Gleichgewicht des Schreckens05.03.2013, Jörg Luibl
Gleichgewicht des Schreckens

Special: Duell zwischen West und Ost

„Twilight Struggle“ von Ananda Gupta und Jason Matthews  gilt als eines der besten Brettspiele für zwei Personen. Was ist so faszinierend an dieser Konfliktsimulation, in der sich Amerikaner und Russen duellieren? Welche Spannung kann schon im Kalten Krieg zwischen 1945 und 1989 stecken? Wir haben in der deutschen Variante „Gleichgewicht des Schreckens“ danach gesucht.

Pokern um die Vorherrschaft

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Gleichgewicht des Schreckens (Original: Twilight Struggle) ist eine Konfliktsimulation für zwei Spieler. Die deutsche Version ist bei Udo Grebe Design für knapp 50 Euro erhältlich.
Es ist unheimlich still. Trotzdem knistert es seit ein paar Minuten am Tisch. Wird hier gepokert? Geht es um den großen Pott? Zwei Gestalten sitzen sich gegenüber, jeweils verdeckte Karten in der Hand, die Stirn tief gerunzelt. Links der Amerikaner mit seinem Sternenbanner, rechts der Russe mit Hammer und Sichel. Knapp zwei Stunden haben sie mittlerweile um Macht gekämpft, geblufft und gesetzt. Jetzt will keiner einen Fehler machen, denn das fragile Gleichgewicht könnte kippen. Und das mit den letzten Aktionen in dieser zehnten und damit letzten Runde. Was für ein spannendes Finale!

Hat noch jemand ein mächtiges Ereignis wie „Reißen sie diese Mauer nieder!“, das Ostdeutschland evtl. in amerikanische Hände bringt?  Oder gar „Wargames“, das das Spiel ohne finale Wertungsrunde vorzeitig beendet? Zwar kann die nächste Karte entscheidend sein, aber die Blicke der beiden taxieren weder Chips noch einen Flop, sondern eine 56 x 86 Zentimeter große, angenehm massive und farbig bedruckte Weltkarte, die fast den gesamten Tisch bedeckt. Dort liegen zig blaue und rote Einflussmarker zwischen Kuba und Japan, Schweden und Südafrika. Überall schwelen Konflikte, überall belauern sich West und Ost wie Kasparow und Karpow zu besten Zeiten.

Zwischen Präsenz und Kontrolle

Im Laufe des Spiels wurden diese Plättchen wie Schachfiguren ständig hin und her geschoben, wenn Ereignisse wie Spione, Abdankungen oder Terroristen, Putschversuche, Neuordnungen oder direkte Platzierungen das Kräfteverhältnis in einem Land

Alles fängt harmlos in der ersten Runde im Jahr 1945 an, mit gerade mal 15 sowjetischen und 25 amerikanischen Einflussmarkern, teilweise fest vorgegeben, teilweise frei verteilbar.
Alles fängt harmlos in der ersten Runde im Jahr 1945 an, mit gerade mal 15 sowjetischen und 25 amerikanischen Einflussmarkern, teilweise fest vorgegeben, teilweise frei verteilbar.
veränderten. Wie stark der Einfluss aktuell ist, wird durch Zahlen auf sowie die Füllung der Plättchen angezeigt – weiße Farbe heißt lediglich Präsenz, volle Farbe heißt auch Kontrolle. Wie erlangt man diese? Indem man Plättchen legt. Das Besitzsystem ist dabei ebenso einfach wie clever: Die Zahl rechts neben der Nation gibt jeweils  an, wie stabil das Land grundsätzlich ist. Und um diese Zahl drehen sich alle weiteren Berechnungen.

Der wacklige Libanon hat z.B. eine 1, das gefestigte Großbritannien eine 5. Also braucht man für die Kontrolle des Ersteren nur einen, für Letzteres satte fünf Einflussmarker auf der Karte. Sollte auch der Feind dort anwesend sein, ist die Zahl auch gleich der Differenz, die für die Kontrolle nötig ist – falls also schon zweimal Hammer und Sichel in England liegen, braucht man sieben Sterne für die US-Kontrolle. Und besonders wichtig: Spätes Eindringen in bereits kontrollierte Länder ist doppelt so teuer; sprich: kostet zwei statt einen Einflussmarker. Wer also frühzeitig seine Fühler ausstreckt, spart wertvolle Punkte…

Die ideologischen Fühler ausstrecken

Europa ist immer im Fokus, denn hier kann man nicht nur viele Punkte bei Wertungen bekommen, sondern theoretisch auch sofort gewinnen - falls man die Region kontrolliert.
Russland hat die Kontrolle über Ost-Deutschland verloren - die Amerikaner haben zwei Einfluss vorzuweisen! Europa ist immer im Fokus, denn hier kann man nicht nur viele Punkte bei Wertungen bekommen, sondern theoretisch auch sofort gewinnen - falls man die Region kontrolliert.
Wer sich auf der Weltkarte ausbreiten will, muss seine Startpositionen berücksichtigen, denn Amerikaner und Russen beginnen mit unterschiedlichen Einflüssen: Während Hammer und Sichel in Nordkorea, Ostdeutschland, Syrien, Irak, Finnland sowie sechs mal frei irgendwo in Osteuropa verteilt sind, starten die Amerikaner in Kanada, Iran, Israel, Japan, Australien, Philippinen, Südkorea, Panama, Südafrika, Großbritannien sowie sieben mal frei irgendwo in Westeuropa. Damit hat der Westen zunächst ein Übergewicht an Einfluss. Allerdings startet der Osten mit der mächtigen China-Karte und darf in jeder Aktionsrunde als Erster agieren.

Wie kann man seinen Einfluss ausbreiten? Dazu muss man zunächst die territoriale Nachbarschaft berücksichtigen. Sprich: Man darf nur über angrenzende Länder mit eigenem Einfluss expandieren - dargestellt durch Verbindungslinien. Etwas missverständlich kann zunächst wirken, dass diese Wege nicht immer die tatsächliche geographische Nachbarschaft abbilden; gerade in Südosteuropa muss man genau hinschauen, wenn man seinen Einfluss erweitern will. So kommt allerdings auch eine exklusivere geostrategische Note ins Spiel, denn es gibt sehr interessante Länder, die als Brückenköpfe bzw. Einfallstore wie Panama oder Italien dienen können. Nur wenn Russland Letzeres besetzt, kann es Frankreich bedrohen und dabei das mächtige Westdeutschland umgehen. Sehr wichtig für die Spielbalance: Es gibt keine Durchmärsche, denn pro Aktionskarte darf man nur ein Land weit expandieren.

Putschen oder neuordnen?

Auf diesen Leisten wird oben die atomare Bedrohung in DEFCON-Stufen gemessen (in diesem Fall reicht ein Putsch für einen Nuklearschlag!). Unten wird die militärische Aktivität dargestellt.
Auf diesen Leisten wird oben die atomare Bedrohung in DEFCON-Stufen gemessen (in diesem Fall reicht ein Putsch für einen Nuklearschlag!). Unten wird die militärische Aktivität dargestellt - die Russen waren fleißig und dürfen mit Siegpunkten rechnen.
Die Amerikaner beherrschen in dieser finalen Phase z.B. fast ganz Afrika, den Nahen Osten und haben leichte Vorteile im wichtigen, weil punktstarken Europa; die Russen haben sich in Süd- und Zentralamerika sowie Asien geostrategische Dominanz gesichert. Aber was ist schon sicher? Das Schöne ist, dass nicht nur reale historische Ereignisse wie Koreakrieg, Kubakrise oder muslimische Revolution jederzeit für kleine Umwälzungen in Regionen sorgen können. Selbst gewiefte Spieler werden immer wieder überrascht! Man kann aber auch gezielt gegen den Zufall arbeiten, indem man Marker auslegt, putscht oder neu ordnet, damit sich der Einfluss ändert – der Operationswert auf den Karten zeigt an, wie mächtig diese Aktionen ausfallen. Aber wo investiert man seine Energie?

Hier kommen auch  erstmals die Würfel ins Spiel: Mit einem erfolgreichen Putsch darf man nicht nur militärische Operationspunkte einsacken, sondern auch Einflussmarker des Gegners entfernen sowie eigene auslegen – im besten Fall erlangt man also die Kontrolle! Aber würfelt man mit einem W6 höher als der doppelte Stabilitätswert des Landes? Also mehr als 10, wenn es um Großbritannien geht? Außerdem senkt jeder Putsch die fünfstufige DEFCON-Anzeige. Wer mit Stufe 1 den Atomkrieg auslöst, verliert das Spiel!  Einfacher und weniger brisant sind die Neuordnungen, denn dort würfelt man zwar gegen den Feind, aber der eigene Wurf wird modifiziert, je nachdem wie z.B. die Kontrolle in den Nachbarländern ausschaut – hat man ein Land umzingelt, ist es also einfacher. Danach darf man allerdings lediglich gegnerischen Einfluss dezimieren.

Schlachtfeldländer im Visier

Die Karten können entweder als historische Ereignisse oder als Aktionen für Einflussnahmen gespielt werden - dann zählt der Punktwert oben links.
Die teilweise stimmungsvoll mit Archivmaterial illustrierten Karten können entweder als historische Ereignisse oder als Aktionen für Einflussnahmen gespielt werden - dann zählt der Punktwert oben links.
Aber wo lohnt sich die Kontrolle? Dabei muss man genau hinschauen, denn Land ist nicht gleich Land: Es gibt normale Nationen wie etwa Ungarn, Tunesien oder Honduras, aber auch so genannte „Schlachtfeldländer“ wie Frankreich, Ostdeutschland oder Israel. Diese sind lila markiert und besonders wichtig, wenn  ähnlich wie im Klassiker Risiko irgendwann Kontinente bzw. die sechs Regionen gewertet werden, indem man die Länder zählt. Dann bekommt man aufsteigend Siegpunkte je nach Präsenz, Vorherrschaft oder gar Kontrolle – Letztere erreicht man nur, wenn man alle Schlachtfeldländer sowie insg. die Mehrheit der Länder kontrolliert; also auch mind. ein normales.

Und jetzt kommt wieder die Kartenspannung inklusive einer gesunden Portion Glück ins Spiel: Denn es wird nicht nur in der letzten Runde final in allen Regionen gewertet, sondern schon früher und teilweise mehrmals pro Spiel in einer Region! Und zwar immer dann, wenn jemand das entsprechende Ereignis ausspielt. Da es drei Stapel früher, mittlerer und später Krieg mit zunächst fest zugeordneten, später durchmischten Karten gibt, weiß man z.B., dass es zu Spielbeginn theoretisch nur drei Wertungen in drei bestimmten Regionen geben kann: Asien, Europa und Naher Osten. Also sollte man sich evtl. in weiser Voraussicht in den entsprechenden Schlachtfeldländern platzieren. Und in dem Moment, wo man das tut, passiert was? Der Gegner kontert! Oder er spielt die Wertungskarte genau dann, wenn er mehr Punkte rausholt!

Glück und cleveres Karten-Management

Über Kuba können sind die Russen in Zentralamerika eingefallen: Aber Washington konnte sie mittlerweile zurückdrängen.
Über Kuba sind die Russen in Zentralamerika eingefallen: Aber Washington konnte sie mittlerweile zurückdrängen. Nur in Südamerika sieht es für Rot gut aus...
Das Schöne an diesem Konfliktsimulationsspiel ist, dass man auch abseits dieser zentralen Abrechnungen auf der gemeinsamen Siegpunkteleiste vorwärts kommen kann. Es gibt z.B. auch Punkte für Weltraumfortschritte, militärische Operationen oder Ereignisse. Man muss also eine ausgewogene Mischung für seine Strategie finden und sollte dabei gutes Karten-Management betreiben. Es kann sich z.B. lohnen, mächtige Karten für den Gegner zu blocken, indem man sie für den Wettlauf ins All einsetzt – dann werden sie erst später wieder eingemischt. Es kann sich lohnen, Ereignisse zu verknüpfen, also in ihrer chronologischen Reihenfolge auszuspielen, weil sie dann effizienter sind. Oder man kontert andere Karten: Wer „Willy Brandt“ als Russe spielt, kann „NATO“ für Westdeutschland aufheben; wer die „Awacs an Saudis verkauft“ verhindert „Muslimische Revolution“.

Ein Großteil des Reizes liegt darin, dass man immer abwägen muss, ob man entweder das Ereignis einer Karte oder aber deren Operationswert für Einflussmarker oder einen Putsch nutzt – nur dann darf man aktiv auf der Weltkarte seine Einflussmarker einsetzen. Selbst Letzteres kann allerdings empfindliche Folgen haben, denn falls das auf der Karte abgebildete Ereignis dem Gegner zugeordnet ist (wenn man also als Amerikaner die Operationspunkte der Karte „Willy Brandt“ nutzt), muss es grundsätzlich stattfinden! Dieser Kniff der wechselseitigen Beeinflussung trotz eigener Aktion sorgt zum einen für eine tolle Spieldynamik, zum anderen für die wichtige Balance. Alles ist quasi ein Geben und Nehmen – lediglich die Karten der eigenen Farbe, die man erstmal haben muss, nutzen auch nur der eigenen Weltanschauung.

Was gibt es zu meckern?

Das Ländersystem zeigt die Stabilität an sowie die Relevanz der Nation. Besonders wichtig sind die lila Schlachtfeldländer.
Das Ländersystem zeigt die Stabilität an sowie die Relevanz der Nation. Besonders wichtig sind die lila Schlachtfeldländer.
Sehr wenig! Hat man die Spielmechanismen des Putschens sowie die parallele Wirkung von Ereignissen und Operationspunkten einmal verinnerlicht, kommt man in einen guten Fluss aus Karten auslegen, Marker setzen, evtl. werten und weiter zur nächsten Runde. Für Hardcore-Strategen könnten allerdings die Glücksmomente etwas zu weit gehen, denn wer eine schlechte Hand an Karten hat, ist durchaus im Nachteil - zumindest für eine Phase.  An diesem großartigen Spiel gibt es ansonsten bis auf die stellenweise fehlerhafte, aber nie entscheidend falsche deutsche Übersetzung wirklich wenig auszusetzen. Auch dass die Marker sowie die Weltkarte nicht übersetzt worden sind, ist verschmerzbar, zumal alle mit eindeutig bezifferten Karten samt deutschen Texten verknüpft sind.

Auch wenn es wie ein Komplexitätsmonster aussieht, ist Gleichgewicht des Schreckens übrigens wesentlich leichter zu erlernen und zu durchschauen als z.B. Im Wandel der Zeiten oder Dominant Species. Das Regelwerk ist anschaulich und beinhaltet eine ausführliche, strategisch kommentierte Partie zwischen Top-Spielern – sehr empfehlenswert. Wer sich für die historischen Hintergründe des Kalten Krieges sowie das Spieldesign im Allgemeinen interessiert, findet im Anhang der Anleitung zudem ein Glossar zu allen Ereignissen sowie ein interessantes Nachwort der Entwickler. Für Vielspieler dürften auch die optionalen Turnierregeln sowie die chinesische Bürgerkriegsvariante eine

Auch Asien gewinnt schnell an Bedeutung, zumal auch einmal für den Südosten gewertet wird.
Auch Asien gewinnt schnell an Bedeutung, zumal auch einmal für den Südosten gewertet wird.
Lektüre wert sein; außerdem gibt es ein optionales Szenario, das sich auf die Spätphase des Kalten Krieges konzentriert.

Fazit

Ich bin begeistert! Gleichgewicht des Schreckens ist ein großartiges Spiel. Hier treffen Pokerflair, Kartentaktik und Eroberungen à la Risiko auf einer toll designten Weltkarte zusammen. Angesichts des dröge anmutenden Themas des Kalten Krieges war ich zunächst skeptisch. Aber es ist unglaublich, wie gut dieses Brettspiel den machtpolitischen Konflikt zwischen West und Ost nicht nur geostrategisch über sein Kontroll- & Dominanzsystem, sondern auch psychologisch auf den Tisch überträgt: Man misstraut sich, man blufft und greift dann gnadenlos an. Es gibt ein ständiges Hin und Her an allen möglichen Brandherden, wobei authentische Ereignisse von der CIA-Gründung über die Kubakrise bis hin zu Flower Power sowohl für historisches Flair als auch regionale Umwälzungen sorgen können. Amerikaner und Russen dürfen bei diesem machtpolitischen Poker mit ihrem Einfluss auf nahezu jedes Land einwirken, aber nie überdrehen - sonst droht der Atomkrieg. Wer ein angenehm leicht zu erlernendes, stets aufs Neue überraschendes und langfristig fesselndes Strategiespiel für zwei Personen sucht, muss Twilight Struggle einfach haben. Ist direkt in unsere Top 10 der besten Brettspiele eingestiegen!

Für alle, die eine Wertung vermissen: Wir werden hier nur unsere Highlights vorstellen. Natürlich gibt es auch in der Brettspielwelt einen bunten Mainstream und billigen Murks, aber wir wollen euch alle zwei Wochen kreative Geheimtipps und ungewöhnliche Spieleperlen empfehlen, die man vielleicht nicht in jedem Kaufhaus findet.

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