FIFA, Fußball, Korruption: Die Flamme erlischt
"Die Flamme erlischt" ist ein früher, aber richtig guter Science-Fiction-Roman von George R.R. Martin. Darin geht es um eine verlorene Liebe und eine sterbende Welt. Plötzlich wird der Held von der Ex um Hilfe gebeten. Er besucht sie nochmal, von alten Erinnerungen und trügerischer Sehnsucht begleitet, bevor er eine emotionale Achterbahnfahrt erlebt. Die Realität hat sich verändert, es führt kein Weg zurück.
Das ist vermutlich ein viel zu pathetischer Pass in den Lauf meiner Gedanken zum Fußball. Aber ich habe tatsächlich das Gefühl, dass eine Flamme erloschen ist - sowohl in der digitalen als auch realen Welt. Der Fußball kann mich nicht mehr fesseln. Obwohl ich mich noch immer voller Freude in Rollenspiele, Strategie und Abenteuer stürze, gerade watscheln die Pikmin über den Switch-Bildschirm, wird es dieses Jahr keinen virtuellen Anstoß geben.
Warum nicht?
Ich bin wie viele Jungs der 70er und 80er mit dem Ball aufgewachsen, habe auf Bolzplätzen und bis zur A-Jugend im Verein gekickt – ohne Talent in unteren Kreisklassen. Auf C64, Amiga, GameCube, PlayStation 2 und 3 hab ich deshalb von Emlyn Hughes International Soccer über Sensible Soccer, Kick-Off oder This Is Football bis PES nahezu alles verschlungen, was mit Dribblings, Flanken und Toren zu tun hatte. Da konnte man Maradona sein! Was für ein Fußballer...
Als Burruchaga bei der WM 1986 seinen Steilpass zum Siegtreffer verwandelte, hab ich geheult. Als Lars Ricken 1997 den Ball zum 3:1 gegen das damals übermächtige Juventus Turin aus gefühlten hundert (es waren knapp 25) Metern ins Tor lupfte, saß ich jubelnd mit Kumpels im neongelbem Trikot im Auto-Korso. Und als ich in Pro Evolution Soccer 6 tatsächlich mal ein Turnier gewinnen konnte, weil der Favorit absagte und die anderen besoffen waren, dachte ich schon fast an eine E-Sports-Karriere.
Heute schmunzle ich über diesen Fanboy, der lediglich mal ein Torwandschießen auf einer Kirmes in Recklinghausen gewinnen konnte und beim ersten Besuch im Westfalenstadion dachte, er sei in Walhalla. Jetzt sitze ich erkaltet vor dem Fernseher, wenn mein Verein spielt. Natürlich hat Corona damit zu tun, dass die Magie verflogen ist: Der Fußball wird ohne die Fans und die kollektive Emotionalität vollkommen entzaubert. Nicht nur der Sommermärchen-Kaiser ist mit seiner Vetternwirtschaft gestürzt, jetzt taumelt irgendwie der ganze Sport. Natürlich waren die Missstände rund um die FIFA-Mafia und die DFB-Korruption schon vorher bekannt.
Aber angesichts realer Sorgen wirkt dieses aufgeblasene Geschäft rund um diese Sportler, die wie Kinder auf Instagram posen, noch grotesker. Und es gibt tatsächlich eine WM 2022 in Katar – ich werde mir kein Spiel dieser Farce ansehen. Man hat das Gefühl, der Fußball ist eine Achterbahn ohne Tempolimit, die jegliche Bodenhaftung verloren hat.
Während andere unter Corona um ihre Existenz fürchten, hocken sich die Bayern-Bosse kuschlig in die VIP-Tribüne und laden den Schweinemetzger vom S04 ein, der in seinen verseuchten Schlachthöfen rücksichtslos Arbeiter ausbeutete. Ex-BVBler Kevin Großkreutz, der bei einem Drittligisten noch 50.000 Euro brutto (!) im Monat verdient, will sich nicht an Gehaltskürzungen angesichts der Krise beteiligen. Von Messi, Neymar & Co fang ich gar nicht erst an. Wenn ich dieses wirklich
gute Interview mit Jürgen Kohler lese, vermisse ich den alten Fußball.
Natürlich könnte man da trennen - und jedem sei der Spaß am Kick gegönnt! All das wirkt sich aber komplett auf meine digitale Realität aus. Ich hab meine Faszination an diesem Sport verloren. Das zeichnete sich schon vor Corona ab, denn die letzten Jahre stiegen PES und FIFA von der Platin-Begeisterung langsam auf befriedigendes Niveau ab. Während man die Fans jährlich mit Updates zum Vollpreis schröpfte, die sich kaum unterschieden, sammelte man mit Mikrotransaktionen so unfassbar viel Geld, dass EA sein Ultimate Team auch alleine veröffentlichen könnte.
Dank der dominanten Marktführung konnte sich EA die qualitative Stagnation leisten – PES war aus ökonomischer Sicht schon lange keine Konkurrenz mehr. Auch Konami hat erkannt, dass man mit Mikrotransaktionen Umsatz machen kann und es sich auf Platz 2 gemütlich gemacht. Seit Jahren herrschte kein ernst zu nehmender Wettbewerb. Hier kann man eine direkte Parallele zur Stagnation und damit Langeweile in der Bundesliga ziehen, die vom übermächtigen FC Bayern dominiert wird. Kaum blüht irgendwo etwas auf, wird es weggekauft. Es kann keine Identifikation mehr entstehen.
Aber das ist keine Häme, denn diese Position haben sie sich wirtschaftlich und sportlich erarbeitet. Und genug Leute da draußen wollen auch dieses Pay-to-Win, dieses Sammel- und Glücksspiel. Spiele wie Fortnite beherrschen den Zeitgeist, in denen man wie selbstverständlich für digitalen Krimskrams bezahlt – es gibt also eine Nachfrage und Bereitschaft.
Daher haben die Entwickler natürlich den Auftrag, noch mehr Umsatz aus diesen Spielmodi rauszuholen. Ballphysik, KI und Spieldesign müssen nur kosmetisch behandelt werden. Deshalb ist man dem Erlebnis einer authentischen Fußballsimulation seit Jahren nicht nähergekommen. Man muss gar nicht in die Grundlagen investieren.
Sind die Fußballspiele einfach schon so weit, schon so realistisch, dass da gar keine Luft mehr nach oben ist? Erwarten wir zu viel? Ist man bei Konami vielleicht schon auf dem richtigen Weg, dass man nur Kader-Updates anbietet und ein Jahr pausiert, bevor das nächste große PES für PlayStation 5 und Xbox Series X kommt? Und kann
FIFA 21 dieses Jahr vielleicht doch rocken?
All das beantwortet zukünftig Matthias Schmid, der den
Teststab für Fußball übernimmt: Ein guter Mann, kann rechts wie links und gehört seit einem Jahr zur Stammelf von 4Players.de. Nach zwanzig Jahren Fußballtests ist da auch ein bisschen Wehmut dabei, aber diese Flamme ist erloschen.
Jörg LuiblChefredakteur
PS: Eine kürzere Variante der Kolumne gibt es auch in
Video-Form.