Starseed Pilgrim03.05.2013, Benjamin Schmädig
Starseed Pilgrim

Im Test:

"Ist dieses unscheinbare Puzzle wirklich so brillant wie es vorgibt? Oder kokettiert es nur mit seiner Independent-Andersartigkeit?" Tagelang habe ich gerätselt, was dahinter steckt. Starseed Pilgrim hatte sich in meinem Kopf eingenistet und wollte einfach nicht loslassen. Denn es stellt interessante Fragen und es spielt sich hervorragend – und dann macht es urplötzlich Klick. Ja: Dieses unscheinbare Puzzle aus der Feder von Alexander "Droqen" Martin ist verdammt clever!

Augen auf und durch!

Seid ihr offen für Experimente, für das Ergründen des Unbekannten? Könnt ihr mit "Wieso bin ich hier? Wer bin ich und was muss ich tun?" umgehen? Dann lest nicht weiter. Nehmt euch viele Stunden Zeit, gurtet das Nervenkostüm fest und lasst euch auf Starseed Pilgrim ein. Dass es euch ohne Ziel, ohne Anleitung und ohne Hilfe allein lässt, gehört zum Konzept. Man sollte nichts darüber wissen, nicht einmal die Grundlagen des Spielprinzips kennen, damit es seine volle Wirkung entfalten kann. Tut euch den Gefallen und schlagt nicht im Internet nach!

Euch erwartet ein fesselndes Erlebnis, das nach dem Ausschalten längst nicht vorüber ist.

"Der Himmel stirbt"

Die ersten Minuten sind die Hölle.

Ich hatte ja keine Ahnung. Wirklich: keine Ahnung. Es gibt keine Einführung, keine Geschichte, kein Ziel. "The sky is dying. Take its hand and take it flying.", steht auf weißem Hintergrund geschrieben. Englisch sollte man lesen können, um kleine Wegweiser zu verstehen. Ein grauer Rand, braune Kästchen, ein pixeliges Strichmännchen. Mit "Springen", "Bewegen" und "Graben", erklärt mir die weiße Wand gerade noch die Steuerung. Den Rest muss ich selbst herausfinden.

Um Zweiflern überhaupt ein Bild zu vermitteln, werde ich nur die wichtigsten Grundlagen

Auf einer grauen Plattform beginnt die Suche.
Auf einer grauen Plattform beginnt die Suche.
beschreiben. Worum es inhaltlich geht? Vielsagendes Schulterzucken.

Ein Fall, ein Nichts, nur fruchtbare Erde

Ich falle nach unten, lande auf einem großen grauen Würfel. Der Würfel wird immer da sein – die rosafarbenen Kästchen darauf allerdings nicht. Ich entferne sie, indem ich mich einfach darauf zu bewege. Und für jeden entfernten Würfel, erhalte ich einen Samen. Die wörtliche Übersetzung von "Starseed Pilgrim" ist "Sternensamen-Pilger" und als Pilger kann ich diese Samen an einem beliebigen Ort pflanzen, damit neue Kästchen wachsen.

Je nach Farbe sprießen die Kästchen in einem eigenen Muster und haben verschiedene Eigenschaften: Die einen breiten sich sternförmig aus, die anderen schießen gerade in eine Richtung. Die einen funktionieren wie Sprungfedern, von anderen kann ich kein Kästchen hoch hüpfen. Und ein kleines Bisschen hängt das Wachstum auch immer vom Zufall ab. Ich muss geschickt bauen und rette mich mit manchem kniffligen Sprung davor, dass mir die Flora den Weg versperrt. Auf diese Weise baue ich, bis ich die nächste graue Plattform erreiche. Ein englisches Sprichwort sagt: Der Himmel ist die Grenze...

Schwarz und Weiß

Und dann habe ich keine Samen mehr. Es gibt auch keine rosafarbenen Kästchen mehr – was tun? Ich stelle mich in die Mitte einer der grauen Plattformen und finde die richtige Taste; da befindet sich mein Pilger plötzlich in einer anderen Dimension. Auch hier steht er auf einer Plattform. Diese besteht allerdings aus braunen Kästchen.

Und von Plattform zu Plattform baut der Pilger weiter.
Von Plattform um Plattform lässt der Pilger seine Saat wachsen.

So weit, so gut?

Schon sehe ich, wie das braune Gebilde regelrecht verschlungen wird: Ein schwarzes Etwas frisst sich von unten durch die Kästchen. Zum Glück habe ich immer, wenn ich in diese Dimension wechsele, einen Vorrat Samen, also baue ich drauf los. Hauptsache weg von der gefräßigen Zerstörung!

Doch es gibt kein Entrinnen: Das Schwarze frisst auch die von mir gepflanzten Kästchen, irgendwann holt es mich ein. Und als es mir den Boden wegzieht, falle ich direkt hinein – doch das ist nicht das Ende. Aus dem bunten "Gartenbau" wird eine schwarzweiße Parallelwelt, in der das, was vorher schwarz und farbig war, weiß und frei begehbar ist. Der vormals weiße Hintergrund ist jetzt eine undurchdringliche Mauer.

Der Schlüssel zum Erfolg

Was zunächst wie eine Sackgasse anmutet, ist eine wichtige Etappe, denn in der neuen Umgebung sammele ich Samen, die ich in der "realen" Welt verpflanzen darf. Aha! Das ist also der Ablauf, durch den ich mich in meiner Wirklichkeit Plattform um Plattform dem

Die Musik des Entwicklers

Übrigens: Alexander "Droqen" Martin entwickelt nicht nur Spiele, er schreibt auch Musik. Seine SoundCloud-Präsenz bietet ausführliche Hörproben. Himmel nähere. Ich muss in dem Schwarzweiß nur den Ausgang finden und schon kann ich weiter bauen...

... aber so einfach macht es mir das Spiel nicht. Ohne einen Schlüssel kann ich die Samen jedenfalls nicht mitnehmen. Ich hätte deshalb vorher schon, auf der Flucht vor dem Schwarz, so bauen müssen, dass ich einen der Sterne erreiche, die beim "Umkippen" in die Parallelwelt zu Schlüsseln werden.

Und von vorn!

Probieren, herausfinden, wiederholen – das ist der Rhythmus, durch den ich selbst mehr als zehn Stunden nach dem Start noch wichtige Erkenntnisse gewonnen habe.

Starseed Pilgrim hatte mich bei meinem Selbstverständnis als Spieler gepackt. Lag es an mir, dass ich so lange so viele Fragen zu einem "kleinen Spiel aus der Kategorie Puzzle" hatte? Ich musste dieses Mysterium doch durchdringen!

Probieren, herausfinden, wiederholen...

Müde oder motivierend?

Ist das nicht ermüdend? Nein, im Gegenteil. Tatsächlich ist es ausgesprochen spannend, die clever miteinander verwobenen Elemente Stück für Stück zu entschlüsseln, zu

In der Parallelwelt wird das weiße Nichts zur schwarzen Wand.
In der Parallelwelt wird das weiße Nichts zur schwarzen Wand.
beherrschen und irgendwann zu meistern – das Spiel ist übrigens bedeutend leichter zu verstehen als die Beschreibung vermuten lässt. Und es gibt in allen Dimensionen noch viel mehr zu entdecken...

Aus den Augen, in den Sinn

Vor allem aber fasziniert mich die Verbindung von Spiel und Inhalt: Ich würde etlichen großen Studios unheimlich gerne ans Herz legen, wie sinnvoll Independent-Entwickler Alexander Martin alle visuellen, akustischen und erzählerischen Elemente verknüpft. Er vollbringt nichts Außergewöhnliches, schafft aber aus einer cleveren Idee ein komplettes Ganzes, bei dem jeder Baustein ins Gesamtbild passt. Das gelingt ganz wenigen Videospielen!

An manchen Stellen ist die Verbindung offensichtlich, an anderen stehen turmhohe Fragezeichen: "Was haben die wenigen Zeilen Text zu bedeuten, die über den grauen Plattformen schweben? Warum pflanze ich ein Labyrinth abstrakter Quadrate?"

"Du bist ein Gärtner, der die leere Stille und den leeren Raum mit Farbe füllen soll. Du bist

Der Weltenwechsel erfolgt, sobald sich der Pilger in das gefräßige Schwarz fallen lässt.
Der Weltenwechsel erfolgt, sobald sich der Pilger in das gefräßige Schwarz fallen lässt.
ein Flüchtling, der seine Welt weit weg von der immer größeren Dunkelheit errichtet. Du bist ein Entdecker, der neue Orte, neue Regeln und eine neue Faszination entdeckt. Das Universum ist größer als du glaubst." So beschreibt Martin sein Spiel. In diesen Worten steckt alles drin. Nur keine Antwort.

"Weiter spielen!"

Die Suche nach Antworten, das war es, was meinen Kopf rauchen ließ. Ein wenig fühle ich mich, als wollte  ich The Sixth Sense entschlüsseln, noch während der Film lief. Manchmal schien die Antwort zum Greifen nah, manchmal Lichtjahre entfernt. Aber die Fragen blieben. Mancher von euch wird eher zupacken, andere vielleicht nie.

Jonathan Blow, Erschaffer von Braid, sagte über Starseed Pilgrim: "So lange du noch Fragen hast, solltest du weiter spielen."

Wie Recht er hat, weiß man erst, wenn man keine Fragen mehr hat.

Fazit

Starseed Pilgrim hat mich gereizt wie ganz selten ein Spiel. Es hat mich als Spieler herausgefordert, weil ich sein komplexes Prinzip verstehen wollte. Ich wollte das Zusammenspiel zwischen den verschiedenen Dimensionen meistern, denn dazu gehören Köpfchen und Fingerfertigkeit. Und ich wollte verstehen, wohin die poetischen Wegweiser führen, wann immer ich eine neue Plattform erreicht hatte. Ich bin ein leidenschaftlicher Fan, wenn sich hinter unscheinbaren Stilmitteln eine Botschaft verbirgt – eine Leidenschaft, die dieser abstrakte Minimalismus wie ein Werk der Modernen Kunst befriedigt. Und ich mag es, wenn erzählerische Neugier durch das spielerische Tun geweckt wird – eine Neugier, die Starseed Pilgrim stillt, wenn es mich ohne spielerische Krücke meinen Weg finden lässt. Lasst euch herausfordern, greift nach diesen Sternen!

Pro

widersetzt sich der spielerischen Erwartungshaltung
durchdachte Verbindung von Rätsel und Geschicklichkeit
clevere Verknüpfung verschiedener Ebenen
eigenständiges Erschließen aller Inhalte

Kontra

sehr kleiner Bildschirmausschnitt

Wertung

PC

Das unscheinbare Puzzle bringt den Kopf zum Rauchen: Es stellt clevere Fragen und fordert zum Meistern eines komplexen Prinzips auf.

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