Special: Duell zwischen West und Ost
Pokern um die Vorherrschaft
Hat noch jemand ein mächtiges Ereignis wie „Reißen sie diese Mauer nieder!“, das Ostdeutschland evtl. in amerikanische Hände bringt? Oder gar „Wargames“, das das Spiel ohne finale Wertungsrunde vorzeitig beendet? Zwar kann die nächste Karte entscheidend sein, aber die Blicke der beiden taxieren weder Chips noch einen Flop, sondern eine 56 x 86 Zentimeter große, angenehm massive und farbig bedruckte Weltkarte, die fast den gesamten Tisch bedeckt. Dort liegen zig blaue und rote Einflussmarker zwischen Kuba und Japan, Schweden und Südafrika. Überall schwelen Konflikte, überall belauern sich West und Ost wie Kasparow und Karpow zu besten Zeiten.
Zwischen Präsenz und Kontrolle
Im Laufe des Spiels wurden diese Plättchen wie Schachfiguren ständig hin und her geschoben, wenn Ereignisse wie Spione, Abdankungen oder Terroristen, Putschversuche, Neuordnungen oder direkte Platzierungen das Kräfteverhältnis in einem Land
Der wacklige Libanon hat z.B. eine 1, das gefestigte Großbritannien eine 5. Also braucht man für die Kontrolle des Ersteren nur einen, für Letzteres satte fünf Einflussmarker auf der Karte. Sollte auch der Feind dort anwesend sein, ist die Zahl auch gleich der Differenz, die für die Kontrolle nötig ist – falls also schon zweimal Hammer und Sichel in England liegen, braucht man sieben Sterne für die US-Kontrolle. Und besonders wichtig: Spätes Eindringen in bereits kontrollierte Länder ist doppelt so teuer; sprich: kostet zwei statt einen Einflussmarker. Wer also frühzeitig seine Fühler ausstreckt, spart wertvolle Punkte…
Die ideologischen Fühler ausstrecken
Wie kann man seinen Einfluss ausbreiten? Dazu muss man zunächst die territoriale Nachbarschaft berücksichtigen. Sprich: Man darf nur über angrenzende Länder mit eigenem Einfluss expandieren - dargestellt durch Verbindungslinien. Etwas missverständlich kann zunächst wirken, dass diese Wege nicht immer die tatsächliche geographische Nachbarschaft abbilden; gerade in Südosteuropa muss man genau hinschauen, wenn man seinen Einfluss erweitern will. So kommt allerdings auch eine exklusivere geostrategische Note ins Spiel, denn es gibt sehr interessante Länder, die als Brückenköpfe bzw. Einfallstore wie Panama oder Italien dienen können. Nur wenn Russland Letzeres besetzt, kann es Frankreich bedrohen und dabei das mächtige Westdeutschland umgehen. Sehr wichtig für die Spielbalance: Es gibt keine Durchmärsche, denn pro Aktionskarte darf man nur ein Land weit expandieren.
Putschen oder neuordnen?
Hier kommen auch erstmals die Würfel ins Spiel: Mit einem erfolgreichen Putsch darf man nicht nur militärische Operationspunkte einsacken, sondern auch Einflussmarker des Gegners entfernen sowie eigene auslegen – im besten Fall erlangt man also die Kontrolle! Aber würfelt man mit einem W6 höher als der doppelte Stabilitätswert des Landes? Also mehr als 10, wenn es um Großbritannien geht? Außerdem senkt jeder Putsch die fünfstufige DEFCON-Anzeige. Wer mit Stufe 1 den Atomkrieg auslöst, verliert das Spiel! Einfacher und weniger brisant sind die Neuordnungen, denn dort würfelt man zwar gegen den Feind, aber der eigene Wurf wird modifiziert, je nachdem wie z.B. die Kontrolle in den Nachbarländern ausschaut – hat man ein Land umzingelt, ist es also einfacher. Danach darf man allerdings lediglich gegnerischen Einfluss dezimieren.
Schlachtfeldländer im Visier
Und jetzt kommt wieder die Kartenspannung inklusive einer gesunden Portion Glück ins Spiel: Denn es wird nicht nur in der letzten Runde final in allen Regionen gewertet, sondern schon früher und teilweise mehrmals pro Spiel in einer Region! Und zwar immer dann, wenn jemand das entsprechende Ereignis ausspielt. Da es drei Stapel früher, mittlerer und später Krieg mit zunächst fest zugeordneten, später durchmischten Karten gibt, weiß man z.B., dass es zu Spielbeginn theoretisch nur drei Wertungen in drei bestimmten Regionen geben kann: Asien, Europa und Naher Osten. Also sollte man sich evtl. in weiser Voraussicht in den entsprechenden Schlachtfeldländern platzieren. Und in dem Moment, wo man das tut, passiert was? Der Gegner kontert! Oder er spielt die Wertungskarte genau dann, wenn er mehr Punkte rausholt!
Glück und cleveres Karten-Management
Ein Großteil des Reizes liegt darin, dass man immer abwägen muss, ob man entweder das Ereignis einer Karte oder aber deren Operationswert für Einflussmarker oder einen Putsch nutzt – nur dann darf man aktiv auf der Weltkarte seine Einflussmarker einsetzen. Selbst Letzteres kann allerdings empfindliche Folgen haben, denn falls das auf der Karte abgebildete Ereignis dem Gegner zugeordnet ist (wenn man also als Amerikaner die Operationspunkte der Karte „Willy Brandt“ nutzt), muss es grundsätzlich stattfinden! Dieser Kniff der wechselseitigen Beeinflussung trotz eigener Aktion sorgt zum einen für eine tolle Spieldynamik, zum anderen für die wichtige Balance. Alles ist quasi ein Geben und Nehmen – lediglich die Karten der eigenen Farbe, die man erstmal haben muss, nutzen auch nur der eigenen Weltanschauung.
Was gibt es zu meckern?
Auch wenn es wie ein Komplexitätsmonster aussieht, ist Gleichgewicht des Schreckens übrigens wesentlich leichter zu erlernen und zu durchschauen als z.B. Im Wandel der Zeiten oder Dominant Species. Das Regelwerk ist anschaulich und beinhaltet eine ausführliche, strategisch kommentierte Partie zwischen Top-Spielern – sehr empfehlenswert. Wer sich für die historischen Hintergründe des Kalten Krieges sowie das Spieldesign im Allgemeinen interessiert, findet im Anhang der Anleitung zudem ein Glossar zu allen Ereignissen sowie ein interessantes Nachwort der Entwickler. Für Vielspieler dürften auch die optionalen Turnierregeln sowie die chinesische Bürgerkriegsvariante eine
Fazit
Ich bin begeistert! Gleichgewicht des Schreckens ist ein großartiges Spiel. Hier treffen Pokerflair, Kartentaktik und Eroberungen à la Risiko auf einer toll designten Weltkarte zusammen. Angesichts des dröge anmutenden Themas des Kalten Krieges war ich zunächst skeptisch. Aber es ist unglaublich, wie gut dieses Brettspiel den machtpolitischen Konflikt zwischen West und Ost nicht nur geostrategisch über sein Kontroll- & Dominanzsystem, sondern auch psychologisch auf den Tisch überträgt: Man misstraut sich, man blufft und greift dann gnadenlos an. Es gibt ein ständiges Hin und Her an allen möglichen Brandherden, wobei authentische Ereignisse von der CIA-Gründung über die Kubakrise bis hin zu Flower Power sowohl für historisches Flair als auch regionale Umwälzungen sorgen können. Amerikaner und Russen dürfen bei diesem machtpolitischen Poker mit ihrem Einfluss auf nahezu jedes Land einwirken, aber nie überdrehen - sonst droht der Atomkrieg. Wer ein angenehm leicht zu erlernendes, stets aufs Neue überraschendes und langfristig fesselndes Strategiespiel für zwei Personen sucht, muss Twilight Struggle einfach haben. Ist direkt in unsere Top 10 der besten Brettspiele eingestiegen!
Für alle, die eine Wertung vermissen: Wir werden hier nur unsere Highlights vorstellen. Natürlich gibt es auch in der Brettspielwelt einen bunten Mainstream und billigen Murks, aber wir wollen euch alle zwei Wochen kreative Geheimtipps und ungewöhnliche Spieleperlen empfehlen, die man vielleicht nicht in jedem Kaufhaus findet.
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