Nicht alles was glänzt…
Weg von der Handlung hin zu dem Teil des Spiels, der Karmesin & Purpur glänzen lassen will: die Terakristallisierung. Dieses Spielelement taucht in Karmesin & Purpur erstmals auf (und vermutlich zum letzten Mal, wenn es dem Trend aller vorangegangenen Spielmechaniken folgt), sie ist vergleichbar mit Mega-Entwicklungen, Z-Attacken oder dem Dynamax-Phänomen. Dabei kann ein Pokémon einen anderen Typen annehmen als denjenigen, den es schon besitzt. Zum Beispiel: Per Terakristallisierung wäre es möglich, dass ein Pikachu (eigentlich vom Typ Elektro), mitten im Kampf den Flug-Typ annimmt. Das würde es immun gegenüber Boden-Attacken machen. Die Terakristallisierung verstärkt außerdem die Attacken des alten und neuen Typs eines Pokémon. Besonders interessant dürfte dieses Element im kompetitiven Bereich werden, aber auch im normalen Spielverlauf entpuppt sich die Terakristallisierung als Ass, das man gelegentlich inmitten eines schweren Kampfes aus dem Ärmel schüttelt. Gerade dann, wenn man ein Pokémon in den Kampf schickt, das die KI mit einer vermeintlich sehr effektiven Attacke angreifen will, aber von der Terakristallisierung überrascht wird. Arg viel mehr gibt dieses Feature aber nicht her, außer einigen netten Glitzereffekten im Kampf und einer ansehnlichen Diamant-Optik des eigenen Pokémons. Sie ist einmal pro Kampf einsetzbar und hinterher im Pokémon-Center wiederaufladbar.
Niemals ging es schneller, das Team zu heilen.
Das Pokémon-Center selbst ist eine der Neuerungen, die mich das Spiel ein Stück weit lieben lassen. Man findet überall in Paldea verteilt die Pokémon-Krankenschwestern mit ihren unverkennbar pinken Haaren inmitten ihres „Centers“, das beim ersten Anblick an eine Tankstelle erinnert. Noch nie ging das Heilen der Pokémon dort schneller. Daneben wartet, wie gewohnt, ein Händler, der unter anderem Pokébälle und Tränke verkauft. Neu dazugekommen ist die TM-Maschine: Dort lassen sich TMs beliebig oft herstellen, sofern die richtigen Materialien dafür im Rucksack sind. Materialien kann man überall finden, unter anderem auch durch das Bekämpfen oder Fangen von Pokémon. Wer jetzt an Äste, Steine oder Mineralien gedacht hat, der liegt falsch. Materialien erstrecken sich vom noch nachvollziehbaren Menki-Haar über ein Säckchen Nebulak-Gas (?) über den Zirpurze-Häutungsrest (??) bis hin zum Makuhita-Schweiß (???). Fragt mich nicht, wie daraus eine CD mit den Informationen für eine Attacke wie Gigastoß erzeugt werden kann. Aber in Karmesin und Purpur scheint es möglich.
Release um jeden Preis
Speisen für Mensch und Pokémon: Leider bestehen quasi alle Restaurants aus einem bloßen Menü und können nicht betreten werden.
Über die neuen Pokémon dieser Generation lässt sich leidenschaftlich streiten und da es den Rahmen dieses Tests sprengen würde, verzichte ich darauf, die Designs dieser armen Schlucker zu kritisieren. Es sind nämlich auch einige wirklich knuffige, süße Pokémon dabei. Über die meisten davon habe ich mich aber nach einer Stunde Spielzeit nur noch geärgert, weil sie so dermaßen klein geraten sind, dass man unweigerlich alle paar Schritte darüber stolpert. Es ist kaum möglich, sie rechtzeitig zwischen Zahnstocher-Grashalm und dem eigenen Charakter wahrzunehmen. Besonders dann, wenn sie zufällig vor einem auftauchen. Immerhin haben es einige beliebte Pokémon aus den vergangenen Editionen in Karmesin & Purpur geschafft, über die man sich freuen kann, nachdem man zum 16. Mal aus einem Kampf gegen ein anderthalb Zentimeter großes Taschenmonster geflüchtet ist.
Die Kamera-Einstellungen in den Kämpfen sind hin und wieder sehr anstrengend.
Am Ende des Tages bleibt von Karmesin & Purpur so manches hängen, was die negativen Aspekte verdrängen kann: Die offene Spielwelt ist toll, der aus Arceus übernommene Spielablauf macht schnell süchtig und es sind viele Quality-of-Life-Verbesserungen dabei, die in zukünftigen Editionen hoffentlich beibehalten werden. Die Storys bieten Dutzende Stunden Spielzeit, die insbesondere durch den Erkundungsaspekt vervielfacht werden: Wer von A nach B läuft, findet unterwegs genügend zum Sammeln, Fangen, Bekämpfen. Später kann man per Flugtaxi an die Orte zurück, die man schon besucht hat. In spaßigen, aber anspruchslosen Tera-Raids (ähnlich den Dyna-Raids aus den Editionen Schwert & Schild) lassen sich seltene Pokémon fangen und Materialien finden. Es ist nett, den eigenen Charakter zu stylen, teure Klamotten zu kaufen und mit einer 50.000 Pokédollar teuren Ledertasche zu flexen. Zudem sind Karmesin & Purpur vom Schwierigkeitsgrad her nicht so simpel wie befürchtet. Das eigene Team zu leveln ist nicht dasselbe Kinderspiel wie in Pokémon-Legenden: Arceus, auch wenn der EP-Teiler fleißig mithilft. Es erfordert deutlich mehr Aufwand als zuvor und schafft damit hoffentlich eine Trendwende, nachdem die Editionen Schwert & Schild quasi ohne Zutun durchgespielt werden konnten. Die Erfahrungspunkte wurden damals so großzügig ausgegeben, dass kein zusätzliches Training abseits der Kämpfe nötig war.
Der Weg des Champs beginnt – zumindest, wenn ihr Bock drauf habt.
Trotzdem ist es so, dass Game Freak hier bemerkenswert unterentwickelte Spiele herausgebracht hat. In so vielen Aspekten hätten Karmesin & Purpur noch mindestens ein Jahr Entwicklungszeit obendrauf gebraucht, um zu den besten Titeln der Nintendo Switch werden zu können. Stattdessen setzt Game Freak die Strategie fort, möglichst viele Pokémon-Spiele in möglichst kurzen Perioden zu veröffentlichen. Koste es, was es wolle – und zuletzt hat es besonders viel Spielqualität gekostet. Was Game Freak aber offenbar nicht zu interessieren braucht, denn egal, wie laut langjährige Fans nach besseren Spielen buhlen, sie verkaufen sich ja doch Jahr für Jahr zig millionenfach. Ein bisschen zu recht, ist Pokémon doch nach wie vor ein unantastbares Franchise und im Kern ein Konzept, das unweigerlich Spaß machen muss. Es stellt sich lediglich die Frage, wie lange Game Freak diese Gewinnmaximierung fortführen kann, bevor der Großteil der Community das Weite sucht.