Atomic Heart vom Entwickler Mundfish...
Wie geht man als Verlag, als Chefredaktion oder als Rezensent mit einem neuen, durchaus relevanten Videospiel um, das von einem russischen Team entwickelt wurde, welches auf mehrfache Nachfrage – sowohl durch Pressevertreter und als auch durch Spieler via soziale Medien – versäumt hat, sich vom völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine zu distanzieren? Wir haben uns dazu entschieden, in diesem Sonderfall keine Spielspaß-Wertung zu vergeben – weil wir keine, eventuell durch die Qualität des Produkts gerechtfertigte, Kaufempfehlung abgeben möchten.
Kein Wort über die russischen Wurzeln: So stellt sich Entwickler Mundfish auf seiner Webseite vor.
Zunächst verlangt es die Situation, die Fakten rund um Atomic Heart auf den Tisch zu packen: Das Spiel ist das erste Werk des jungen Studios Mundfish, das 2017 gegründet wurde. Allerdings nicht in Zypern, wie die
offizielle Webseite des Teams behauptet, sondern in Russland. Denn 2018 und 2019 sprachen
News-Meldungen zum Spiel auf verschiedenen Webseiten von einem Moskauer Studio – mittlerweile jedoch gibt sich das Entwicklerhaus Mühe, seine Herkunft zu verbergen. Die
englische Version der offiziellen Studio-Webseite spricht gar von "130 Kreativen aus zehn Ländern – darunter Polen, die Ukraine, Österreich, Georgien, Israel, Armenien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Serbien und Zypern." Sicher nicht zufällig fehlt ein Land, aus dem viele Mitarbeiter und die Gründer stammen: Russland.
Im ausführlichen Intro schlendert man durch die alternative Sowjetunion des Jahres 1955 - ein scheinbar glückliches, technologisch fortschrittliches Land.
Der nächste Punkt ist das Setting: Atomic Heart spielt in einer alternativen Sowjet-Realität des Jahres 1955. Nach einem Technologiesprung wurden die Sowjets weltweit führend auf dem Feld der Robotik, erschufen ein Hochglanz-Utopia mit fliegenden Städten, zufriedenen Bürgern und hilfreichen Assistenten aus Blech und Schaltkreisen. Kurz vor dem prunkvollen Start des neuronalen Netzwerks "Kollektiv 2.0", das die endgültige Verbindung von Menschen und Maschinen ermöglichen soll, drehen die Roboter auf dem Testgelände 3826 durch – als Spielercharakter reist man dorthin, um nach dem Rechten zu sehen und zu verhindern, dass der Ruf des sowjetischen Prestigeprojekts leidet. So weit, so harmlos – ein bisschen
BioShock mit UdSSR-Chique könnte man sagen. Gleichzeitig verharmlosen Story und Setting durchaus den realen Schrecken des sowjetischen Unrechtstaats: In der UdSSR waren viele grundlegende Menschenrechte eingeschränkt, Folter und Bespitzelung an der Tagesordnung – im Spiel wird die heile Sowjetwelt zwar von einem tragischen Ereignis erschüttert, nicht jedoch der menschenverachtende Willkürstaat selbst hinterfragt. Und obschon das Spiel in puncto stilistischer Überzeichnung eines brutalen Regimes Parallelen zu den (neueren) Teilen der
Wolfenstein-Serie aufweist, gibt es auch hier einen entscheidenden Unterschied: B.J. Blaskowicz hat in Wolfenstein jüdische und polnische Wurzeln und kämpft gegen Nazi-Deutschland. In Atomic Heart hingegen verkörpert man den sowjetischen
Major Sergey Alekseyevich Nechaev, der im Auftrag des Industrieministers einen Zwischenfall in einer Forschungsanlage aufklären soll.
Ob und inwieweit eventuelle Einnahmen aus den Atomic-Heart-Verkäufen an den russischen Staat fließen und damit letztlich auch zur Finanzierung des Krieges beitragen können, lässt sich freilich schwer sagen. Es gibt jedoch Informationen zur Finanzierung von Mundfish: Mit dem Grafikkarten-Primus Nvidia als offiziellem Hardware-Partner und dem chinesischen Internetgiganten Tencent als Investor listet Mundfish zwei Gaming-Promis auf seiner Webseite. Die anderen beiden Investoren-Namen dort – GEM Capital und Gaijin Entertainment – sind vermutlich nicht jedem ein Begriff. GEM Capital ist eine international aufgestellte Investmentfirma, deren
russischer Gründer Anatoly Paliy mehrere Jahre bei einer Gazprom-Tochtergesellschaft angestellt war. Gaijin Entertainment – bekannt für War Thunder – wiederum geriet im Jahr 2021 in die Kritik, als bezahlte Anzeigen des Unternehmens auf dem YouTube-Kanal eines pro-russischen Separatisten im Donbass zu sehen waren. Gaijin ließ daraufhin
durch einen Sprecher mitteilen: „Wir unterstützen niemanden politisch, nirgendwo. Wir verstehen nichts von Politik und halten uns da lieber raus. Unsere Agentur, die eine Anzeige in dem betreffenden Video bestellt hat, hat sie entfernt, als sie erkannte, dass sie uns in eine politische Diskussion hineinziehen könnte.“ Und schließlich sollte man noch über „VK Play“ sprechen: Unter anderem in Russland ist die PC-Version von Atomic Heart über VK Play erhältlich, das ist der Spiele-Dienst des russischen Tech-Konzerns VK (ehemals Mail.Ru). VK wiederum werden enge Kontake zum Kreml nachgesagt, der
VK-CEO Vladimir Kiriyenko steht sogar auf der Sanktionsliste der USA.
...und unsere Konsequenzen.
Statement ja, echte Aussage nein: So hat Mundfish via Twitter auf die Vorwürfe reagiert.
Unterm Strich lässt sich also sagen, dass es mehrere Angriffspunkte gibt, die rechtfertigen, ja sogar nötig machen, dass wir Atomic Heart nicht wie ein "normales" Spiel behandeln. Die lasche einzige Halbwegs-Stellungsnahme von Mundfish zu diesen Vorwürfen
via Twitter lautete: "Leute, wir haben die Fragen, wo wir bei Mundfish stehen, bemerkt. Wir möchten euch versichern, dass Mundfish ein Entwickler und Studio mit einem globalen Team ist, das sich auf ein innovatives Spiel konzentriert und das als eine Pro-Frieden-Organisation unbestreitbar gegen Gewalt gegen Menschen ist. Wir kommentieren weder Politik noch Religion. Seid versichert: Wir sind ein globales Team, das sich darauf konzentriert, Atomic Heart in die Hände von Spielern überall auf der Welt zu bringen." Dazu möchte ich als Tester noch ein paar Worte sagen: Natürlich gibt keine Verpflichtung, mutig aufzutreten und vor dem Hintergrund eventuell drohender Strafmaßnahmen für die gute Sache (hier: die Beendigung des russischen Angriffskriegs) einzustehen. Für mich im demokratischen Deutschland mit seiner Meinungsfreiheit ist dieses Position-Beziehen verhältnismäßig leicht, im autoritär regierten Russland, wo schon Kritik am Krieg oder der Armee zu langen Gefängnisstrafen führen können, sieht die Sache anders aus. Demnach steht es mir nicht zu, den Entwickler für sein Schweigen zu rügen – gleichzeitig kann ich den Wunsch vieler Spieler, dass sich Mundfish äußert und den Krieg verurteilt, sehr gut nachvollziehen. Auch ich hätte mich wohler gefühlt mir diesem Unterhaltungsprodukt, hätte ich gewusst, dass dessen Schöpfer auf der "richtigen" Seite stehen. Denn wenn uns die nun schon fast 365 Tage des Krieges eines gelehrt haben, dann dass Schwarz und Weiß in einem Konflikt selten so klar voneinander abgegrenzt waren.
Bevor wir zur Spiele-Besprechung von Atomic Heart kommen, als letzte Vorbemerkung: Wir rufen euch nicht zum Boykott des Titels auf oder zeigen mit dem Finger auf euch, wenn ihr es als fiktives Game versteht, mit dem ihr euren Spaß haben wollt. Gleichzeitig hoffen wir, dass ihr nun alle wichtigen Informationen beisammen habt, um auf deren Basis die für euch richtige Entscheidung zu treffen, wie ihr mit Atomic Heart umgeht.