Test: Geheimakte: Tunguska (Adventure)

von Jörg Luibl



Publisher: Deep Silver
Release:
25.04.2008
30.08.2006
30.11.2018
25.04.2008
15.10.2015
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ab 9,50€
Spielinfo Bilder Videos
Sehr gute Regie

Die Zeit vergeht im Nu und man wird von vielen wirklich gelungenen Zwischensequenzen begleitet von Museen in Privathäuser, von Kanalisationen in Militärlager, von Zugdächern in Herrenhäuser geführt. Selbst China, Irland und Kuba
Auch ohne spektakuläre 3D-Grafik: Die Kulisse ist edel, die Locations sind sehr schön gezeichnet.
dürfen nicht fehlen. Die hohe Frequenz der Filmszenen sorgt für eine erzählerische Dynamik, die nie  um böse Vorboten verlegen ist - ein schwarzes Auto im Nebel, ein russischer Mafiosi im Zigarettendunst. Das Flair ist zwielichtig, das Mysteriöse ständig präsent. Dadurch, dass Nina und Max später als Duo zusammen arbeiten, ergeben sich auch interessante Team-Szenen: Obwohl sie räumlich getrennt sind, können sie über einen Faden mit Kieselstein wichtige Gegenstände austauschen, um sich zu befreien. Hier macht das Spiel so richtig Spaß, hier weht der Wind der alten Adventure-Zeiten.

Alle Locations bestechen durch wunderbare Zeichnungen und ihren authentischen Anstrich: In Berlin gibt's deutsche Straßennamen, in Russland begegnet euch Kyrillisch. Hinzu kommen feine Animationen, die die Sterilität der gezeichneten Hintergründe etwas aufbrechen: Jeans wackeln im Wind, Motten umschwirren das Licht, Dampf schwelt aus Gullys und Echtzeitschatten unterlegen die Laufwege der Figuren. Die Kulisse kann zwar nicht mit großen Schauplätzen oder rasanten Kamerafahrten à la The Moment of Silence oder der technischen Üppigkeit oder räumlichen Freiheit eines The Longest Journey: Dreamfall  protzen, aber sie ist edel und stimmungsvoll.

Sehr gute Sprecher

Dass man dem Geheimnis von Tunguska so gerne nachspürt, liegt nicht nur am historischen Kern des Ereignisses und der Rätsellogik, sondern auch an den Dialogen. Zum einen werden sie wirklich hervorragend gesprochen: Ich habe keine Stimme gehört, die nicht passte oder sich in irgendeiner Weise unmotiviert anhörte - im Gegenteil: Ob Staunen, Wut, Bestürzung oder Heiterkeit - hier wird alles sehr natürlich transportiert, die Sprecher von Brad Pitt und Angelina Jolie geben ihr Bestes. Heldin Nina hat einige knackige Sprüche auf Lager, die ihr abseits des Babe-Anstrichs eine
Irgendwann stößt Max hinzu, so dass ihr auch Rätsel im Team lösen könnt.
sympathische Tiefe verleihen. Sie ist mehr als die rothaarige Schöne, für die man zunächst die Sex-Sells-Schublade aufmacht: Schon wieder so'n 90-60-90-Babe? Aber Fehlanzeige:  Vor allem ihr ab und zu aufblitzender Chuzpe sowie ihre inneren Monologe verleihen den Gesprächen eine subversive Note: Sie schmeichelt einer Wache mit ihrem Charme und denkt sich gleichzeitig, was für ein Trottel da steht - sehr amüsant.

Trotzdem gibt es auch in Tunguska zig Klischees oder zu schnell durchschaute Figuren wie etwa den Hausmeister oder Kommissar Kanski. Es gibt auch einige Dialogstellen, die aufgesetzt bis peinlich wirken. Als Nina unter einer Teppichecke ein Geheimfach findet, sagt sie tatsächlich:

"Eine Kassette. Lag sie da absichtlich drin oder ist sie da reingefallen?"

Autsch. Aber das sind wirklich nur Nadeln im Heuhafen. Tunguska hat aus erzählerischer Sicht vielleicht nicht die düstere Qualität eines Black Mirror , die auch erwachsene Spieler sofort ansprach. Wer subtilen Schauder oder vielleicht Gänsehautmomente erwartet, ist hier trotz der Mystery-Ansätze, der Kapuzenträger und Geheimdienste fehl am Platze. Aber es nimmt den Rang einer richtig guten Drei-Fragezeichen-Episode ein, tendiert auch mit seiner beiläufigen Romanze in Richtung Baphomets Fluch. Sprich: Es ist spannend, amüsant und gut erzählt. Freut euch auf viel Wortwitz und kernige Sprüche.

Ein großes Lob verdient auch die Soundkulisse: Nicht nur die Titelmusik mit ihren verschwörerischen Melodien hat mir gefallen, auch die vielen kleinen Einspielungen an eher unwichtigen Stellen. Als Nina vor der Wohnung ihres Vaters recherchiert, passiert z.B. hinter ihr irgendwo ein Unfall. Man hört bloß quietschende Reifen, dann ein lautes Fluchen, sieht
Spannende Story, kreative Rätselkultur und schöne Wettereffekte - es gibt wenig zu meckern.
aber nichts - das ist klasse. So wirkt die eigentlich statische Szene gleich viel lebendiger. Es gibt immer ein subtiles Geräuschambiente, das im richtigen Moment mit einem Flüstern, Rauschen oder Zischen auftrumpft.

Wünschenswerte Kleinigkeiten

Schade ist, dass man die Dialoge einfach so runterspulen kann - sprich: Es hat keine Auswirkung, in welcher Reihenfolge oder gar wie man etwas fragt. Ein modernes Adventure sollte auch versuchen, in den Dialogen etwas mehr Eingriffsmöglichkeiten zu bieten. Auch das Thema Emotionen bleibt hier unangetastet. Ansonsten gibt es nur einige kleine Dinge, die man noch verbessern könnte: Etwa eine Beschleunigungsfunktion für den Helden, damit er per Doppelklick gleich rennt. Oder ein Inventar mit dreidimensionalen Gegenständen, die man drehen und zoomen kann - auch, um vielleicht versteckte Fächer oder Hinweise zu finden. Das würde dem Spiel noch mehr Stöbercharakter verleihen und es technisch aufwerten.

      
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Kommentare

Wulgaru schrieb am
Naja, zeige mir mal ältere Adventures mit nicht peinlichem Writing. Tunguska war damals technisch recht hübsch, aufwendig inszenziert und synchronisiert und die Rätsel waren halt klassisch Point and Click. Ich glaube allerdings auch das vieles in der Tat genauso sollte, als spielbarer Groschenroman halt.
Als jemand der zwar kein Hardcore-Adventure-Fan ist, aber durchaus gerne welche spielt...das hier hält der Zeit meiner Meinung nach jedenfalls besser stand als die Sachen von Telltale, die gar keine Adventures sind und die man genauso gut bei Youtube gucken kann. Ich mag die Sachen von Daedalic zwar am liebsten, aber die Akte-Reihe will ich nicht missen.
vogelpommes schrieb am
Ich weiß, ich musste mir das trotzdem mal von der Seele schreiben :D Außerdem ist 2006 jetzt nicht soooo lange her und die Qualitäten einer guten Story oder stimmungsvollen Schauplätzen müssten heute eigentlich die gleichen sein wie damals, gerade das wurde von vielen so gelobt und kann ich so gar nicht nachvollziehen in diesem Spiel. Und ich rede nicht von der Grafik.
Gute Spielmechaniken wie Pong oder Tetris taugen übrigens nicht für einen Vergleich, die sind zeitlos und machen heute noch genauso viel Spaß.
johndoe1238056 schrieb am
Reviews sind im Kontext ihrer Zeit zu verstehen? Hä? Wieso das denn?
Ich finde Pong und Asteroids generell auch total überbewertet. Der Arcade-Automat von Asteroids hat beispielsweise nicht mal einen Joystick... was soll der Scheiß? Wenn ich Tasten für links und rechts drücken will, gehe ich zur PC Masterrace.
Ich will die 15000 Peseten wieder zurück und von verschwendeter Jugend habe ich noch gar nicht angefangen.
Danke Merkel und Atari!!!!
vogelpommes schrieb am
Es ist das Jahr 2022 und ich wollte mal ein klassisches Point & Click Game zocken und angesichts der vielen fast schon euphorischen Tests, auch hier, habe ich mich für Geheimakte: Tunguska entschieden...
Mein Gott war das ein peinlicher, schlecht geschriebener, pubertärer, sexistischer und uninspirierter Schrott :D Ich bin echt verwundert wie selbst Jörg so von diesem Spiel begeistert war. Ich schätze 2006 war das noch eine andere Welt, aber wie kann man so eine plumpe, chaotisch geschriebene, vorhersehbare Story voller Klischees und karikaturhaften Charakteren so lobpreisen? Der Humor ist sehr oft völlig unpassend und der Situation unangemessen, inklusive cringeworthiges Brechen der vierten Wand. Und die Hintergründe sind so bunt und zusammengewürfelt ohne jeglichen Sinn für eine durchgängige Atmosphäre oder Ästhetik, dass es mich an Wimmelbildspiele erinnert hat, stimmungsvoll geht sicher anders.
Ich will die 15 Stunden meines Lebens zurück :lol:
Edit: Hab noch vergessen die Rätsel zu erwähnen, gerade gegen Ende wurden die immer absurder und lächerlicher, mit Trial und Error kommt man noch irgendwie durch, aber so toll und logisch wie Jörg hier schwärmt war das sicher nicht! XD
GAMERtimo schrieb am
Meine Wertung für Geheimakte Tunguska!
Postives:
+ mitreßende Geschichte
+ nützliche Spielehilfen
+ beeindruckende Präsentation
+ abwechslungsreiche Plätze
+ toll inszenierte Atmosphäre
+ gelungene Musik- und Soundkulisse
+ viele Personen mit Ausdruck
+ einfache Point&Click Steuerung
+ hochspannende Zwischensequenzen
+ zwei spielbare Charaktere
+ auflockernde Gespräche
+ Rätsellogik- und Vielfalt
+ angemessener Schwierigkeitsgrad
+ schöne Spieldauer
Negatives:
- leider eher aufgesetzter Schluss
- bei der Spiellänge wäre aufgrund der ein wenig zu hastig und unfertig beendeten Geschichte noch mehr drin gewesen
Spielspaß: 87 %
FAZIT:
Ich kann nur sagen:
Ich bin unheimlich überrascht! Es macht einfach Spaß mit zwei ausgesprochen interessanten Charakteren an wunderschönen Orten zu rätseln.
Aber ein ärgerliches Manko gibt es leider schon: Als ich den Abspann sah, dachte ich: Das war`s?
Von der Spiellänge ist das Game schon wirklich umfangreich, aber das Ende wirkt leider etwas unfertig und unbefriedigend, sodass das Spiel einem doch ein bisschen zu, wie soll ich sagen, kurz vorkommt.
Nichts desto trotz ändert es nicht daran, dass Geheimakte Tunguska einer der besten Adventures bleiben wird, denn richtig viel Freude am Zocken gab`s ohne jeglichen Zweifel, denn spielerisch ist es auf allerhöchstem Niveau!
Gruß
Timo
schrieb am