wem soll man bloß anfangen, wenn man die Qual der Wahl von Island über Italien bis Indien hat? Mit einem Kleinkönig aus Spanien oder einem Khan aus Asien? Mit einem bekannten Karolinger oder einem Häuptling aus Trondheim? Sobald man den bunten Flickenteppich von Weltkarte öffnet, wird man von der schieren Zahl an Reichen erschlagen und kann erahnen, warum man dieses Subgenre auch Globalstrategie nennt.
Als Startpunkt kann man entweder 867, also die Blütezeit der Wikinger, oder ihren oft postulierten Endpunkt im Jahr 1066 wählen, als Wilhelm der Eroberer diesen verrückten Plan mit England hatte - heute würde man diesen Coup vielleicht "Brentrance" nennen.
Wer eine große Herausforderung sucht, der kann ja mal den angelsächsischen König im Jahr 876 spielen. Achtet auf seinen verzweifelten Blick, wenn Ragnar Lodbroks Söhne mit ihren riesigen Heeren in Britannien landen - und zwar an allen Küsten, um in Ostanglien mal so richtig Rache an König Aelle zu nehmen. Hier hat sich Paradox augenscheinlich von der TV-Serie Vikings inspirieren lassen. Ich empfehle: Startet mit einem als "leicht" markierten Fürsten, seid also selbst erstmal ein Wikinger wie Ivar der Knochenlose oder Hvitserk mit vielen treuen Kriegern, sonst zermalmt euch die Geschichte vielleicht nach wenigen Zügen.
De jure als Kriegsgrund
Man erfährt z.B., wie wichtig die eigene Familienplanung sowie die positive Meinung der Ratgeber ist und dass man manches klug an Vasallen delegieren muss. Man leitet die erste Schlacht gegen eine benachbarte Baronie, die “De jure” zur eigenen Grafschaft gehört - was bedeutet, dass es einen rechtlichen Anspruch gibt, so dass man den Krieg erklären kann. Der fehlt? Der eigene Bischof kann diese Ansprüche fingieren, also Urkunden fälschen - das war in der Kirche tatsächlich so beliebt wie heute Cheats in GTA. So kann ein irischer Kleinkönig eine Grafschaft wie Gwynned erobern, die “De jure” zu Wales gehört. Aber warum nicht gleich nach Afrika? Oder zum Kaukasus?
Baron, Graf, Herzog, König, Kaiser
Vorsicht vor zu großen Plänen, denn die Mühlen der Geschichte mahlen gnadenlos in Crusader Kings 3 – und alle wollen an die Macht. Wer z.B. mit einem kleinen Fürsten und 300 Mann beginnt, der kann bei all zu aggressivem Spiel froh sein, wenn er seinen Enkel noch sieht.
Die KI ist schon auf dem normalen Schwierigkeitsgrad nicht zimperlich und kennt ihre Rechte: Irland und Wales gehören “De jure” zum Kaiserreich “Britannien”, so dass man einen aufstrebenden englischen König fürchten sollte. Ansprüche darauf könnte dieser aber erst offiziell erheben, wenn er zwei britannische Königreiche, 74 Grafschaften und 1000 Gold vorweisen kann. Es gibt trotz der verwirrenden Vernetzung von Familien also klare Hierarchien und Voraussetzungen, die das Spiel in der Balance halten - und einem nebenbei etwas über das Mittelalter verraten. Ach so, ihr wollt selbst dieser neue Arthur werden? Bedenkt, dass dieses digitale Mittelalter so globalisiert und letztlich unvorhersehbar ist...
Stat(ist)ische Kriegführung
Apropos Kriegführung: Die bleibt leider ein großer Schwachpunkt in Crusader Kings 3, denn man hat kaum taktischen Einfluss, kann kein Schlachtfeld bestimmen, keine Formationen oder Manöver voreinstellen und beobachtet auch nicht selten Chaos statt geostrategischer Logik auf der Karte. Ich erwarte natürlich keine 3D-Darstellung à la Total War, aber man könnte Schlachten im Gelände z.B. optional im Stile einiger Wargames wie Field of Glory: Empires darstellen. Oder einfach etwas interaktiver.
Es ist auch schön, dass die Verbündete KI schnell Truppen aushebt, die wie gesagt über weite Entfernung anreist. Außerdem muss man über See nicht mehr kompliziert einschiffen, sondern bezahlt quasi die Überfahrt - was allerdings zur Folge hat, dass Flotten quasi keine Rolle spielen, was natürlich geostrategisch extrem schade ist.
Chaotische Verhältnisse
Animiert wird nur, wie sich Ritter symbolisch auf der Karte einen Schlagabtausch liefern, während man auf eine statische Tafel schaut, auf der Zahlen sinken, bis einer verloren hat und geknickt von dannen zieht. Es kommt gerade bei Kriegen mit mehreren Verbündeten auf beiden Seiten zu sinnlosen und chaotischen Aktionen.
Manchmal nimmt die KI dumme Umwege, beteiligt sich nicht an wichtigen Schlachten, besetzt keine Orte, zieht plötzlich ab oder verweilt irgendwo. Dann wiederum schickt mir der französische König satte 3000 Mann, weil er – aus welchen Gründen auch immer - tatsächlich meine Tochter geheiratet hat und ich eine Grafschaft in Irland angreife? Chaos kann mit diesen Freunden auch cool sein...
Kein Kriegsrat mit Verbündeten
Da man wirklich keinerlei militärische Planung in der Koalition vornehmen kann, etwa eine Zangenbewegung oder Fokus auf Burgeroberung, ist man darauf angewiesen, dass die Partner hoffentlich etwas Sinnvolles tun. Und weil sie das nicht immer tun, sondern sich dumm aufteilen, verspielen sie sogar manchmal den klaren Vorteil der Zahl, also die reine Macht der numerischen Überlegenheit, die nach Clausewitz meist ausreicht!
Totaler Friede ab 100 Prozent!
Personenverbandstaat managen
Aber es ist als globale Strategie mit Schwerpunkt auf Rollenspiel und dynastische Beziehungen ausgelegt. Und dieses Wesensmerkmal des Mittelalters, das aus so genannten Personenverbandstaaten bestand, in denen eine Adelsfamilie weit verstreut Land, Rechte und Titel besitzen konnte, trifft Paradox im Gegensatz zum Kriegsgeschehen sehr gut. Man denke an Heinrich den Löwen, der die voneinander getrennten Herzogtümer Sachsen und Bayern als Lehen besaß und so zum stärksten Vasallen, aber auch Rivalen von Friedrich Barbarossa avancierte.
Auch dieses Spannungsverhältnis zwischen mächtigen Herzögen und Königen wird spürbar: Man kann nicht alles als König besitzen, denn die eigene Domäne oder das Privatgut, hat je nach eigenem Fortschritt als Herrscher, seine Grenzen. Und falls man zu viel anhäuft, wachsen Korruption und Unzufriedenheit. Also sollte man den Titel einer eroberten Grafschaft und damit das Land an Vasallen vergeben, die nach dem feudalen Prinzip zu "auxilium et consilium", also verkürzt Rat und Hilfe, verpflichtet sind. Besonders mächtige Herzöge fordern sogar einen der sechs Sitze im Rat, sonst sinkt ihre Gunst!
Ungeduld macht dumm
Alle fünf Jahre kann man zudem Schwerpunkte in seinem Lebenswandel innerhalb von Diplomatie, Krieg, Verwaltung, Ränke und Bildung ändern - als würde man gemischte Klassen in einem Rollenspiel wählen. Jeder dieser Bereiche führt zu mehreren Pfaden: Wer sich auf den Krieg fixiert, findet dort u.a. den Weg des galanten Ritters. Folgt man diesem Lebenswandel konsequent, schaltet man nützliche Charaktereigenschaften frei, die sich direkt z.B. auf Militär, Verwaltung oder Beziehungen auswirken oder gar Spielmechaniken wie mehr Komplotte freischalten.
Rollenspiel mit Anspannungsstufen
Cool ist: Die Eigenschaften verlangen vom Spieler auch echtes Rollenspiel. Ihr seid gierig und lüstern oder bescheiden und tapfer? Dann verhaltet euch auch so! Wer gegen seine klar definierten Eigenschaften entscheidet, z.B. bei den vielen Zufallsereignissen, wo man grausam, hart oder nachsichtig sein kann, der wird immer angespannter, angezeigt auf einer Leiste. Steigt die Zahl der Aktionen gegen den eigenen Charakter zu stark an, sinkt das geistige Wohlbefinden bis hin zum Burnout oder Wahnsinn - eine sehr schöne Wechselwirkung.
Deshalb muss man auch genau hinsehen, wenn man jemanden an seinem Hof oder gar in seinen Königsrat aufnimmt: Ist jemand nämlich “ehrgeizig” oder “hinterhältig”, dazu Ratskanzler und Landesfürst, könnte er im Hintergrund daran arbeiten, selbst König zu werden - besser sind Leute, die "zufrieden" oder "ehrlich" sind. Trotzdem kann man ihnen nicht einfach ewig Befehle erteilen: Sie folgen nicht wie Roboter, sondern zeigen je nach Aktion und Zuwendung mehr oder weniger Sympathie von minus 100 bis plus 100 gegenüber dem Herrscher. Wer sie nicht mit positiven Komplotten umgarnt, mit Gold oder Titeln beschenkt, hat plötzlich Streikende oder gar Rebellen vor sich.
Affären und Komplotte
Man könnte auch subtiler über Komplotte vorgehen und den Spion nach dunklen Geheimnissen suchen lassen, von der Perversion bis zur Ketzerei, die man als leichtes oder schweres Druckmittel einsetzen kann. Als Lehensherr könnte man einen Rivalen, der eigener Vasall ist, auch dazu zwingen, den Rittern beizutreten, so dass er in der Schlacht sterben könnte. Moment, er hat gar keinen Erben und ist schon 64? Manchmal hilft die Zeit oder eine Pest und die Titel kehren zurück...
Aber warum nicht heimlich einen Sohn mit der Königin von Schottland zeugen? Auch Affären können ein probates Mittel der Politik sein – falls man denn in der Charakterentwicklung selbige Skills fördert und nicht aussieht wie ein Troll: Mit körperlichen Merkmale wie "Riesenwuchs"oder zu viel "Schrecken" durch schlimme Taten wird man kein Casanova.
Unheimliche Tiefe
Wer zu ungeduldig oder gierig ist, der wird sein böses Erwachen erleben. Im Gegensatz zur reinen 4X-Strategie oder so manchem Rollenspiel gibt es nicht ständig sichtbare Fortschritte, sondern nur kleine Schritte. Zwar häuft man Gold, Prestige, Frömmigkeit & Co wie Rohstoffe an, außerdem gibt es permanente Erfolge wie die eigene Bekanntheit. Aber hier dauert der Bau einer Burg drei, die Erforschung neuer Technologien über zehn und die Bekehrung einer Grafschaft an die 30 Jahre - ohne Geduld geht gar nichts!
Die braucht man auch, wenn man die Perspektive der Vererbung strategisch nutzen will: Man kann potenzielle Ehepartner ja gezielt nach Fruchtbarkeit sowie Eigenschaften sortieren, die sie vielleicht an Kinder weitergeben. So kann man zumindest versuchen, eine Art vorteilhafte Auslese für seine Dynastie zu arrangieren. Die Möglichkeiten für eigene Strategien sind theoretisch enorm. Auch wenn die praktischen Interaktionen letztlich recht überschaubar sind, kann man sich manchmal angesichts all der Wappen, Figuren und Länder verloren fühlen. Damit man nicht den Handlungsfaden verliert, helfen einem die stets aktualisierten "Anliegen" - das sind wichtige Entscheidungen für Heirat, Krieg & Co, die man quasi abarbeiten kann.
Alles wieder von vorne
So muss man sich auf das Wichtige konzentrieren, was gut ist, aber fühlt sich an anderer Stelle hilflos und eingeschränkt: Warum kann mein Spitzel kein Netzwerk etablieren? Warum kann ich nicht neben dem Bischof weitere Missionare einsetzen? Hinzu kommt ja, dass die Dynastiewechsel manchmal unglaubhaft in ihren Auswirkungen wirken: Der König stirbt, sein einziger Sohn übernimmt den Thron. Warum sinkt die Meinung aller Veteranen im Rat plötzlich so drastisch?
Kein Sympathien im Rat
Fazit
Crusader Kings 3 wird moderner präsentiert, trumpft mit zig animierten Persönlichkeiten auf und bleibt der Tradition aus dem Hause Paradox treu. Die Schweden inszenieren keinen schnellen historischen Sex für Klickeroberer, sondern ein komplexes Game of Geduld. Man weiß nach dem sehr guten Tutorial zwar, wie die Oberfläche funktioniert, aber hat keine Ahnung von der Tiefe, die darunter lauert. Diese globale Strategie zwingt zur Entschleunigung und zum Reinknien in ihre Zusammenhänge, während man zig Ereignisse entscheidet und Intrigen spinnt. Aber bei allem Lob, auch für die kreativen Rollenspielaspekte, wie etwa Lebenswandel, Affären und Anspannung, enttäuscht die Kriegführung mit Statik und militärtaktischem Chaos auf der Karte. Außerdem vermisse ich konkretere diplomatische und wirtschaftliche Möglichkeiten sowie mehr Gestaltungsfreiraum, damit man nicht so schnell das Gefühl hat, dass man nach einem Thronwechsel wieder die altbekannten Mühlen bewegen muss. Trotzdem ist das richtig gute Strategie, die auch köstliche Anekdoten erzählen kann! Es gibt ja kein festes Ziel außer dem Marathon der eigenen Dynastie, die ihre Spuren hinterlassen kann – und genau darin liegt der Reiz. Also schlüpft in des Kaisers neue Kleider, schmiedet große Pläne und erlebt, wie sie im Rad der Geschichte zermalmt oder tatsächlich besungen werden.
Pro
Kontra
Wertung
PC
Die Schweden inszenieren ein komplexes Game of Geduld: Diese globale Strategie zwingt zur Entschleunigung und zum fürstlichen Rollenspiel. Auch wenn der Krieg zu statisch ist und einige Wünsche offen bleiben, ist das richtig gute Unterhaltung.
Echtgeldtransaktionen
Wie negativ wirken sich zusätzliche Käufe auf das Spielerlebnis, die Mechanik oder die Wertung aus?
- Es gibt keine Käufe.
- Dieses Spiel ist komplett echtgeldtransaktionsfrei.
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