Special: Half-Life 2 und die literarische Utopie (Action)

von Jörg Luibl



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Publisher: 4Players
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 "Tell me, Dr. Freeman, if you can, after destroying so much..."

Gordon Freeman ist nicht nur der letzte "freie Mensch", wie sein Name schon vorwegnimmt, sondern auch "frei" von der evolutionstheoretischen Propaganda der Combines. Im Spiel folgen wir seiner eigenen Evolution: vom archaischen Brecheisen zur industriell gefertigten Projektilwaffe bis zur Natur beherrschenden Gravitationskanone. Sammeln, kombinieren, upgraden ist jedoch nicht nur die Technik Freemans sondern auch der Combines - hier ist der Name ebenfalls "Programm" - und es ist darüber hinaus ein Entwicklungsprinzip, das Computerspiele selbst als Erfolgsrezept in sich tragen: Nur wer auf der Höhe der Aufstiegsmöglichkeiten bleibt, wird das Spiel bis zum Ende schaffen. Ist Freeman also in Wirklichkeit doch nicht frei? Ist er im Grunde wie die Combines? Wir bewegen uns nach wie vor im Wahn der Paranoia. Und so ist die unvermeidliche Konfrontation zwischen beiden konkurrierenden Parteien in der dunklen labyrinthartig Höhle der Zitadelle fast unerträglich spannend, denn eingesperrt in einem Transportkanister und ohne Differenz erzeugende Waffen ist es uns zunächst kaum möglich zwischen Aliens und menschlichen Arbeitern zu unterscheiden. Doch bevor auch für Gordon die Grenze zwischen ihm und den Fremden zusammenbricht, erlöst ihn die Ankunft in der Zentrale der Zitadelle mit einem Monitorbild der Combines, das sie wohl zum ersten Mal in ihrer
Combine im Visier.
"wahren" Gestalt zeigt. Ihre humanoide Form entpuppt sich als eine Maskierung, ohne sie sehen Combines wulstig und unförmig aus, wie Würmer. Selbst Gordons Widersacher und Unterstützer der Combines, Dr. Breen, lässt nun erkennen, wie sehr ihn die Vorstellung erschreckt, für seinen Gang durch das Portal seine eigene menschliche Gestalt aufgeben und in die fremde Form eines Combine schlüpfen zu müssen. Die anschließende Zerstörung des Portals ist letztlich nur noch Bestätigung des wieder hergestellten menschlichen Weltbildes - wenn die Szene des explodierenden Portals erstarrt und der G-Man erscheint, legt sich auch die Paranoia und Gordons Job ist getan.

Gordon erweist sich in vielerlei Hinsicht als geradezu stereotypischer "Held" der Dystopie: seine Perspektive ist die eines Außenseiters im System - der Name "Free-man" zeigt dies an - auf der Suche nach einem stabilen Identitätskern außerhalb der totalitären Ideologie. Trotz eines glücklichen Endes schließt "Half-Lifes" Zukunftsentwurf offen und ambivalent: Ein positives Gegenmodell wie etwa das aus der Stadt ausgeschlossene Naturhafte erscheint in traumhaft rosigen Sonnenuntergängen zwar idyllisch, aber nur, solange das Triebhafte, Ungezähmte oder Sublime nicht nach Gordons Leben dürstet. Vielleicht ist es auch schlicht das befreite "ganze" Leben, welches hier das utopische Gegenüber bilden soll?

Lost in Translation? - Schlussbemerkung

Die vergleichende Analyse Half-Lifes auf Grundlage von Literatur hat zumindest Verzahnungen von Spielszenarien mit Plot-Strukturen bekannter utopischer Literatur darlegen können. Wenngleich die Wiederherstellung einer menschlichen Ordnung und das so wieder eingeführte Gut-Böse Schema deutlich von den literarischen Vorlagen abweicht, bedient sich das Spiel inhaltlich versatzstückartig aus der Science Fiction und Utopie, nicht zuletzt schrieb Marc Laidlaw, Schriftsteller und Science Fiction-Autor, die Geschichte von Half-Life 2. Aber auch der nonlineare Aufbau von Half-Life sowie die Reihenfolge der Levels - vom Erwachen Freemans zur Konfrontation mit dem System, zum (möglichen) Gegenmodell bis zur scheinbaren Auflösung - folgen dem Erzählschema der literarischen Vorlagen. Gonzalo Frasca hat mit dem Begriff des Ludus diese Möglichkeiten der Übersetzung eines Plots in ein Programm dargelegt (Frasca, 1999), wobei Frasca darauf hinweist, dass ein Plot keine Erzählung sei. Man könnte ergänzen, dass auch ein Programm noch lange kein "Spiel" darstellt.

Im Hinblick auf die Simulation eines dystopischen Zukunftsentwurfs zeigt Half Life ebenfalls Stärken: So macht es die Methoden und Auswirkungen eines Überwachungsstaates spielerisch an der Hauptfigur - und mich allein durch Erzählen - erfahrbar und vermittelt Paranoia, das verunsichernde Gefühl von steter Verfolgung und Überwachung, sehr eindringlich.

In einigen Punkten stößt meine vergleichende Analyse jedoch auf Probleme der Übersetzbarkeit zwischen Literaturvorlage und Spiel von denen folgende am deutlichsten sind: Statt Charakterentwicklung haben wir Waffenarten und Upgrades, gegenüber der immer auch sprachlichen Selbstfindung des Protagonisten in der utopischen Literatur, haben wir geskriptete Dialoge und eine (ver-)schweigende Hauptfigur. Die wichtigen utopischen Aspekte der Auseinandersetzung und Erkenntnis sind während langer Phasen des Spiels auf die nonverbale, vorprogrammierte Interaktion mit bestimmten Objekten der Umwelt fokussiert oder polemisch formuliert: dem physikalisch korrekten Zerschießen, Zerbrechen oder Werfen von in der Hauptsache Kisten und Fässern. Dies wirft für einen Vergleich Probleme auf, die zwischen dem literarischen "Ziel" eines kritischen Bewusstseins und den "Goals" des Spiels bestehen. In diesem Punkt scheint mir Spiel und Narration auch am weitesten auseinander zu laufen: Eine verhältnismäßig einfache Interaktion sowie eine recht große Beweglichkeit und Wahl der Spielerposition zu den Objekten und Figuren - es ist immerhin eine dreidimensional simulierte Welt - bestimmt das Spielen, während die geskripteten Narrationssequenzen allein der Interpretation dienen, ohne letztlich viel zum Verlauf des Spiels beizutragen. Die Multiperspektivität verhindert allerdings eine dem Roman vergleichbare, einheitliche Sicht des Protagonisten. Die strenge Linearität von Half-Life kommt zudem weitestgehend ohne erzählende Dialoge aus und so ist der Spieler - wie einige aufgezeichnete Walkthroughs im Netz zeigen - bereits am nächsten Ausgang, ohne die Aufführung der Nicht-Spieler abwarten zu müssen. Damit gehen ein Teil der Atmosphäre, aber auch der möglichen Botschaft verloren.

Das Spielen scheint das Erzählen geradezu unübersetzbar auszuschließen, zumindest wenn man Ludologen folgt. Jesper Juul etwa sieht im Spiel einen inneren Konflikt zwischen dem zeitlichen "Jetzt", der spielerischen Interaktion und dem Vergangenen der Erzählung: "In an 'interactive story' game where the user watches video clips and occasionally makes choices, story time, narrative time, and reading/viewing time will move apart, but when the user can act, they must necessarily implode: it is impossible to influence something that has already happened. This means that you cannot have interactivity and narration at the same time." (Juul: Games Telling Stories?) Gerade dieser "Aktionsbremse" der Cut-Scenes wollte Half-Life jedoch mit seinen geskripteten "lebensechten" In-Game Erzählungen, die wie eine Aufführung wirken, gegenübertreten und die Erzählzeit einerseits der Spielzeit andererseits angleichen. Ob diese Methode der "Aufweichung" des Spiels hin zur Narration ein Zukunftsmodell sein wird, muss sich selbstverständlich zeigen.

Aber auch seitens der Literatur, wenden sich neuere Utopien, besonders die so genannten Anti-Utopien der 70er Jahre, dem Spiel mit der Narration zu. So verwendet etwa Joanna Ross in "The female man" die Cut-Up Technik, eine nonlineare Erzähltechnik sowie wechselnde Protagonisten und Ironisierung ihrer Stimmen, um dem Leser nicht nur interpretatorische Freiheiten zu geben, sondern auch seine Lesegewohnheiten aufzubrechen und ihn aktiv in Auseinandersetzung mit dem Text zu bringen. Auch dieses Einzelbeispiel hat freilich Grenzen und es kann sicher nur um eine Aufweichung gehen und nicht um ein Ineinssetzen. Half-Life 2 hingegen scheint nur an ganz wenigen Stellen ein komplexes Zeitschema aufzuweisen, obwohl dies eigentlich mit der für das Spiel zentralen Erfindung der räumlichen wie zeitlichen Teleportation angedeutet ist, etwa zu Beginn in den Montagen aus G-Man und den noch zu entdeckenden Transportbändern der Zitadelle, ebenso wenn Gordon und Alyx mit sieben Tagen Zeitverlust aus dem Nova Prospect Gefängnis teleportieren sowie in der "einfrierenden" Endszene.

Aber so einleuchtend die Differenzen hinsichtlich Zeitschemata, Interaktion, Linearität, Aktivität -
Neugierig auf eine Vertiefung des Themas? Die Kolumne ist nur lockerer Aufmacher des aktuellen Spielkulturthemas "Half-Life 2 & die literarische Utopie":

Interview: Dennis Ray Vollmer Biografie: HL2-Autor im Überblick
Bilderserie: Von Orwell bis Valve
Porträt: Dennis Ray Vollmer
Passivität zunächst oberflächlich erscheinen, so sehr verzahnen sich Spiel und Narration weiterhin und arbeiten an den Grenzen des jeweils anderen. Man könnte es auch abschließend mit G-Man formulieren: "Rather than offering you the illusion of free choice, I will take the liberty of choosing for you, if and when your time comes round again."

Zuletzt: Natürlich ist Half-Life 2 selbst eine Utopie, nicht nur, weil Exavior sich mittels Half-Life 2-Engine seine eigene Wohnung gebastelt hat (http://www.exavior.com/apt). Die Versprechen, der nächste Schritt in Sachen Interaktivität, physikalischen Realismus, Fotorealismus sowie geskripteter Erzählung zu sein, ist selbstverständlich auch von der Spielgemeinschaft auf- und angenommen worden. Wir werden sehen, ob wir es wirklich mit einem zukunftstauglichen Modell zu tun haben.
           

Kommentare

johndoe-freename-73049 schrieb am
Ich fand den Anfang eher mittelmässig und bin auch der Meinung, dass im Verlauf des Spiels wesentlich mehr drin gewesen wäre. Allerdings fand ich das Ende (als Lynch-Fan) klasse, was nicht zuletzt am ersten Musikstück im Abspann liegt und der G-Man ein \"klasse Schauspieler\" ist.
Ich bedaure meist, dass mein Interesse aufgrund schlechter Storys oder Inszenierungen abhanden kommt (Ausnahmen bilden für mich Spiele wie Max Payne 2, Deus Ex oder Thief 3, die vielleicht nicht allen Belangen überzeugen, aber dafür in Sachen Story und Inszenierung).
Ich fände es wünschenswert, wenn sich die Entwickler desöfteren an guter Literatur(oder Filmen)bedienen würden. Das Rad muss ja nicht ständig neu erfunden werden, aber mehr Kreativität und vielleicht die ein oder andere inspirative Quelle wäre doch wohl sehr von Nöten.
Was die Wortwahl betrifft hätte man sich auch einer etwas einfacheren Auswahl bedienen können, um dem ein oder anderen den Text leichter zugänglich machen zu können, denke ich. Als Selbstbeweiräucherung oder Aufgeblasenheit würde ich es aber eher nicht interpretieren.
Mich freut es, aber auch sehr hier mal etwas derartiges Lesen zu können.
Jörg Luibl schrieb am
Dream works hat geschrieben:Ich muss jedoch noch anmerken, dass ich gerade die ungewähnliche Rolle des Protagonisten an der Half-Life-Reihe sehr schätze. Ich habe gewisse Probleme mit dem Argument, dass Spiel liese keine Identifikation mit dem Spielcharakter zu und ist deswegen erzählerisch wertlos.
Es kommt eben darauf an, wie man Half-Life 2 liest, wie man es erlebt. Deine Interpretation...
Dream works hat geschrieben:Ich vertrete die Theorie, dass sich die Geschehnisse nur in dem Bewusstsein des Freemans abspielen.
...hat auch ihre Grundlage. Und sie wäre vielleicht die einleuchtendste Antwort auf die Frage, warum sich Gordons Charakter nicht entwickelt. Wenn man diese Theorie aufnimmt, frage ich mich allerdings, warum diesem inneren Theater nicht mal die Kulissen weggerissen werden? Das hätte doch noch viel mehr Dramatik gebracht!
Dream works hat geschrieben:Freeman ist also wahrscheinlich kein "realer" Charakter, der eine soziale Rolle innerhalb eines existenten Gesellschaftsgefüges einnimmt.
Okay, wenn man also mit HL2 nur eine innere Utopie, einen Vorgang innerhalb des eigenen Bewusstseins spielt - hätte dieses dann nicht deutlicher zum Vorschein kommen müssen? Ist das Spiel dafür nicht zu steril in der Abbildung der Ereignisse? Ich denke da z.B. an seelische Verzerrungen, Flashbacks, Déjà-vus etc.
Dream works hat geschrieben:Könnte natürlich auch alles völlig anders sein. Ich finde, gerade aus diesen vielfältigen Interpretationsmöglichkeiten zieht die Story von Half-Life 2 ihren Reiz.
In der Theorie ist das tatsächlich reizvoll, darüber zu spekulieren. Aber als ich im Spiel aufgehen wollte, fehlte es mir in der Mitte an erzählerischem Fleisch, an Dramaturgie. Gordon kam mir nach ein paar Stunden nicht mehr vor wie ein Doktor, sondern wie ein Duke - erzählerisch immer flacher, grafisch immer steiler. Dabei gehört der Einstieg zu den dramaturgisch besten, die ich jemals gespielt habe. Hätte HL2 dieses Niveau nur halten können...
Bis denne
Dream works schrieb am
So übertrieben intellektuell und hochtrabend finde ich diesen Artikel gar nicht. Da war der erste wesentlich schlimmer. Bei dem musste ich jeden zweiten Satz mit dem Synonymwörterbuch übersetzen.
Andererseits verlangt diese Thema und überhaupt die gesamte Rubrik \"Spielekultur\" gerade eine adäquate Sprachfom.
Allerdings finde ich auch, dass es dem Beitrag an Substanz mangelt. Auf welcher Ebene Half-Life 2 funktioniert (oder eben auch nicht funktioniert) dürfte hinlänglich zumindest jedem bekannt sein, der Spiele nicht mit ausgeschaltetem Hirn spielt.
Ich muss jedoch noch anmerken, dass ich gerade die ungewähnliche Rolle des Protagonisten an der Half-Life-Reihe sehr schätze. Ich habe gewisse Probleme mit dem Argument, dass Spiel liese keine Identifikation mit dem Spielcharakter zu und ist deswegen erzählerisch wertlos. Es gehört doch zum Spielprinzip, dass Gordon Freeman als Figur, die quasi außerhalb der Ereignisse steht und nur zu bestimmten Zwecken ins Spiel kommt, keinen Charakter entwickelt. Ich vertrete die Theorie, dass sich die Geschehnisse nur in dem Bewusstsein des Freemans abspielen. Zwar schweigt sich das Spiel darüber aus, aber offensichtlich ist es ja so, dass Gordon Freeman kein fassbarer, fester Bestandteil der Welt ist. Anders ist es, denke ich, kaum zu erklären, dass er bzw. der Spieler sich plötzlich in einem Zug wiederfindet ohne eingestiegen zu sein und am Ende nach erledigter Mission wieder in die Ruhephase versetzt wird, während sich der G-Man ausklingt. Freeman ist also wahrscheinlich kein \"realer\" Charakter, der eine soziale Rolle innerhalb eines existenten Gesellschaftsgefüges einnimmt.
Könnte natürlich auch alles völlig anders sein. Ich finde, gerade aus diesen vielfältigen Interpretationsmöglichkeiten zieht die Story von Half-Life 2 ihren Reiz. Ich kann daher überhaupt nicht verstehen, wenn man ihr mangelnde Substanz vorwirft. Das Gegenteil ist doch der Fall.
haldolium schrieb am
[quote=Ragism]
Der interessantere Teil war da eher, wie schlecht Half-Life 2 im narrativen ist.
[/quote]
Jo da kann ich dir in gewissem maße zustimmen. Ich finde ebenfalls, dass valves "100%-ego" Prinzip nicht so ganz aufgeht.
Zwar ist HL2 imho noch viel intensiver als diverse genre-mitstreiter, aber mit 3rd-person cutscenes hätten die bestimmt mehr erreicht.
So wie in Gothic, wo man ebenfalls als namenloser Held beginnt und sich ersteinmal mit dem charakter auseinander setzen muss.
Jörg Luibl schrieb am
Ragism hat geschrieben: Man betrachte nur, wieviele schlechte Beiträge in jeder Ausgabe des Spiegels stehen. Trotzdem könnten wir ihn nicht mehr wegdenken. Ich hoffe, das wird bei Euch genauso! Toi, toi, toi!
Hey, der Vergleich geht jetzt runter wie Butter...;)
Bis denne
schrieb am