Horace15.02.2021, Matthias Schmid
Horace

Im Test: Was dann geschah, war unglaublich...

Horace ist weit mehr als ein kleiner Indie-Geheimtipp: Der Titel fasziniert vordergründig mit durchdachter Plattformer-Mechanik, witzigen Minispielen und kniffligen Bosskämpfen, ist aber gleichzeitig warmherziges Androidenmärchen und tragische Familiensaga. Satte 90% holt sich der britische Überraschungs-Hit in unserem Test.

Besser spät als nie

Mit dem Test von Horace sind wir leider doppelt spät dran: Für den PC erschien das Spiel bereits im Juli 2019, die (technisch tadellose) Switch-Umsetzung folgte im Oktober 2020. Aber bei manchem Indietitel lässt es sich leider schwer umsetzen, immer zeitnah mit dem Test am Start zu sein - deshalb besprechen wir seit Anfang 2021 auch offiziell Spiele, die schon länger als im laufenden Jahr erhältlich sind. Seit November 2020 wartete der Titel auf meiner Switch, ab Mitte Januar bin ich nun endlich dazugekommen, mich des Themas anzunehmen. Zum Glück habe ich das noch getan - denn Horace ist ein in vielerlei Hinsicht außergewöhnliches Videospiel und ganz sicher eines der spannendsten der letzten Jahre! Obendrein ist es auch noch umfangreich und bisweilen sehr anspruchsvoll: Ich habe mitunter ganz schön geflucht, war aber stets so motiviert und neugierig, dass ich beinahe allabendlich wieder und wieder zum Pad griff. Aber worum geht es eigentlich?

Videospielen im Kreis seiner menschlichen Familie - Horace' "Besitzer" sind dem kleinen Blechmann wohlgesonnen.
Im Kern ist Horace ein 2D-Plattform-Abenteuer mit viel Story und regelmäßigen Denksportaufgaben. Gleichzeitig ist es aber viel mehr: Horace erzählt eine bisweilen emotionale Familiengeschichte, in der es ebenso um Krieg und Frieden, Freundschaft, Verrat oder den Sinn des Lebens geht wie um Bankraub, Zeitreisen, Videospiele oder das Aufsammeln von Müll. Klingt komisch, und ist es auch. Oft sogar sehr! Alles beginnt mit der Auslieferung und dem anschließenden Einzug des humanoiden Roboters Horace bei einer Patchwork-Familie: In charmanter, aber nicht übermäßig hübscher Pixelgrafik erlebt man die ersten Tage und Aufgaben von Horace, der den vielen Zwischensequenzen mit seiner blechern-emotionslosen Computerstimme einen besonderen Touch verleiht. Zum Beispiel lerne ich die Steuerung und ein paar simple Spielmechaniken in der Turnhalle, wo mir die Familie einen kleinen Hüpfparkour aufgebaut hat: Damit es klarer ist, wo Horace hinspringen darf und wo nicht, werden die „Abgründe“ mit roten Handtüchern ausgekleidet. Und Horace merkt passenderweise an, dass das Ganze nun schon recht deutlich nach tödlicher Lava aussehe. Dies ist nur die erste von vielen geistreichen bis ironischen Anspielungen an Videospiele im Speziellen oder die Popkultur im Allgemeinen. Später zockt Horace eine Art Pong gegen den Familienvater, darf in der großen Stadt die örtliche Arcade besuchen, um dort charmant nachprogrammierte Spielhallen-Klassiker zu daddeln, und wird auch im späteren Spielverlauf immer wieder auf charmante Referenzen zur Telespiel-Frühzeit treffen.

Kunterbunter Strauß

Plattform-Herausforderung, Stromfallen und Gehirnverdrehung - geht Horace die Wand hoch, dreht sich auch die Spielperspektive.
In kaum einen Videospiel bisher habe ich derart abwechslungsreiche, vielschichtige und verrückte Dinge erlebt: Horace rettet an einer Felswand die abgestürzte Tochter der Familie, durchschwimmt tödliche Hinderniskurse volle Kreissägen und Elektrozäune, lenkt einen Fluchtwagen, verdient Geld in Minispielen, hilft einer Messie-Frau beim Ausmisten ihrer Garage, flieht in Abwasserkanälen vor einer Flutwelle, tritt mehrfach im Duell gegen riesige Kampfroboter an, entkommt kopfüber lebendig gewordenen Küchengeräten, legt sich mit der Herzkönigin des Wunderlands an, durchkämmt grobpixelige Dungeons voller Feinde, nimmt beim örtlichen Kirchenfest am Torten-Wurf-Wettbewerb und Sackhüpfen teil, lässt sich zum König krönen, spielt Basketball, meistert eine Shoot’em-Up-Passage, türmt in der Urzeit vor einer Affenbande, rettet eine Familie aus einem brennenden Haus, spielt Schlagzeug, löst Laserrätsel, findet Passwörter heraus, turnt durch ein Gewächshaus voller fleischfressender Pflanzen, sprintet wie Sonic um den Globus, unternimmt eine Reise zu unserem Erdtrabanten, macht Schnappschüsse im Foto-Automaten, tuckert mit dem Zug durch Südengland, sinniert über den Sinn seiner Existenz, läuft in Ego-Perspektive durch düstere Gänge und fährt auf dem Rummel in einem brennenden Riesenrad. Unter anderem! Es ist buchstäblich irre, was man in den 15 bis 20 Stunden bis zum herzerwärmenden Abspann erlebt. Immer wieder fragt man: Was kommt denn noch alles? Welche wilde Mission steht als Nächstes an? Und: Wie zur Hölle kommen die Entwickler da drauf?

Drehen, Hopsen, Denken

Die dem Ganzen zugrundeliegende 2D-Mechanik ist dabei aber schnell durchschaut und bis ins Detail durchdacht: Schon früh im Spiel nämlich kann Horace, wenn er an eine Wand kommt, einfach daran hoch und sogar kopfüber an der Decke laufen. Damit einher geht nicht nur ein Perspektivtausch um 90 Grad für mehr Übersicht, sondern auch ein regelmäßiger Wechsel der Schwerkraft: Wer also eine Wand hochgeht und dann über eine Kante springt, kann plötzlich völlig anders durchs Level rauschen. 

Die Idee des Kopfüber-Laufens an der Decke ist natürlich nicht neu: Schon 1986 konnte der Spinnenroboter im britischen C64-Spiel Arac kopfüber durchs Level stapfen, auch Irems NES-Mech-Actioner Metal Storm bot schon vor zwanzig Jahren ein ähnliches Feature. Als so ausgeklügeltes und gleichzeitig wesentliches Spielelement wie in Horace habe ich die Idee aber noch nie umgesetzt gesehen: In beinahe jedem Raum gibt es Elemente, die explizit um diese Mechanik herumgebaut sind - dazu zig Bonusgegenstände oder Geheimräume, die man nur erreicht, wenn man punktgenau hüpft und dabei buchstäblich um die Ecke denkt.

Shoppingtour mit Flaschenpfand

Horace dreht mehrere Jahrzehnte Popkultur durch den Fleischwolf - hier wird Sonic mit Alice im Wunderland vermählt.
Horace’ früh kommunizierte Lebensaufgabe, das Sammeln von einer Million Stück Müll, erweist sich dabei als doppelter Kniff: Stets ist man bemüht, alle herrenlosen Teile in einem Raum einzusacken - weil man damit der magischen 1.000.000 näher kommt und weil eine „Alle Teile eingesammelt“-Meldung eine Kammer als vollständig entmüllt bestätigt. Zudem können die guten Stücke beim örtlichen Schrotthändler in bares Geld getauscht werden. Manche Upgrades winken nach geschafften Bosskämpfen, anderer shoppt Horace dann mit der Kohle bei der lokalen Roboter-Boutique: So wird sein anfangs bescheidenes Moverepertoir wird durch Schwimmfähigkeit, Zappelsprung nach Yoshi-Art, Rammattacke, Müll-Magnet oder geducktes Laufen erheblich erweitert - was euch wiederum entweder das Vorankommen und Beutemachen erleichtert oder, nach Metroidvania-Manier, Zutritt zu neuen Abschnitten gewährt. 

Guitar Hero in 16-Bit? Horace ist voller charmanter Zitate der Videospielgeschichte.
Zwei erst relativ kurz vor dem Finale verfügbare, mächtige Upgrades, die ich an dieser Stelle nicht enthüllen möchte, komplettieren schließlich Horace Fähigkeiten-Liste und erleichtern das erneute Absuchen von im Story-Verlauf besuchten Levels - perfekt, um sich den Traum von der Müll-Million zu erfüllen.

Wer Sorge hat, die finale Sequenz auszulösen, obwohl er eigentlich noch etwas erledigen könnte, der darf aufatmen - der letzte Speicherpunkt vor dem Finale kann nach dem Abspann erneut betreten werden.

Die viele kniffligen Sprungpassagen durch Laserbarrieren, die Sprints über ausfahrbare Bodenstacheln oder das gehüpfte Umgehen von Feinden (eine Landung auf dem Kopf hilft nichts) werden von Horace’ Schildsystem erleichtert: Hat man das entsprechende Upgrade erworben, einen oder mehrere Schilde mitzuführen, kann man die als goldene Kugeln visualisierten Helfer an vielen Stellen im Spiel einsammeln. Sie verhindern, dass schon der erste Treffer Horace zum Startpunkt des aktuellen Raums zurückbeamt. Und sie können auf Wunsch in die Hosentasche gepackt werden. Soll heißen: Traut ihr euch zu, den aktuellen Abschnitt auch ohne Nutzen eines Schildes, dann aber vielleicht mit mehreren Versuchen, zu meistern, dann deaktiviert ihr sie einfach per Knopfdruck und schaltet sie erst im nächsten Raum wieder an. 

Der Kampf mit dem Feuerschuft gehört zu den besten Endgegner-Scharmützeln. Werft dem Burschen die eigenen Bomben um die Ohren.
Denn dort wartet ja vielleicht ein Boss: Die kreativen Kämpfe mit den Levelwächtern warten alle mit mehreren Phasen auf, driften schon mal in Wettrennen oder Retro-Minigames ab und können euch etliche graue Haare sprießen lassen. Zum Glück mindern Rücksetzpunkte das Frustpotenzial - und ehrlich gesagt sind alle der beinharten Passagen schlussendlich schaffbar, wenn man die Ruhe bewahrt und die Muster seiner Kontrahenten gut liest.

So viel zu tun

Story-Schreiber und Spieldesigner Paul Newman sowie sein Code-Hexer Sean Scaplehorn entwickelten Horace fast im Alleingang und verwandten ausgesprochen viel Mühe und Hingabe für die Nebentätigkeiten im Spiel: Neben der Müllsammelei füllt nämlich auch das Erledigen von Nebenjobs eure Kasse. Horace ackert als Tellerwäscher, stempelt Briefe oder formt Ziegel in der Fabrik - während ihr euch über die schrullig-pixelige Präsentation freut und rhytmusbasierte Geschicklichkeitseinlagen absolviert. 

Wie einst Ryo Hazuki in Shenmue, besucht auch Horace die örtliche Spielhalle. Huch, wer zockt denn da neben ihm?
Die virtuellen Arcadegames in der städtischen Spielhalle gehen noch ein Stück über die kultige Arcade in Shenmue hinaus: Horace zockt spielerisch mitunter flache, aber stets liebevoll programmierte Hommagen an Pac-Man oder Space Invaders und versucht sich an Klonen der Yu-Suzuki-Hits OutRun und After Burner. Anabolympics, eine Hommage an Konamis Track & Field, schließlich martert eure Fingerkuppen und Rhythm King verballhornt das Guitar-Hero-Prinzip - mit erstaunlich gelungener Spielbarkeit, knuffigen Pixelbands und schräger Musik. Schließlich könnt ihr noch, ganz einfach während des Spiels, jederzeit eine Art In-Game-Videotext öffnen und darin schmökern, Mützen für Horace einsammeln und mit dem Kopfschmuck in Fotoautomaten schräge Selfies knipsen (Müll-Belohnung!) oder an Computer-Terminals in C64-BASIC-Manier kleine Unsinnigkeiten eingeben und sogar kurzfristige Cheats aktivieren.

Auch die Musik von Horace ist ausgesprochen gelungen: Anfangs wundert man sich noch über die häufige Verwendung klassischer (wohl rechtefreier) Melodien (z.B. Für Elise, Zauberflöte, An der schönen blauen Donau), später trumpfen auch die eigens für das Spiel komponierten Chiptune-Songs groß auf und untermalen das Bildschirmgeschehen passend mit treibenden bis elegischen Klängen.

Fazit

Ich bin hin und weg! Horace ist ein toll komponiertes Hüpfspiel mit kluger Schwerkraft- und Raumdreh-Mechanik sowie der Verpflichtung, während des Hopsens auch mitzudenken. Gleichzeitig spielt der Titel auf der ganz großen Klaviatur meiner Gefühle: Ich lache und leide mit Horace und seiner Familie, bin immer wieder überrascht von den Story-Wendungen und Themen, die behandelt werden. Horace glänzt nämlich nicht nur mit nerdigen Popkultur-Zitaten, sondern kann auch in puncto Regie mit starkem Gefühlskino made in Hollywood mithalten: Erinnern Grundthema und Ausgangssituation noch stark an „Der 200 Jahre Mann“ (mit Robin Williams), so entsteht im Laufe der Handlung fast schon ein interaktiver Generationenroman, der nicht bloß eine Episode, sondern das ganze Leben seiner Protagonisten porträtiert. Lediglich im gestreckt wirkenden Mittelteil mit seinen vielen Endgegnern und manch nervigem Backtracking unter Zeitdruck, dachte ich, dass die Macher übers Ziel hinaus schießen und nicht wissen, wann es gut ist. Im letzten Viertel aber ist der gut abgestimmte Mix aus Handlung, Geschicklichkeitspassagen, Bossfights und Nebenbeschäftigungen wieder voll in der Spur. Auch als Liebesbrief an das Videospiel im Allgemeinen kann Horace verstanden werden, ist es doch voller kleiner Retro-Gags in den Geheimräumen und ausgewachsenen Arcadegames nach 8- und 16-Bit-Manier.

Pro

liebevoll präsentierte Geschichte voller Wendungen
kluges Level-Dreh- und Schwerkraft-Prinzip
stark geschriebene Figuren
großer Umfang
durchdachtes Upgrade-System für Horace
knifflige Bosskämpfe voller verzwickter Mechaniken
1.000.000 Stück Müll als motivierendes Ziel
schwungvolle, verspielte, dramatische Musik
viele Arcade-Klassiker charmant neu interpretiert
kreative Nebenjobs zum Geldverdienen
alle Sequenzen (englisch) vertont
tonnenweise Retro- und Popkultur-Anspielungen
Sammelkram, Freispielbares, Geheimnisse
starkes Leveldesign, das auch rückwärts und kopfüber funktioniert

Kontra

einige Räume zu sehr mit Gegnern und Fallen gefüllt
zu viele Bosskämpfe und Backtracking im Mittelteil
etwas lange Laufwege für Allessammler

Wertung

PC

Indie-Kleinod, Hardcore-Hüpfer, Robotermärchen: wahnsinnig kreativer Mix aus beinhartem Plattformer, Denksport und Autorenspiel - voller spannender Geschichten und witziger Retro-Anspielungen.

Switch

Indie-Kleinod, Hardcore-Hüpfer, Robotermärchen: wahnsinnig kreativer Mix aus beinhartem Plattformer, Denksport und Autorenspiel - voller spannender Geschichten und witziger Retro-Anspielungen.

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Kommentare

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4P|Matthias

Wäre cool, wenn dazu noch ein Videotest käme. Klingt top.
Ja, hätte ich auch cool gefunden - war aber aktuell zeitlich leider nicht drin.

vor 3 Jahren
NewRaven

Ja, komisch ist das schon... PS4 Controller über DS4Windows und bei dir?
XBox-One-Controller (Steam-Version des Spiels, deaktivierte Steam-Input-Option).

vor 3 Jahren
ClassicGamer76

war auch im humble choice im mai 2020!
Bei mir läuft übrigens niemand "einfach los" wenn ich den Controller angeschlossen habe. Da ich damit spiele, wäre das auch etwas unpraktisch...
Ja, komisch ist das schon... PS4 Controller über DS4Windows und bei dir?

vor 3 Jahren
NewRaven

war auch im humble choice im mai 2020!
Tatsache... ich wollte es nach dem tollen Test nämlich kaufen und hab mich gewundert, dass ich es schon besitze. Jetzt ist mir auch klar woher, danke :mrgreen:

Bei mir läuft übrigens niemand "einfach los" wenn ich den Controller angeschlossen habe. Da ich damit spiele, wäre das auch etwas unpraktisch...

vor 3 Jahren
vor 3 Jahren
Ploksitural

@usul:
Aha... für mich is das Spiel aber NEU. Höre das 1.Mal davon. Da hab ich ja wohl etz mehr davon als von Sales von anno dazumal? Vergiss es....
Ich bin die letzten 10 Jahre gut gefahren das Forum eher defensiv zu nutzen... werde das auch größtenteils beibehalten, aber manchmal muss es dann doch mal raus . ^^
ist ja ok, dass mein Beitrag und das der anderen für dich keinen Mehrwert hat. War auch nie meine Intention für alle Leute hier im Forum immer gehaltvolle Beiträge zu verfassen. Das Spiel hab ich noch nicht gespielt, kann dazu nichts sagen... nur eben was zum Preis und dass ich aufgrund des Tests wohl schneller reinspielen werde als geplant. Ich persönlich (!) finde solche Beiträge aber nicht uninteressant, da ich dann weiß in welcher Preisregion sich das Spiel schonmal bewegt hat und sich eventuell auch wieder bewegen könnte. Sollte es einen Menschen da draußen geben, dem es ähnlich geht, dann hat es doch seinen informativen Zweck erfüllt. Haben Beiträge wie "Danke für den Test, werde mir das Spiel auch mal kaufen" einen größeren Mehrwert? Hat deine OT-Diskussion einen? MMn nicht, finde solche Beiträge aber dennoch wichtig und auch wichtig, dass sie hier in einem Forum ihren Platz haben.

vor 3 Jahren