Ruhiges Erleben
In gerade mal drei Stunden sind manche Spieler
wohl durch diesen „Wander-Simulator“ gestürmt – eine Tatsache, die ich wie so oft nicht nachvollziehen kann. Fast das Doppelte der Zeit hat mich mein Ausflug nach Graavik jedenfalls gekostet, weil ich viele Momente auskosten wollte, anstatt so schnell wie möglich den jeweils nächsten Aktionspunkt zu erreichen. Immerhin ist Graavik nicht das technisch beeindruckendste, aber ein dennoch idyllischer Ort.
Im Gegensatz zu Storm in a Teacup, die mit dem ebenfalls gerade erschienenen
Close to the Sun hauptsächlich Kulissen erschaffen haben, an denen man lediglich einmal vorbeiläuft, nutzt Red Thread Games (
Dreamfall Chapters) das kleine Dorf nämlich als überschaubare Bühne, auf der man verschiedene Orte mehrmals besucht. Das klingt nach etwas mehr als es ist, dennoch kommt der eigene Charakter des Dorfs durch das wiederholte Besuchen stärker zum Tragen. Zunächst unscheinbare Ecken gewinnen erzählerisch an Bedeutung, sodass man irgendwann eine emotionale Bindung entwickelt. Es gibt sogar Gelegenheiten, an denen sich Edward hinsetzen und beliebig eine Skizze seines Ausblicks zeichnen darf, was auf angenehme Art an
Life Is Strange erinnert.
Als ich Graavik verlassen musste, war ich deshalb sehr froh darüber, dass Edward noch einmal in aller Ruhe durch die Siedlung schlendern durfte, und dass auch der finale Blick sowie die abschließende Unterhaltung in keiner Weise auf ein eiliges Ende drängten. Tatsächlich hatte ich erst kurz zuvor ein interessantes Gespräch geführt: Was war denn nun wirklich geschehen? Warum sind Edward und Alice dorthin gereist und was wird in Zukunft sein? Die Antworten hatten mich durchaus überrascht...
Who the fuck?
Auf Konsole hat das idyllische und geheimnisvolle Graavik nichts von seiner Faszination verloren.
Stimmt, ich hatte Alice noch gar nicht vorgestellt. Sie ist eine Freundin Edwards: keck, clever, ständig in Bewegung. Man kann jederzeit nach ihr rufen, falls sie vorausgeeilt ist, oder mit ihr sprechen, wenn sie sich am selben Fleck befindet. Dann kommentiert Edward die aktuelle Situation, stellt Fragen oder drückt aus, was ihn bedrückt. Immerhin finden sich die beiden in einem aus unerklärlichen Gründen verlassenen Dorf wieder – dazu gleich mehr.
Zuerst einmal bin ich begeistert davon, wie lebendig diese Unterhaltungen mit Alice inszeniert werden, weil sich Red Thread Games an mehreren Stellen Gedanken darum gemacht hat. Da fällt Edward seiner Begleitung etwa gelegentlich ins Wort: ein ganz alltägliches Phänomen, das viel zu selten in Skripten verwendet wird, obwohl es Unterhaltungen auf einfache Art einen authentischen Anstrich verleiht.
Abgesehen davon ist Alice ständig präsent. Geschickt hält sie sich zwar zurück, während man nach Hinweisen sucht oder sich einfach nur umsieht, tritt aber immer dann heran, wenn etwas Handlungstragendes geschieht. Einen großartigen Moment habe ich schließlich erlebt, als sie Edward im aufgebrachten Zustand eine Standpauke hielt. Einen Augenblick nur wollte ich mich da umsehen, um meinen nächsten Schritt zu planen, da faucht sie doch tatsächlich: „Sieh mich an, wenn ich mit dir rede!“ Das passiert freilich nicht alle Nase lang, weil das eine spielerische Einschränkung wäre. In den entsprechenden Augenblicken ist es dann aber umso wirkungsvoller. Für einen kurzen Moment versank ich jedenfalls komplett in der Rolle und mehr kann ein Spiel kaum leisten.