Fragwürdiges Wach- und Sichtverhalten
Zudem gibt es einige Unterschiede zur fernöstlichen Schleichtaktik von Mimimi Productions, die deutlich anspruchsvoller und klarer ist, was das Infiltrieren angeht: Man ist natürlich alleine unterwegs. Und man erkennt hier keine Sichtkegel oder Wahrnehmungsradien bei den Wachen, sondern lediglich einen roten Alarmkreis direkt unter ihnen. Sobald sie einen sehen, beginnt er sich zu füllen und sie attackieren bzw. alarmieren erst bei maximaler Füllung. Das führt leider zu einigen unrealistischen Situationen: Man kann quasi direkt an ihnen vorbei laufen, von Angesicht zu Angesicht, der Kreis füllt sich, dann huscht man ein paar Meter weiter in eine Deckung und sie geben wieder Ruhe. Aus den Augen aus dem Sinn wäre ja okay, aber hier geht mir das viel zu flott mit der wieder einsetzenden Routine.
Neben digitalem Hacking kommen auch klassische Dietriche in einem Minispiel zum Einsatz.
Abgesehen von ihrem schlechten Kurzzeitgedächtnis sind auch ihre Blickwinkel sehr begrenzt, so dass man unbemerkt zwischen zwei nebeneinander stehende Wachen huschen kann, die jeweils in entgegen gesetzte Richtung schauen. Kurzum: Das Wach-, Sicht- und Verfolgeverhalten ist extrem verzeihlich, so dass man mit etwas Tempo immer aus kritischen Situationen fliehen kann, um sich in der Nähe zu verstecken.
Sehr schön sind wiederum die Reaktionen von Zivilisten: Sie werden bei Klauversuchen misstrauisch, melden den Diebstahl auch Wachen. Schade ist jedoch, dass der laut Anleitung für Täuschungen relevante Kleidungswechsel manchmal keine Rolle spielt: Selbst wenn man die komplette Kluft einer Wache anzieht, reagieren weder Bewohner noch Kollegen anders. Oder war das noch ein Bug? Die Stealth-Action selbst sorgt jedenfalls nur für solide Unterhaltung. Aber sie ist nur eine Facette, denn
Seven: The Days Long Gone ist ja auch ein Rollenspiel in offener Welt - mit Missionen, Fähigkeiten, Handwerk, Beute & Co.
Da ist ja noch ein Rollenspiel!
Der Vorhang zum Rollenspiel in offener Welt lüftet sich auf der Gefängnisinsel Peh, die in mehrere Visazonen eingeteilt ist.
Spätestens wenn sich nach dem Einbruch nicht mehr Vaetic, sondern eine ganz andere Stimme direkt in Temriels Kopf meldet, lüftet die Regie den epischen Vorhang: Ein Jahrtausende alter Dämon namens Artanak ergreift von ihm Besitz, erteilt Befehle und schickt ihn auf die Gefängnisinsel Peh, um dort etwas Wichtiges zu erledigen - tja, da muss man zunächst gehorchen. Übrigens: Man kann im Sinnesmodus auf Knopfdruck mit ihm reden, um mehr über Peh oder den Kaiser zu erfahren.
Man reibt sich nach dem ersten recht linearen Einbruch aber die Augen, wenn sich die Welt öffnet und eine Karte plötzlich zig Händler, Questgeber und an die 14 Icons an der Seite anzeigt. Zwar zeigt sich hier die Witcher-DNA der Entwickler, aber man fühlt sich nach dem eher intimen Einstieg von dieser Masse an Symbolen überflutet. Wieso muss sich die Spielwelt hier direkt so nackig machen und mir selbst Händler, Aufseher und Schnellreisepunkte schon in extremer Entfernung anzeigen? Und warum muss man später in den Arealen überall die Fertigkeits-Chips anzeigen, wenn man in der Nähe ist? Warum sind die überhaupt so ausgestreut? Das fühlt sich dann eher an wie ein Abgrasen statt Entdecken. Andere isometrische Rollenspiele ohne diesen Kram wie The Age of Decadence, Tyranny oder auch Wasteland und Pillars of Eternity gelingt es wesentlich besser, schon im Einstieg für eine in sich geschlossene Atmosphäre zu sorgen.
Rätselhafter bleibt immerhin die Story samt ihrer mythischen Hintergründe, denn spätestens mit dieser herrischen Kreatur im Ohr wird man Teil einer fremden apokalyptischen Welt, die sich schon seit Urzeiten in einem nebulösen Konflikt befindet, zwischen Altvorderen und Dämonen, der scheinbar bis in die aktuelle Situation des Vetrall-Reiches mit ihrem gottähnlichen Kaiser Drugun nachwirkt. Hatte er nicht auch einen Pakt mit einem Dämon geschlossen? Ist das der Grund für seine Macht? Gräbt er in den Ruinen der Altvorderen nach Artefakten, um sein Leben zu verlängern? Man braucht viel Geduld und einige Lektüre in den Notizen, um sich mit all den Mächten und Fraktionen vertraut zu machen.