Emotionale Belastung
Sieht man Michonne, wie sie sich mit ihrem scharfen Schwert brutal durch die Zombie-Horden metzelt oder sich selbst mit Schlägen und Tritten effektiv zur Wehr setzt, bekommt man schnell den Eindruck, dass diese toughe Lady so schnell nichts aus der Fassung bringen kann. Doch der Eindruck täuscht: Schon im ungewöhnlichen Psycho-Einstieg macht Telltale deutlich, dass diese feminine Kampfmaschine vor allem von traumatischen Erlebnissen angetrieben wird. Michonne kämpft nicht nur gegen die Scharen von Untoten, sondern vor allem gegen ihre eigenen Dämonen, die sie verfolgen und sie vor allem psychisch an ihre Belastungsgrenze drängen.
Zombies haben bei Michonne und ihrer scharfen Klinge nichts zu lachen.
Wer Michonne in diesen etwa 100 Minuten der ersten Episode begleitet, bekommt abseits der etwas zu ausgeprägten Zombie-Metzeleien ein paar interessante Einblicke, was im Kopf von ihr vorgeht. Doch auch ihre neuen Begleiter sowie weitere Figuren bringen viel Potenzial mit, das in den Dialogen und Situationen bereits angerissen wird. Wem kann man glauben? Wer ist vertrauenswürdig? Was hat es mit der Gemeinschaft auf sich, die von einer Frau und ihrem brutalen Bruder angeführt wird? Nach diesem sehr kurzen Einstieg, bei dem neben all der Gewalt und Dramatik auch emotionale Momente sowie Entscheidungen den Handlungsverlauf bestimmen, hat man jedenfalls mehr Fragen als Antworten.
Das bekannte Muster
Bei der Spielmechanik bleibt sich Telltale treu und liefert erneut eine Aneinanderreihung von Reaktionstests in Kombination mit den üblichen Dialogoptionen und eingeschränkten Interaktionen mit der Umgebung in kleinen Arealen. Der Rätselanteil ist ebenfalls wieder sehr niedrig bzw. gar nicht erst vorhanden. Wie ich bereits angedeutet habe, hätte ich auf die eine oder andere Schwert-Metzelei verzichten können, weil sie zu dicht aufeinander folgen. Aber in den Momenten dazwischen unterhält das Überleben in der Zombie-Apokalypse auf einem gewohnt guten Niveau mit angenehmen Gesprächen und stimmungsvollen Momenten. Besonders ein Verhör dürfte im Gedächtnis haften bleiben, auch wenn Telltale ausgerechnet in dieser Situation als Skript-Betrüger entlarvt wird. Spätestens beim zweiten Durchspielen muss man feststellen, dass die gewählten Antworten nicht die Situation beeinflussen, sondern die Situation künstlich so gestaltet wird, um die Dramaturgie zu erhöhen. Diese Masche verfehlt zwar nicht ihren Zweck, aber trotzdem kam ich mir bei meinem zweiten Besuch auf dem „heißen Stuhl“ ein wenig veräppelt vor.
Was ist hier passiert? Und wer hat diesen ehemaligen Menschen zuerst gefesselt und dann brutal verenden lassen?
Die filmreife Inszenierung in Kombination mit dem comichaften Artdesign ist immer noch top, obwohl mir die Mimik und Gestik manchmal eine Spur zu flott und unpassend umschalten. Natürlich wirkt es jedenfalls nicht, wenn sich der Gesichtsausdruck innerhalb dem Bruchteil einer Sekunde zusammen mit der Körperhaltung verändert. Die englischen Sprecher sind durchweg klasse besetzt – allen voran Schauspielerin Samira Wiley („Orange is the new Black“), die in der Rolle von Michonne die Darstellerin der TV-Serie, Danai Gurira, mehr als würdig vertritt. Trotzdem dürfte es für manche Fans traurig sein, dass Telltale nicht die Original-Akteurin für die Sprachaufnahmen verpflichten konnte oder wollte. Die Qualität der deutschen Untertitel ist dagegen weit vom hohen Niveau der Sprecher entfernt und enttäuscht mit zahlreichen Rechtschreib- sowie vereinzelten Grammatikfehlern.