T.I.M.E Stories09.02.2016, Jörg Luibl
T.I.M.E Stories

Special: Kooperative Zeitreise

Lust auf eine Zeitreise? Manuel Rozoy, der für Ubisoft u.a. an Assassin's Creed werkelte, ist nebenbei leidenschaftlicher Brettspieler. Der Franzose präsentierte auf der Spielemesse in Essen mit T.I.M.E Stories ein interessantes kooperatives Abenteuer, das zwei bis vier Spieler aus der Zukunft in die Vergangenheit katapultiert, um Risse in der Zeitlinie zu verhindern. Warum vor allem Rollenspieler und Freunde rätselhafter Geschichten ihren Spaß haben werden, klärt der Brettspiel-Test.

Und es hat Zoom gemacht...

"Das ist ja mal cool! Eine tolle Idee!" Wenn sich routinierte Brettspieler schon nach wenigen Minuten so freuen, dann muss am Tisch etwas Ungewöhnliches geschehen. Nein, es liegt nicht daran, dass sich gerade vier Agenten einer Zeitreisefirma in einer französischen Nervenheilanstalt des Jahres 1921 befinden. Für Freude sorgt auch nicht unbedingt, dass jeder von ihnen wie ein Geist in den Körper eines irren Patienten geschlüpft ist. Etwa in jenen von Madeleine du Tilleul, die unter Panikattacken leidet. Aber die frische Art und Weise wie man dort den Aufenthaltsraum erkundet, lässt eine interessante Art der Immersion sowie stimmungsvolle Erkundungsreize am Tisch entstehen. Man kann in T.I.M.E Stories bildlich in Szenen eintauchen - und das macht Spaß.

T.I.M.E Stories ist komplett auf Deutsch bei Asmodee erschienen. Es ist für zwei bis vier Spieler ausgelegt und kostet etwa 40 Euro.
Wie funktioniert das? Über das einfache Umdrehen von Karten: Bis zu fünf davon liegen nebeneinander wie ein Gemälde aus. Im Einstieg sieht man z.B. von links in der Nahaufnahme eine mürrische Aufseherin, dann drei skurrile Patienten in der Mitte sowie ganz rechts ein Bild über einem Klavier. Im Idealfall sitzen alle Mitspieler zusammen in einer Reihe vor dieser Auslage. Jeder lässt diese Bilder auf sich wirken, man berät sich und dann kann man einzeln oder mit mehreren Agenten eine dieser fünf Szenen untersuchen. Nur der oder die Besucher dürfen dann die Karte an sich nehmen, umdrehen und lesen: Wer sich der Aufseherin nähert, wird vielleicht eine Großaufnahme mit anderer Mimik beobachten, erst jetzt einen Gegenstand sehen oder in einen Dialog verwickelt - es gibt quasi einen Zoomeffekt.

Objekt, Gespräch, Rätsel oder Kampf?

Ihr sollt im Auftrag einer futuristischen Agentur diverse Zeitanomalien beheben, indem ihr vor Ort ermittelt. Das in der Grundbox vorhandene Szenario versetzt euch nach einem Tutorial im futuristischen Hauptquartier in eine französische Nervenheilanstalt des Jahres 1921.
Das macht neugierig und ist sehr spannend, denn manchmal zeigen Charaktere erst so ihr wahres Gesicht, man findet erst aus dieser Nähe ein nützliches Objekt wie eine Zeitung oder einen Schlüssel. Aber manchmal eskaliert die Situation auch und man wird vielleicht von einem Wut verzerrten Gesicht angeschrien oder gar in einen Kampf verwickelt. Zunächst sind die Spieler in dieser Situation "gefangen", erleben sie also intensiver und persönlicher, aber sie dürfen jederzeit miteinander über das Gesehene und Erlebte sprechen, um sich in der nächsten Runde vielleicht zu helfen. Was sollen die Agenten hier eigentlich finden? Das ist das große Geheimnis, dem man aufgrund der stimmungsvoll erzählten Geschichte gerne folgt. Stück für Stück ergeben die Gespräche und Konflikte mit den Patienten und Doktoren eine Spur. Zumal der Aufenthaltsraum auch nur einer von vielen in diesem Szenario ist - es gibt eine Küche, einen Schlafsaal, eine Krankenstation, eine Promenade etc. Zwar ist das Kartendeck ähnlich streng sortiert wie in Pandemic Legacy, aber so modular aufgebaut, dass man die Räume frei erkunden kann - es gibt also keine vorgegebene Reihenfolge.

Der Clou: Man kann einzelne Teile einer Szene über einen Zoomeffekt genau erkunden, indem man die Karte an sich nimmt und umdreht.
Auch das Reisen der Gruppe sowie das Freischalten von Schauplätzen wird so anschaulich und dynamisch inszeniert, dass man sich an Videospiele erinnert fühlt: Ein Gruppenmarker auf einer Ortskarte oben links zeigt an, wo sich alle gerade befinden. Schön ist, dass auch diese Übersicht nicht statisch ist. Falls man im Laufe der Erkundungen z.B. Hinweise auf Katakomben, eine Gartenlaube oder ein Dachgeschoss, darf man die entsprechend aktualisierten Kartenteile oben auslegen. Das ist eine ebenso gute Idee wie jene, dass man bestimmte verschlossene Räume nicht nur über Schlüssel, sondern manchmal erst über das Erfüllen von Bedingungen betreten darf: Mal darf nur ein spezieller Charakter hinein, mal muss die ganze Gruppe ein bestimmtes Symbol erbeutet haben, das auf der Tür angezeigt wird.

Kooperatives Rollenspiel mit viel Kommunikation

Wer kooperative Abenteuer mit viel Kommunikation und taktischen Absprachen mag, wird sich hier sehr wohl fühlen, denn komische Andeutungen, verschlossene Räume und knifflige Gefechte laden zu Gesprächen ein. Auch Rollenspieler alter Schule kommen auf ihre Kosten, denn das Spiel lebt nicht nur davon, dass einleitende Texte wie von einem Meister vorgelesen werden. In seinem spielmechanischen Kern ist T.I.M.E Stories ein episches Rollenspiel à la Villen des Wahnsinns.

Acht Charaktere stehen zur Auswahl. Wie in einem Rollenspiel hat man Lebenspunkte, Fähigkeiten und sammelt Gegenstände.
Jeder Agent verfügt je nach Wirt über unterschiedliche Fähigkeiten hinsichtlich Rhetorik, Geschick, Kampf & Co , aber auch Fehler wie etwa die Angst vor dem Alleinsein, ein Kriegstrauma oder Drogensucht sorgen für interessante Situationen - und genug Potenzial, um sich vielleicht schauspielerisch in seinen Wirt hineinzusteigern. Schön ist nicht nur, dass manche Talente exklusiv sind, so dass nicht jeder alles versuchen kann. Schön ist auch, dass es alternative Lösungen gibt: Man kann Kämpfe umgehen, wenn man die richtigen Gegenstände oder Charaktere dabei hat.

Aufgaben oder Kämpfe werden ansonsten gemeistert, indem man ganz klassisch Proben besteht und dafür Würfel wirft. Auch hier wirkt das Abenteuer aber angenehm frisch: Je nach Aufgabe oder Feind werden unterschiedlich viele Schilde ausgelegt, die man über gewürfelte Sterne "besiegen" muss, während Schädel für einen Gegenschlag oder Spezialsymbole für Abzüge sorgen - erst wenn alle Schilde vom Plan getilgt worden sind, hat man es geschafft. Das System ist recht einfach und die vorbildliche Anleitung gibt für alle erdenklichen Situationen genug Beispiele, so dass der Spielfluss auch innerhalb dieser Proben nicht zu lange stockt.

Rätsel gegen die Zeit

Aber selbst wenn man so Lebenspunkte verliert und stirbt, ist der Tod (wenn er nicht gerade alle ereilt) nicht der wahre Feind des Teams. Jeder Agent steckt ja nur in einem Wirt und kann nach dem Ableben etwas später wieder in derselben Gestalt mitmachen. Der wahre Feind ist jedoch die Zeit, die zwar rundenweise, aber unbarmherzig auf einer Leiste gen null sinkt: Jede Bewegung innerhalb der Orte sowie jede Würfelprobe verbraucht etwas von dem Kontingent, das dem Team für einen Auftrag maximal zur Verfügung steht. Man sollte sich also gut überlegen, was man wo macht und wie man am effizientesten das Rätsel in der Vergangenheit löst - bei unserem ersten Durchlauf scheiterten wir in den Tiefen der Nervenheilanstalt, weil uns entweder Hinweise oder Objekte fehlten.

Wo sich die Gruppe befindet, wird auf einer Karte festgehalten - sehr schön: sie kann auch über Hinweise ergänzt werden!
Dann bekommt man einen kleinen Anschiss in der Zentrale der Agentur und darf einen zweiten Versuch starten, dabei vielleicht die Rollen bzw. Wirte wechseln - acht Charaktere stehen zur Auswahl. Allerdings darf man nicht alles, sondern nur die wenigen speziell markierten Gegenstände des letzten Ausflugs behalten - man muss also einiges nochmal suchen und bekannte Orte inspizieren. Auch diese Zweiteilung der Präsentation zwischen der Basis mit Zeitreisekapseln sowie historischen Orten erinnert an Videospiele und ganz besonders natürlich an Assassin's Creed, an dem Autor Manuel Rozoy beteiligt war.

Stimmungsvolles Artdesign

Auch das Artdesign des in Comics und Spielen erfahrenen Benjamin Carré (u.a. Star Wars, Mass Effect, Bladerunner) muss nochmal lobend erwähnt werden. Es gibt zwar einen stilistischen Bruch zwischen dem im Weiß strahlenden

Wie kann man die verschlossenen Türen öffnen? Die Gruppe muss Aufgaben lösen, um ihre Symbole freizuschalten.
futuristischen Hauptquartier und der Nervenheilanstalt zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Aber die malerischen Illustrationen  laden immer wieder zum Hinsehen ein und sorgen für gediegene Stimmung. Auch die vielen Objekte, Charaktere etc. sehen sehr gut aus.

Obwohl das Abenteuer ideal mit vier Leuten gespielt wird, kann man theoretisch übrigens auch zu zweit oder besser zu dritt loslegen - in ersterem Fall muss allerdings jeder zwei Wirte übernehmen; außerdem sinkt natürlich der individuelle Überraschungseffekt sowie das Diskussionspotenzial beim Umdrehen der Karten. Apropos Gespräche: Da bei jedem Ortswechsel der "Zeitcaptain" wechselt, ist auch jeder mal eine Art Anführer, der zum einen die Abzüge auf der Zeitleiste erwürfelt bzw. vornimmt, aber der zum anderen bei Uneinigkeit über die nächste Route oder Vorgehensweise endgültig bestimmen darf. Ein richtig vorbildliches Feature ist übrigens das Abspeichern: Ja, richtig gehört. Falls ihr mittendrin aufhören müsst, könnt ihr die aktuelle Spielsituation inkl. aller Karten & Co genau so in der dafür extra designten Box sortieren.

Was gefällt nicht so gut?

Vielleicht beim zweiten Versuch den Charakter wechseln?
T.I.M.E Stories inszeniert eine klasse Geschichte - aber eben nur eine. In der Basisbox befindet sich leider nur der (streng sortierte) Kartensatz für das Abenteuer mit der Nervenheilanstalt. Das ist recht wenig, wenn man bedenkt, dass man für eine Sitzung eine bis maximal zwei Stunden benötigt. Zwar wird man es vielleicht nicht auf Anhieb meistern und mehr als einen Versuch brauchen, aber spätestens danach gibt es keinerlei Wiederspielwert. Hätte man nicht zumindest eine andere Zeitachse implementieren können? Also muss man Erweiterungen kaufen (aktuell erhältlich: "Der Marcy-Fall" in der Gegenwart; "Die Drachen-Prophezeiung" im Mittelalter; "Hinter der Maske" im alten Ägypten), die nochmal mit knapp 25 Euro zu Buche schlagen. Pandemic Legacy bietet da z.B. wesentlich mehr kooperative Spielzeit.

Rätselfreunde kommen nicht so kreativ auf ihre Kosten wie in Villen des Wahnsinns, wo man z.B. wirklich aktiv Schalter und Leitungen auslegen musste, aber dafür findet man auch mal obskure Skizzen mit Codes, die es zu entschlüsseln gilt. Last but not least hätte man die Spannung vielleicht noch erhöhen können, wenn man eine Gegenorganisation zur Zeitreise-Agentur aufgebaut hätte, ähnlich wie...natürlich: bei den Templern und Assassinen im gleichnamigen Videospiel. So ist es bis auf den Zeitverlust relativ egal, ob man bei einem Einsatz stirbt. Man vermisst eine übergreifendere Dramaturgie oder einen Antagonisten, der auch mal von

Wer schaut sich in der Krankenstation was genauer an?
außen eingreift und die Agenten sowie ihre Ziele tatsächlich bedroht.

Fazit

Das ist mal eine stimmungsvolle Abwechslung! Ich mag kooperative Abenteuer sehr gerne und T.I.M.E Stories bereichert dieses Genre nicht nur mit seinem Zoomeffekt: Das simple Umdrehen einer Karte wirkt wie ein visuelles Hineinspazieren. Nachdem man in eine malerische Szene abtaucht, kann einem zudem alles Mögliche passieren - ein Fund, ein Gespräch, eine Aufgabe, ein Konflikt. Weil das auch noch gleichzeitig und individuell in einem mysteriösen Szenario geschieht, entsteht sehr viel lebendige Kommunikation am Tisch. Auch Rollenspieler alter Schule kommen auf ihre Kosten, denn man schlüpft in einen Charakter mit exklusiven Fähigkeiten, löst Rätsel, sammelt Gegenstände, kämpft und manchmal wird etwas vorgelesen. Neben dem offenen Storytelling mit seinen Andeutungen überzeugt auch die Spielmechanik. Es macht Spaß, Schlüssel und Wege für blockierte Türen zu finden; das Würfelsystem für die Proben ist simpel, aber angenehm frisch; das Kartensystem punktet mit dynamischen Änderungen durch Geheimräume; die ablaufende Zeit sorgt dafür, dass sich alle taktisch fokussieren müssen. Die Trennung zwischen futuristischer Basis und historischem Spielplatz erinnert natürlich sofort an Assassin's Creed, aber es steckt genug eigene Interpretation in diesem Zeitreise-Abenteuer. Dass der Funke der Begeisterung nicht so ganz überspringt wie bei Pandemic Legacy oder Villen des Wahnsinns liegt zum einen daran, dass man mit dem einen Szenario wirklich sehr schnell fertig ist. Zum anderen vermisst man eine übergeordnete Dramaturgie, die die Agenten spürbarer von außen in Gefahr bringt. Aber das sind wirklich Kleinigkeiten: Ein großes Lob an Manuel Rozoy für dieses kreativ designte und malerisch illustrierte Brettspiel.

Für alle, die eine Wertung vermissen: Wir werden hier nur unsere Highlights vorstellen. Natürlich gibt es auch in der Brettspielwelt einen bunten Mainstream und billigen Murks, aber wir wollen euch alle zwei Wochen kreative Geheimtipps und ungewöhnliche Spieleperlen empfehlen, die man vielleicht nicht in jedem Kaufhaus findet.

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