"Tell me, Dr. Freeman, if you can, after destroying so much..."
Gordon Freeman ist nicht nur der letzte "freie Mensch", wie sein Name schon vorwegnimmt, sondern auch "frei" von der evolutionstheoretischen Propaganda der Combines. Im Spiel folgen wir seiner eigenen Evolution: vom archaischen Brecheisen zur industriell gefertigten Projektilwaffe bis zur Natur beherrschenden Gravitationskanone. Sammeln, kombinieren, upgraden ist jedoch nicht nur die Technik Freemans sondern auch der Combines - hier ist der Name ebenfalls "Programm" - und es ist darüber hinaus ein Entwicklungsprinzip, das Computerspiele selbst als Erfolgsrezept in sich tragen: Nur wer auf der Höhe der Aufstiegsmöglichkeiten bleibt, wird das Spiel bis zum Ende schaffen. Ist Freeman also in Wirklichkeit doch nicht frei? Ist er im Grunde wie die Combines? Wir bewegen uns nach wie vor im Wahn der Paranoia. Und so ist die unvermeidliche Konfrontation zwischen beiden konkurrierenden Parteien in der dunklen labyrinthartig Höhle der Zitadelle fast unerträglich spannend, denn eingesperrt in einem Transportkanister und ohne Differenz erzeugende Waffen ist es uns zunächst kaum möglich zwischen Aliens und menschlichen Arbeitern zu unterscheiden. Doch bevor auch für Gordon die Grenze zwischen ihm und den Fremden zusammenbricht, erlöst ihn die Ankunft in der Zentrale der Zitadelle mit einem Monitorbild der Combines, das sie wohl zum ersten Mal in ihrer
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Combine im Visier. |
"wahren" Gestalt zeigt. Ihre humanoide Form entpuppt sich als eine Maskierung, ohne sie sehen Combines wulstig und unförmig aus, wie Würmer. Selbst Gordons Widersacher und Unterstützer der Combines, Dr. Breen, lässt nun erkennen, wie sehr ihn die Vorstellung erschreckt, für seinen Gang durch das Portal seine eigene menschliche Gestalt aufgeben und in die fremde Form eines Combine schlüpfen zu müssen. Die anschließende Zerstörung des Portals ist letztlich nur noch Bestätigung des wieder hergestellten menschlichen Weltbildes - wenn die Szene des explodierenden Portals erstarrt und der G-Man erscheint, legt sich auch die Paranoia und Gordons Job ist getan.
Gordon erweist sich in vielerlei Hinsicht als geradezu stereotypischer "Held" der Dystopie: seine Perspektive ist die eines Außenseiters im System - der Name "Free-man" zeigt dies an - auf der Suche nach einem stabilen Identitätskern außerhalb der totalitären Ideologie. Trotz eines glücklichen Endes schließt "Half-Lifes" Zukunftsentwurf offen und ambivalent: Ein positives Gegenmodell wie etwa das aus der Stadt ausgeschlossene Naturhafte erscheint in traumhaft rosigen Sonnenuntergängen zwar idyllisch, aber nur, solange das Triebhafte, Ungezähmte oder Sublime nicht nach Gordons Leben dürstet. Vielleicht ist es auch schlicht das befreite "ganze" Leben, welches hier das utopische Gegenüber bilden soll?
Lost in Translation? - Schlussbemerkung
Die vergleichende Analyse Half-Lifes auf Grundlage von Literatur hat zumindest Verzahnungen von Spielszenarien mit Plot-Strukturen bekannter utopischer Literatur darlegen können. Wenngleich die Wiederherstellung einer menschlichen Ordnung und das so wieder eingeführte Gut-Böse Schema deutlich von den literarischen Vorlagen abweicht, bedient sich das Spiel inhaltlich versatzstückartig aus der Science Fiction und Utopie, nicht zuletzt schrieb Marc Laidlaw, Schriftsteller und Science Fiction-Autor, die Geschichte von Half-Life 2. Aber auch der nonlineare Aufbau von Half-Life sowie die Reihenfolge der Levels - vom Erwachen Freemans zur Konfrontation mit dem System, zum (möglichen) Gegenmodell bis zur scheinbaren Auflösung - folgen dem Erzählschema der literarischen Vorlagen. Gonzalo Frasca hat mit dem Begriff des Ludus diese Möglichkeiten der Übersetzung eines Plots in ein Programm dargelegt (Frasca, 1999), wobei Frasca darauf hinweist, dass ein Plot keine Erzählung sei. Man könnte ergänzen, dass auch ein Programm noch lange kein "Spiel" darstellt.
Im Hinblick auf die Simulation eines dystopischen Zukunftsentwurfs zeigt Half Life ebenfalls Stärken: So macht es die Methoden und Auswirkungen eines Überwachungsstaates spielerisch an der Hauptfigur - und mich allein durch Erzählen - erfahrbar und vermittelt Paranoia, das verunsichernde Gefühl von steter Verfolgung und Überwachung, sehr eindringlich.
In einigen Punkten stößt meine vergleichende Analyse jedoch auf Probleme der Übersetzbarkeit zwischen Literaturvorlage und Spiel von denen folgende am deutlichsten sind: Statt Charakterentwicklung haben wir Waffenarten und Upgrades, gegenüber der immer auch sprachlichen Selbstfindung des Protagonisten in der utopischen Literatur, haben wir geskriptete Dialoge und eine (ver-)schweigende Hauptfigur. Die wichtigen utopischen Aspekte der Auseinandersetzung und Erkenntnis sind während langer Phasen des Spiels auf die nonverbale, vorprogrammierte Interaktion mit bestimmten Objekten der Umwelt fokussiert oder polemisch formuliert: dem physikalisch korrekten Zerschießen, Zerbrechen oder Werfen von in der Hauptsache Kisten und Fässern. Dies wirft für einen Vergleich Probleme auf, die zwischen dem literarischen "Ziel" eines kritischen Bewusstseins und den "Goals" des Spiels bestehen. In diesem Punkt scheint mir Spiel und Narration auch am weitesten auseinander zu laufen: Eine verhältnismäßig einfache Interaktion sowie eine recht große Beweglichkeit und Wahl der Spielerposition zu den Objekten und Figuren - es ist immerhin eine dreidimensional simulierte Welt - bestimmt das Spielen, während die geskripteten Narrationssequenzen allein der Interpretation dienen, ohne letztlich viel zum Verlauf des Spiels beizutragen. Die Multiperspektivität verhindert allerdings eine dem Roman vergleichbare, einheitliche Sicht des Protagonisten. Die strenge Linearität von Half-Life kommt zudem weitestgehend ohne erzählende Dialoge aus und so ist der Spieler - wie einige aufgezeichnete Walkthroughs im Netz zeigen - bereits am nächsten Ausgang, ohne die Aufführung der Nicht-Spieler abwarten zu müssen. Damit gehen ein Teil der Atmosphäre, aber auch der möglichen Botschaft verloren.
Das Spielen scheint das Erzählen geradezu unübersetzbar auszuschließen, zumindest wenn man Ludologen folgt. Jesper Juul etwa sieht im Spiel einen inneren Konflikt zwischen dem zeitlichen "Jetzt", der spielerischen Interaktion und dem Vergangenen der Erzählung: "In an 'interactive story' game where the user watches video clips and occasionally makes choices, story time, narrative time, and reading/viewing time will move apart, but when the user can act, they must necessarily implode: it is impossible to influence something that has already happened. This means that you cannot have interactivity and narration at the same time." (Juul: Games Telling Stories?) Gerade dieser "Aktionsbremse" der Cut-Scenes wollte Half-Life jedoch mit seinen geskripteten "lebensechten" In-Game Erzählungen, die wie eine Aufführung wirken, gegenübertreten und die Erzählzeit einerseits der Spielzeit andererseits angleichen. Ob diese Methode der "Aufweichung" des Spiels hin zur Narration ein Zukunftsmodell sein wird, muss sich selbstverständlich zeigen.
Aber auch seitens der Literatur, wenden sich neuere Utopien, besonders die so genannten Anti-Utopien der 70er Jahre, dem Spiel mit der Narration zu. So verwendet etwa Joanna Ross in "The female man" die Cut-Up Technik, eine nonlineare Erzähltechnik sowie wechselnde Protagonisten und Ironisierung ihrer Stimmen, um dem Leser nicht nur interpretatorische Freiheiten zu geben, sondern auch seine Lesegewohnheiten aufzubrechen und ihn aktiv in Auseinandersetzung mit dem Text zu bringen. Auch dieses Einzelbeispiel hat freilich Grenzen und es kann sicher nur um eine Aufweichung gehen und nicht um ein Ineinssetzen. Half-Life 2 hingegen scheint nur an ganz wenigen Stellen ein komplexes Zeitschema aufzuweisen, obwohl dies eigentlich mit der für das Spiel zentralen Erfindung der räumlichen wie zeitlichen Teleportation angedeutet ist, etwa zu Beginn in den Montagen aus G-Man und den noch zu entdeckenden Transportbändern der Zitadelle, ebenso wenn Gordon und Alyx mit sieben Tagen Zeitverlust aus dem Nova Prospect Gefängnis teleportieren sowie in der "einfrierenden" Endszene.
Aber so einleuchtend die Differenzen hinsichtlich Zeitschemata, Interaktion, Linearität, Aktivität -
Passivität zunächst oberflächlich erscheinen, so sehr verzahnen sich Spiel und Narration weiterhin und arbeiten an den Grenzen des jeweils anderen. Man könnte es auch abschließend mit G-Man formulieren: "Rather than offering you the illusion of free choice, I will take the liberty of choosing for you, if and when your time comes round again."
Zuletzt: Natürlich ist Half-Life 2 selbst eine Utopie, nicht nur, weil Exavior sich mittels Half-Life 2-Engine seine eigene Wohnung gebastelt hat (
http://www.exavior.com/apt). Die Versprechen, der nächste Schritt in Sachen Interaktivität, physikalischen Realismus, Fotorealismus sowie geskripteter Erzählung zu sein, ist selbstverständlich auch von der Spielgemeinschaft auf- und angenommen worden. Wir werden sehen, ob wir es wirklich mit einem zukunftstauglichen Modell zu tun haben.