Geheimakte: Tunguska01.05.2006, Jörg Luibl
Geheimakte: Tunguska

Vorschau:

Fahrradspeiche plus Klebeband plus Gummihandschuh? Ein Vermisster, schwarze Kutten und ein Meteor in Sibirien? Das ist eigentlich der Stoff, aus dem durchzockte Nächte gemacht sind. Ende August erscheint Geheimakte: Tunguska (ab 9,50€ bei kaufen) für Freunde mysteriöser Storys und klassischer Point&Click-Abenteuer. Welche Chance hat der in deutscher Produktion befindliche Rätselspaß angesichts der großen Konkurrenz dieses Jahres?

Black Mirrors Erben

Erinnert sich noch jemand an den April 2004? An den zynischen Samuel und seine Abenteuer in Black Mirror ? Dieses Spiel konnte dem unter Billigproduktionen und Stangenware ächzenden Genre der klassischen Adventures frische Impulse geben und mit 84% einen beachtlichen Wertungserfolg einheimsen. Trotz optisch bescheidender Mittel und altbekannter Knobelmechanismen inszenierte es endlich wieder ein erzählerisch interessantes und atmosphärisch dichtes Spielerlebnis mit markanten Charakteren - ohne fette Engine, ohne fettes Budget, ohne großes Tamtam wurde es unser Adventure des Jahres 2004.

Was hat das mit Geheimakte: Tunguska zu tun? Sehr viel. Erstens ist das deutsche Dreierteam von Animation Arts (Grafik), Fusionsphere Systems (Programmierung) und Jörg Beilschmidt (Rätseldesign) fast genau so klein und unbekannt wie vor

Nina im durchwühlten Büro ihres Vaters: Warum ist er verschwunden?
zwei Jahren der tschechische Entwickler von Future Games. Zweitens haben sich die Jungs die Stärken des subtilen Gruselhits und anderer erfolgreicher Spielen nicht nur genau angeschaut, sondern auch Konsequenzen für ihr eigenes Gamedesign daraus gezogen. Und drittens könnte auch ihnen ein Überraschungserfolg in einem Genre gelingen, das dieses Jahr regelrecht überschwemmt wird - tief Luft holen: The Longest Journey 2: Dreamfall , Runaway 2 , Sam & Max: Freelance Police , Tony Tough 2 , Paradise , Bone: The Great Cow Race , Ankh - Herz des Osiris , Baphomets Fluch 4 , Agatha Christie: Mord im Orient-Express , Undercover , Belief & Betrayal ...

...hab ich was vergessen? Ist euch schon schwindelig? Dann wartet noch eine Woche für das Rätsel-Schleudertrauma, denn die E3 wird noch zig mehr Adventures alter und neuer Schule offenbaren. Letztes Jahr hat Fahrenheit eindrucksvoll gezeigt, wo die Zukunft des Genres liegen kann: in der dritten Dimension, in emotionaler Inszenierung, in spielerischer Freiheit, in der mutigen Abkehr von verstaubten Mechanismen.

Sibirisches Mysterium

Warum bin ich dennoch so optimistisch, dass die auf den ersten Blick altbackene Geheimakte ebenfalls einen Akzent setzen kann? Und warum schätzen wir das Spiel mit seinem edlen, aber  unspektakulären 2D/3D-Mix derzeit sogar besser ein als das technisch modernere The Longest Journey 2: Dreamfall ? Das hat zwei Gründe: Zum einen haben mich Story und Dramaturgie trotz anfänglicher Skepsis schnell neugierig gemacht. Ihr schlüpft in die Haut der Wissenschaftler-Tochter Nina, die zunächst mit ihren 90-60-90-Maßen wie ein Babe von der Stange wirkt - schade. Sex sells hin oder her: Kann man nicht mal eine gewöhnliche Frau darstellen? Kann man sich nicht mal aus erzählerischer Sicht vom chauvinistischen Marketingblick lösen und einen weiblichen Charakter ohne Gardemaße kreieren? Würde eine pummelige Frau mit Charme nicht noch viel prägnanter im Gedächtnis bleiben und interessanter sein, gerade weil sie als Typ gegen den Strom schwimmt? Immerhin entdeckt man anhand ihrer hohen Wangenknochen slawische Züge, später auch ihren bissigen Charakter, der dem Klischee wenigstens etwas mehr Ecken sowie Kanten verleiht und Nina durchaus sympathisch macht.

Sie findet das Büro ihres Vaters durchwühlt und selbigen gar nicht erst vor. Wohin ist er verschwunden? Und warum ist wer auch in seine Privatwohnung eingebrochen? Trugen die Täter tatsächlich schwarze Kutten, wie der hysterische Hausmeister stammelt? Mit diesen Fragen im Hinterkopf, werdet ihr schnell auf seine scheinbar brisanten Studien aufmerksam, die sich um eine mysteriöse Explosion in Sibirien drehen, genauer gesagt in der Region um Tunguska - eine 25-stündige Rätseltour zwischen Deutschland, Kuba, China, Moskau und der Antarktis soll laut Entwickler auf euch warten.

Den Rahmen bildet eine liebevoll gezeichnte 2D-Kulisse, die jedoch abgesehen von einigen Wettereffekten auf technische 3D-Feinheiten, große Schauplätze sowie dynamische Kamerafahrten

Schöne Zwischensequenzen sorgen schon in der ersten Spielstunde für spannende Momente.
& Co verzichtet, die noch im ähnlich konzipierten The Moment of Silence  einen angenehmen Hauch moderner Regie verströmen konnten. In den zehn Gebieten mit je zehn Örtlichkeiten gibt es Echtzeit-Schatten, schöne Bewegungen an Bäumen oder wabernden Qualm sowie hier und da Schmetterlinge oder Katzen, die für Leben sorgen. Zwar wirkt manche Außenszene noch etwas steril und manche 3D-Figur nicht ganz harmonisch eingebunden, aber der Eindruck ist gut und stimmungsvoll.

Dazu trägt auch die Akustik bei: Es gibt neben sehr guten deutschen Sprechern (Pitt & Jolie sind zu hören) ein subtiles Geräuschambiente, das im richtigen Moment mit einem Flüstern, Rauschen oder  Zischen auftrumpft. Man wird zudem sehr gekonnt mit ansehnlichen Rendersequenzen in Mystery-Stimmung gebracht - gerade die hohe Frequenz sorgt schnell für Filmflair. Irgendwie will man spätestens nach einer halben Stunde auch deshalb keinem mehr richtig trauen, weil die Dialoge sehr viel Zynismus und vage Andeutungen transportieren. Zwar müssen die Gespräche erst auf lange Sicht beweisen, ob sie das Niveau eines "The Moment of Silence" erreichen, denn noch wirken sie an einigen Stellen etwas bemüht witzig oder in Sachen Namensgebung manches Charakters (Eddy der Hausmeister) etwas platt, aber das Gefühl der Ungewissheit auf der einen und Neugier auf der anderen Seite wird gut vermittelt. Ich bin sehr gespannt, ob man diese Dramaturgie auch nach zehn oder 15 Spielstunden halten kann.

             

Gut durchdachter Rätselspaß

Noch wichtiger als Technik und Kulisse ist jedoch der Inhalt. Denn mir gefällt vor allem die Rätselkultur von Geheimakte: Tunguska, die Frustmomenten à la The Moment of Silence, Scratches  oder anderen Titeln vorbeugen könnte. Wenn mich

Das Tagebuch fasst die Ereignisse zusammen, hält den Storyfaden straff und gibt auf Wunsch auch Rätselhinweise.
etwas an Adventures stört, dann sind es z.B. unlogische Sackgassen ohne den Hauch eines Hinweises oder zeitlich bzw. regulierte Itemaufnahmen, die mich zwar Gegenstände sehen, sie aber erst dann ins Inventar stopfen lassen, wenn man sie braucht - dieses restriktive Korsett will ich nicht immer wieder anlegen müssen.

Ganz anders hier die freie Aufnahmeluft: Ihr könnt von Anfang an alles mitnehmen, was sich irgendwann nutzen lässt. Das ist konsequent und sorgt dafür, dass euer Inventar schnell mit einem halben Dutzend Gegenständen vom Bleistift über den seltsamen Stein oder das Aloe-Vera-Blatt bis hin zur Fahrradspeiche gefüllt ist. Diese Üppigkeit ist lobenswert, denn man hat immer das Gefühl, etwas ausprobieren zu können - hoffentlich hält sich die Fülle an den Schauplätzen! Es ist allerdings schade, dass man die Items bisher nicht noch in schöner 3D-Sicht vergrößern, drehen und zoomen kann, um sie zu inspizieren - hier hätte man z.B. auch Rätsel integrieren und wenigstens ein modernes 3D-Feature präsentieren können. Immerhin lassen sich auch die 2D-Objekte über einen rechten Mausklick untersuchen, was meist zu einem hilfreichen Text führt.

Kombinationen & Komfort

Schön ist, dass man gleich zu Beginn interessante Kombinationen wie Handy-plus-doppelseitiges-Klebeband-an-Katze-gleich-mobile-Abhöranlage anwenden kann. Dabei hat man penibel darauf geachtet, dass es keine absurden Verknüpfungen gibt, was bis zu einem gewissen Grad auch funktioniert. Das erinnert ebenso wohltuend an gute alte Adventures wie die Zahlencode-Spiele, die euch zur Suche nach Indizien animieren: Da muss man die Löcher eines Kanaldeckels zählen, Nummernschilder finden und die Metapher der "Wächter" in die Spielwelt übertragen - alles immer logisch, immer nachvollziehbar. Ich habe erst eine Situationen vorgefunden, in der ich mich gefragt habe, warum dieses oder jenes nicht funktioniert - in anderen Sielen habe ich davon Dutzende. Dieses Prinzip ist den Entwicklern so wichtig, dass sie den typischen Adventure-Spruch "Das geht so nicht!" gleich mit einem süffisanten Kommentar Ninas satirisch auf die Schippe nehmen.

Zwei weitere Dinge gefallen mir: Zum einen die Tatsache, dass man manchmal auf mehrere Arten an Lösungen kommen

Schnell ist das Inventar rappelvoll - sehr schön! Aber wie kann man das Gespräch dieses Mannes abhören?
kann. Ihr braucht Wasser? Dann könnt ihr entweder die Heizung entlüften, einen gefüllten Eimer finden oder einen Gartenschlauch nutzen - sehr schön! Ich wünsche dem Spiel, dass es dieses Prinzip auch später anbietet und nicht nur einmal, damit es sich wohltuend von der Masse abhebt. 

Zum anderen gibt es ein optionales Hilfesystem in zwei Stufen: Einmal könnt ihr euch auf Tastendruck alle Gegenstände eines Raumes anzeigen lassen - dann sieht man überall dort Lupensymbole, wo man sich etwas anschauen oder interagieren kann. Blasphemie? Kindergarten? Nein. Dieser Service beugt einfach der nervigen Pixelsuche in einem Raum vor, die irgendwann zu einem Blick in den Walkthrough führt. Außerdem wird euch das Tagebuch auf Wunsch kleine Ratschläge geben, die das Vorankommen erleichtern. Hört sich nach einem Warmduscher-Adventure mit Klick&Blöd-System an? Habe ich auch erst gedacht, ist es aber nach jetzigem Status nicht. Von grenzdebiler Einfachheit ist dieses Abenteuer bisher weit entfernt. Und all diese Hilfen könnt ihr auch einfach in den Optionen ab- und nur bei Bedarf zuschalten. Damit ist es bloß ein interessantes Zusatzangebot, das eigentlich jedes Adventure anbieten sollte. Wie habe ich Scratches atmosphärisch geliebt, aber in den Sackgassen verflucht...

Optimistisch stimmt auch, dass ihr später einen weiteren Charakter steuern könnt: Max, den smarten Kollegen von Ninas Vater. Laut Entwickler soll es dann auch interessante Team-Rätsel geben, die man nur im Duett lösen kann, oder indem man von einem zum anderen Charakter wechselt, um z.B. Items zu übergeben. Hört sich interessant an, war aber leider noch nicht in unserer Fassung implementiert. Hier könnten sich natürlich auch erzählerisch einige delikate Möglichkeiten und Twists anbieten.   

Ausblick

Ich freue mich auf dieses Abenteuer. Das Szenario rund um die nebulösen Geschehnisse in der sibirischen Tunguska-Region ist unverbraucht, die Kulisse lockt mit edel designten und gleichzeitig lebendigen Schauplätzen, die deutschen Sprecher überzeugen und vor allem die Rätselkultur hat es mir angetan: Endlich geht man einen konsequent logischen Weg, was Itemeinsatz und -aufnahme angeht. Endlich gibt es einen Hilfeservice, der blöde Sackgassen vermeidet und mir auf Wunsch die stupide Pixelsuche erspart. Wird das auf Dauer zu komfortabel und einfach? Das ist eine berechtigte Frage, die wir im Test hoffentlich verneinen können, denn dieses Adventure braucht unbedingt auch knifflige Gehirnverzwirbler! Etwas, das Dreamfall z.B. auf Dauer zu fehlen scheint. Aber was die Leichtigkeit angeht: Erstens kann, muss man die Hilfen nicht nutzen. Und zweitens wirken die Kombinationen bisher anspruchsvoll, die Rätsel knackig. Kann das Spiel auf Dauer die dichte Dramaturgie halten, die von ihren zweideutigen Dialogen und ständig eingestreuten Zwischensequenzen lebt? Bleibt die Story mysteriös, ohne ins Alberne abzuschweifen? Mal abwarten. Noch ist nicht alles durchgestylt, nicht alles perfekt und ich habe mich erst durch ein kleines Kapitel geknobelt. Bis jetzt sagt mir mein Gefühl jedoch, dass dieses Spiel das Zeug hat, an die Qualitäten von Black Mirror anzuknüpfen. Es könnte in der Flut all der kommenden Adventures einen kreativen Akzent setzen.

Ersteindruck: gut

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