Die frohe Botschaft...
...überbringt man als so genannter "Schicksalsbinder" nicht. Im Gegenteil: Es ist ein Todesurteil. Als Gesandter des Tyrannen Kyros hat man ein Ultimatum zu verkünden, das allen die Vernichtung bringen kann - sowohl Freund als auch Feind. Das sind zum einen die unterdrückten Stufenvölker, die sich gegen Kyros wehren. Und das sind zum anderen seine beiden Armeen, die diese Rebellen eigentlich unterwerfen sollen. Aber der chaotisch böse "Scharlachrote Chor" und die ehrenvoll elitären "Geschmähten" sind sich aufgrund unterschiedlicher militärischer Traditionen sowie Weltanschauungen selbst spinnefeind und werfen sich meist totales Versagen vor.
In der Charaktererschaffung kann man zwischen Mann und Frau, divsersen Gesichtern und Körpern sowie Klassen und Portraits wählen.
Um den Druck auf die Anwesenden zu erhöhen, wird das umkämpfte Tal auch noch magisch versiegelt. Es gibt kein Entkommen - alle sind bis zum Ablauf der Frist von acht Tagen gefangen. Das Edikt verlangt, dass der Aufstand der Stufenvölker bis dahin niedergeschlagen wird oder die Magie des Kyros' wird alle Beteiligten ohne Rücksicht auf Verluste vernichten. Man ist kein Held, sondern ein Todesbote. Wird man nicht von allen gehasst? Wie soll man da noch etwas beeinflussen? Gibt es überhaupt mehrere Wege? Oh ja. Obsidian Entertainment gelingt es, das Spiel und damit das Wesen des eigenen Charakters so offen zu gestalten, dass man vom brutalen Schlächter über den gnadenlosen Unterdrücker, den listigen Intriganten bis hin zum Retter der Rebellen alle Facetten ausleben kann. Es ist im besten Sinne ein Spiel mit der eigenen Rolle.
Entscheidungen im Stakkato
Tyranny lässt euch einen biografischen Einstieg selbst spielen oder einen von drei möglichen Ausgängen und damit die Beziehung zu den drei Fraktionen (die rebellischen Stufenvölker sowie die beiden Armeen der Geschmähten und des Scharlachroter Chors) festlegen.
Tyranny verzichtet auf epische Gemütlichkeit à la
Pillars of Eternity, redet gleich Tacheles und fordert Entscheidungen in hoher Frequenz. Nahezu jeder Dialog und jede Aktion wirkt sich innerhalb der stets aktualisierten Reputation gegenüber Gruppen, Gefährten sowie Anführern aus - und zwar parallel.
Sprich: Positive und negative Antworten sowie Aktionen auf dem Schlachtfeld werden nicht in einem Wert summiert, sondern sie lassen z.B. "Gunst" und "Zorn" gemeinsam wachsen. Erreicht man in einem Bereich einen bestimmten Wert, verhalten sich die Beteiligten nicht nur anders, man schaltet auch Gefährtenkombos frei, die einem im Kampf enorme Vorteile bringen. Es klingt zwar etwas paradox, dass man auch von einem wütenden Partner profitiert, aber dafür birgt die Antipathie andere Risikien abseits der Gefechte.
Hier erkennt man, wie sowohl positive als auch negative Reputation zusammen steigen und Fähigkeiten freischalten.
Es gibt nur wenige Rollenspiele, in denen die Reputation gegenüber Fraktionen sowie daraus resultierende Fähigkeiten sowie Änderungen in der Welt so stark das Spieldesign prägen - auch
The Age of Decadence konnte vor allem mit Letzterem punkten. Der Vorteil dieser dramaturgischen Dichte: Man liest die Gespräche nicht nur sehr aufmerksam, sondern hat aufgrund des direkten Feedbacks nach einer Lüge, List oder Überzeugung sofort das angenehme Gefühl, den Verlauf der Geschichte aktiv beeinflussen zu können. Loyalität oder Furcht steigen auf allen Seiten so schnell, dass es immer spannender wird. Man fragt sich: Wer flippt wann aus? Wann fällt man von diesem schmalen Grat in die Tiefe? Hat man sich z.B. auf eine der beiden Armeen festgelegt, kann man sehr schnell sehen, wie die Lage bei den anderen kippt und man in deren Gunst sinkt. Will man alles ausbalancieren, entsteht ein köstliches Vabanque-Spiel.