Kolumne

hundertprozent subjektiv

KW 20
Donnerstag, 16.05.2019

Das Spiel, der große Heiler


Das Spiel ist ja eigentlich der große Zauberer. Der kreative Trickster mit den hundert Taschen und tausend Versprechungen. Selbst wenn er schon zig mal enttäuschte, selbst wenn man auf die 50 zugeht, bleibt man als leidenschaftlicher Zocker immer ein kleiner Hobbit. Vielleicht ein skeptischer oder gar zynischer, aber nichtsdestotrotz auch ein närrischer - im besten kindlichen Sinne.

Denn kaum erscheint dieses eine coole Spiel wie Gandalfs Pfeifenrauch am Horizont, wartet man wieder sehnsüchtig auf das Feuerwerk. Für den einen ist es vielleicht Cyberpunk 2077, für den anderen Star Citizen, Pokémon Schwert & Schild oder der Landwirtschaftssimulator 2021. Auf einmal sind all die Rohrkrepierer und Enttäuschungen vergessen, weil man sich noch zu gut an dieses oder jenes Mal erinnert, als der Himmel tatsächlich in all den immersiven Farben explodierte und man digital verzaubert wurde.

Aber das Spiel ist bekanntlich eine Vielgestalt. Es war mal ein Schreckgespenst, das zur Primetime kriminalisiert wurde. Es mutiert immer wieder zum Umsatzmonster, das die Kreativität zermalmt oder stampft wie ein Golem, robotisch wiederkäuend, nur in eine Zielgruppenrichtung. Und es kann ein fieser Taschendieb sein, der einen wie eine Gans ausnehmen will. In all den Jahren bin ich vielen Gestalten begegnet, aber eine habe ich erst spät überhaupt als solche erkannt...

...das Spiel ist auch ein großer Heiler.

Klingt komisch, riecht esoterisch, aber ich meine das wortwörtlich, ohne Midlife-Crisis oder einen begleitenden Yoga-Kurs für Pur-Abonnenten. Der Gedanke kam mit der Rückbesinnung auf meine Kindheit und Jugend. Ich wusste natürlich schon immer, dass mir das Spiel irgendwie gut tut. Das fängt schon damit an, dass es mich heute noch in eine behagliche, leicht euphorische Stimmung versetzt - ich habe mal versucht, das in der Kolumne "Das kultische Vorspiel" zu beschreiben.

Das Gefühl kennt ihr sicher auch: Wenn man sich auf dieses eine Spiel freut, das endlich in der Post liegt. Wenn man sich extra frei genommen und seinen privaten Tempel vorbereitet hat. Wenn es nach Press Start aus den Boxen wummert und sich endlich der Vorhang öffnet. All das sorgt für eine wohltuende äußere Gemütlichkeit. Kürzlich hatte Sekiro genau diese Wirkung. Aber es kommt noch eine andere, eine positive innere Wirkung hinzu.

Als Pimpf von zehn, elf oder zwölf Jahren bin ich z.B. mit dem Umschlag von Joysoft in mein Zimmer gerannt, hab die Tür zugeknallt und den Rest der Welt, egal ob Familie, Schule, Fußballverein für die nächsten Stunden vergessen. Und genau hier saß das Spiel nicht nur als Zauberer neben mir, sondern auch unsichtbar als großer Heiler. Am Bildschirm versank ich im Nicht-Alltag, konnte die täglichen Probleme und Konflikte, die Ängste und Sorgen eines Teenagers nicht nur hinter mir lassen, sondern durch andere Ideen und Aussichten ersetzen, die sich mit charmanten Bits und Bytes zeigten.

Die größte Heilwirkung bestand gar nicht in der Flucht, nicht im oftmals zitierten Eskapismus, wie ich immer dachte. Auch nicht in der Macht, die einen zum gewieften Eroberer oder zum coolen Helden machte, den man im Spiegel nicht sah - dieser Typ holte sich bei Kerstin die nächste Abfuhr, stand nicht mal in der Startelf der Kreisliga und hörte seine Eltern schreien. Der andere Typ vor der Maus und dem 14-Zoll-Monitor war der Meister der Disketten, der Pommesbudenheld, der The Great Giana Sisters ohne ein Leben zu verlieren durchspielte und sich einbildete, ein subversiver Hacker zu sein. Ja, das Spiel hat einen auch stolz gemacht.

Aber wenn ich jetzt zurückblicke, war es unter der Oberfläche der Unterhaltung und Freude vor allem die ästhetische und philosophische Perspektive des Spiels, die mir unbewusst am meisten geholfen hat. Innerhalb der digitalen Welten wurde deutlich, dass auch diese reale Welt viel mehr Kreatives zu bieten hat als den alltäglichen Scheiß, der einen in diesem Alter so belasten kann. Als Schule und Familie nicht in der Lage waren, diese Inspiration und Neugier zu wecken, haben das neben einigen Büchern vor allem C-64, Amiga, NES & Co übernommen.

Wenn ich vor The Bard's Tale, The Last Ninja oder The Legend of Zelda saß, blitzte auch das Schöne, Erhabene und Faszinierende auf. Das waren kulturelle Pflaster, Kräuter und Tinkturen im Geiste. Und die taten richtig gut.


Jörg Luibl
Chefredakteur

 

Kommentare

johndoe1895783 schrieb am
Was heißt denn "gemacht"? Das Muster der Heldenreise ist in vielen Geschichten vorhanden, und laut Campbell begibt man sich durch solche Geschichten ebenfalls auf eine Art Reise.
[/quote]
da sie einen Gefühlseindruck beschreiben habe ich mich gewundert, ob Sie eine Heldenreise wie J.C. sie beschreibt schon erlebt haben? Ich meine damit natürlich nicht eine vorgegebene, welche auf ihre Art auch heilend wirkt, sondern ihre eigens erlebte.
Gewundert habe ich mich, da es in unserer Gesellschaft nur noch wenige Möglichkeiten gibt, solch eine Erfahrung zu machen. Natürlich geht es mich auch nichts an, ich hab mich nur gefragt.
Alan Riplay schrieb am
Ein toller und wahrer Text. Ich finde, dass die Wirkung von Spielen in unserer Neuzeit generell unterschätzt, nicht wahrgenommen oder einfach ohne jegliche Wertschätzung hingenommen wird. Leider wird allzu oft das zufriedene Lächeln eines Gamers, sei es ein Casual- oder ein Core-Spieler, von den empörten Rufen derer überschattet, die sich mit der Materie nicht auskennen (wollen). Sicher, auch dieses Hobby hat Licht und Schatten, aber gerade all die positiven Dinge und die heilende Wirkung, welche ich nur bestätigen kann, werden zu selten in den Fokus gerückt. Umso schöner, dass Artikel wie dieser geschrieben werden...
In diesem Sinne: Danke!
dx1 schrieb am
ChristianSmiTh hat geschrieben: ?19.05.2019 09:26
Jondoan hat geschrieben: ?17.05.2019 12:52 Gute Spiele fühlen sich für mich auch an wie die Art "Heldenreise", wie sie von Joseph Campbell untersucht und beschrieben wurde. Nicht umsonst wird das Konzept auch gerne in Therapien eingesetzt.
Haben Sie schon mal eine Heldenreise wie sie Jospeph Campbell beschreibt gemacht?
Meinen Sie "rezipiert" oder "erzählt", wenn sie fragen, ob Jondoan eine Heldenreise "gemacht" hat? Bild
EDIT
Hab vergessen, umzublättern, aber jetzt steht's da. :lol:
Jondoan schrieb am
ChristianSmiTh hat geschrieben: ?19.05.2019 09:26
Jondoan hat geschrieben: ?17.05.2019 12:52 Gute Spiele fühlen sich für mich auch an wie die Art "Heldenreise", wie sie von Joseph Campbell untersucht und beschrieben wurde. Nicht umsonst wird das Konzept auch gerne in Therapien eingesetzt.
Haben Sie schon mal eine Heldenreise wie sie Jospeph Campbell beschreibt gemacht?
Was heißt denn "gemacht"? Das Muster der Heldenreise ist in vielen Geschichten vorhanden, und laut Campbell begibt man sich durch solche Geschichten ebenfalls auf eine Art Reise.
johndoe1895783 schrieb am
Jondoan hat geschrieben: ?17.05.2019 12:52 Gute Spiele fühlen sich für mich auch an wie die Art "Heldenreise", wie sie von Joseph Campbell untersucht und beschrieben wurde. Nicht umsonst wird das Konzept auch gerne in Therapien eingesetzt.
Haben Sie schon mal eine Heldenreise wie sie Jospeph Campbell beschreibt gemacht?
schrieb am