Utopie: Der Nicht-Ort
Der utopische Raum ist wörtlich übersetzt ein "Nicht-Ort" (gr. ou = nicht, topos = Ort), ein künstliches Nirgendwo: Thomas Morus etwa, entwirft 1516 einen Idealstaat nach dem Vorbild der Platonischen "Politeia" auf der abgelegenen Insel Utopia, Swifts Gulliver (Gulliver's Travels, 1906) sucht u.a. Lilliput mit dem Schiff auf, Bellamys Julian West bereist die Zukunft im Schlaf, H.G. Wells' Zeitreisender benötigt dazu eine Zeitmaschine (The Time Machine, 1894), Callenbachs William Weston nimmt das Flugzeug (Ecotopia, 1975), Ursula LeGuins Shevek hingegen startet per Rakete (The Dispossessed, 1974) und Joanna Ross' Heldin Janet Evason (The female man, 1975) wechselt zwischen Parallelwelten. Gordon Freeman teleportiert innerhalb des Spiels mehrfach und manchmal vergehen - aus ungeklärten Gründen - Tage bis zur "Ankunft". Die genauen Bedingungen oder Ereignisse des Übergangs selbst werden in Utopien häufig verschwiegen und so ist der Besucher eines "Nicht-Ortes" stets gezwungen, die Distanz zwischen der bekannten physischen, politischen oder sozialen Realität und der utopischen nicht nur körperlich sondern ebenso geistig zu überwinden. Darko Survin (Survin, 1979) schlägt insgesamt vor, die literarische Utopie zu verstehen als "[verbale] Konstruktion einer konkreten quasi menschlichen Gemeinschaft, in der die sozialpolitischen Einrichtungen, Normen und persönliche Beziehungen nach einem vollkommeneren Prinzip geordnet sind als in der Gemeinschaft des Autors; diese basiert auf der Verfremdung, die sich aus einer alternativen historischen Hypothese ergibt." Es zeigt sich an dieser immer noch populären Definition die Nähe zum Science Fiction und auch die Problematik, Utopie von anderen literarischen Gattungen klar abzugrenzen. Auch lässt sich die Utopie in sich weiter differenzieren, zumindest in ihr negatives Gegenstück, der Dystopie, sowie in ihre Kritik, der Anti-Utopie. Ich möchte aber die Debatte hier nicht vertiefen, nur soviel sei vielleicht gesagt: Die Utopie hat sich stets sowohl unterschiedlicher literarischer wie auch medialer Formen bedient, sei es der Satire, feministischen Kritik, des Films und ist daher nicht notwendig auf die "verbale Konstruktion" begrenzt - warum also, sollten Utopien sich nicht der Simulationsmöglichkeiten des Computerspiels bedienen?
Life in the City
City 17, die Stadt in Half-Life 2 und wie der Name andeutet nur eine von vielen, ist so ein Nicht-Ort, allerdings als Negativ eines utopischen Entwurfs - als Dys-topie: eine nach außen abgeschottete, vom Krieg mit außerirdischen Besatzern zerstörte, europäische Stadt mit einer ebenso zerfallenden menschlichen Kultur. Das Ordnungsprinzip ist hier nicht Vollkommenheit, wie Survin als Kriterium anführt, sondern die Totalität eines Prinzips. Stabilisiert ist die Ordnung durch ein paranoides System der stetigen Scans und Identifikation, des Eindringens ins Private durch Razzien und Polizeigewalt, der Triebbeherrschung sowie der Gedankenkontrolle durch suggestive mediale Botschaften und Lautsprecher-Propaganda, wie sie nicht deutlicher an Orwells "1984" (Orwell, 1949) erinnern könnten. (Vgl. Elizabeth Sewell, "The Nonsense System in Lewis Carroll's Work and in Today's World", in: Edward Guiliano (ed.), Lewis Carroll Observed, New York 1976) Paranoia oder "Verfolgungswahn", darauf hat Raimar Zons im Zusammenhang mit neueren so genannten posthumanen Zukunftsszenarien in Filmen wie "Minority Report" und "Matrix" hingewiesen (Zons, 2004), basiert auf einer Verunsicherung des eigenen Weltbildes, hervorgerufen durch die Auflösung verbindlicher Weltdeutungen und Wertekategorien. Der Andere ist nicht, was er vorgibt zu sein - vielleicht ist mein
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Die Evolution vom Affen bis zum Combine. |
Nachbar ein bösartiges Alien? Im Fall von Half-Life 2 scheint es die Verunsicherung über die Natur und den Sinn menschlichen Lebens zu sein, die den paranoiden Gedanken beschäftigt: Menschen werden ihrer Freiheit beraubt, entindividualisiert und klassifiziert in Bürger, modifiziert zu Wachpersonal oder gleich rekombiniert als Stalker bzw. hochgezüchtete Übermenschen. Künstliche Intelligenz steht der biologischen Intelligenz gegenüber oder ist ihr gleichgestellt wie etwa im Fall von DOG, dem Roboter-Hund. Eine Evolutionsideologie verdeutlicht den Menschen als Zwischenschritt im Aufstieg vom Tierhaften zum Göttlichen. Der Menschheit selbst ist daher nicht nur per Triebunterdrückung die Subjektwerdung verwehrt - sexuelle Befreiung zieht immer auch den Ausdruck des Individuums nach sich -, sondern per Geburtenkontrolle sogar die Mitbestimmung der eigenen Zukunft als Spezies. So hält die Diktatur der Combines eine ganze Bandbreite albtraumhafter anthropologischer Kränkungen bereit, in dem sie verunsichern, was bisher als "menschlich" und "natürlich" verstanden wurde und damit selbstverständlich ihre eigene Agenda verfolgen.
Half-a-life
Während in der Stadt das technisierte Leben, die zweite Natur, regiert, scheinen die Außenbezirke, das Land und der Untergrund geradezu ein anarchisches Paradies des Verdrängten zu sein: schleimige Headcrabs, insektoide Ant-Lions, lebenshungrige Zombies - hier kämpft die unmodifizierte erste Natur gegen das "Unnatürliche" um ihr Überleben und markiert gleichzeitig - typisch für die Dystopie - die Wirkungsgrenzen des totalitären Apparates.
Allerhand Leben also, außerirdisches Leben, naturhaftes, "untotes" sowie simuliertes Leben hinter und vor den Stadttoren bilden ein verwirrendes, beängstigendes Netz. Wenn wir daher durch Gordon Freemans Augen sehen, sind wir nochmals gezwungen, in die chaotische Welt eine Differenz einzuführen, d.h. zwischen menschlichen Revolutionären, posthumanen Combines und anderem "Halb-Leben" zu unterscheiden. Und wir werden das Gefühl nicht los, dass Gordons Knarren sehr einfache, aber effektive "Differenzerzeuger" darstellen. Sehen wir uns als Spieler daher mit zwei paranoischen Systemen konfrontiert? Zumindest trägt Freeman Züge von Paranoia, denn wer er wirklich ist, verschweigt er wissentlich: "Scientists [in HL1] all act as if I [the player] know what to do and I can't tell them I am a complete ignoramus", sagt Half-Life Autor Marc Laidlaw über seinen Helden in einem Interview für Gamasutra ("Marc Laidlaw On Story And Narrative In Half-Life", in: Gamasutra, August 8, 2003)."