Google, das ungeduldige Riesenbaby
Als
Stadia im März 2019 präsentiert wurde, war das öffentliche Interesse enorm. Zwar wollte sich da neben Microsoft, Apple, Facebook und Amazon nur ein weiterer der "Big Five" in der Spielewelt etablieren - aber Google schien die Macht und den Willen zu haben, das globale Zocken zu verändern. Es war sogar eine gewisse Angst unter traditionellen Spielern spürbar. Als die ersten Infoblitze aus den Wolken zuckten, rochen einige sogar den Qualm der alten Ära: Konsolen? PC? Das war einmal...
Immerhin ging es nicht nur um Spiele-Streaming, das selbst Doom Eternal in 4K mit 60 fps, sondern irgendwann in 8K mit 120 fps liefern sollte, sondern um die Anbindung an das mächtige YouTube, inklusive Soforthilfe bei Sackgassen sowie automatisierter Hilfen. Und ganz wichtig: Es sollte exklusive Spiele aus eigenen Studios geben. All das unter der Mithilfe von Phil Harrison und Jayde Raymond, also erfahrenen Leuten, die u.a. bei Sony, EA und Ubisoft tätig waren.
Stadia wirkte im Vergleich zu Apple Arcade oder Amazon Games wie ein ganzheitliches Konzept mit langfristiger Planung und klarem Fokus. Wie jemand, der im neuen
Krieg der Spiele gewinnen will. Waren da zukünftig etwa auch Spiele à la The Last of Us oder Assassin's Creed in der Pipeline? Man weiß es nicht. Letztlich war das nur ein Gewitter, aus dem ein mittelmäßiges Spielchen namens
Gylt tröpfelte, das übrigens nicht von einem eigenen Studio stammte.
Aber kaum mehr als ein Jahr nach dem Start im November 2019 hat die 323 Milliarden Dollar schwere Alphabet-Tochter die Entwicklung eigener Spiele eingestellt. Das klingt angesichts der finanziellen Macht der viertwertvollsten Marke der Welt wie ein peinliches Eingeständnis. Um es zu überspitzen: Elon Musk schickt Satelliten und bald Touristen ins Weltall und Google kann nicht mal Spiele entwickeln?
Natürlich hinkt der Vergleich. Aber manchmal wird aus gefühltem Größenwahn tatsächlich etwas Greifbares. Auch Sony wurde 1994 mit seiner PlayStation belächelt, als Nintendo und Sega den Videospielmarkt dominierten. Aber sie hatten sowohl technologisches Know-how als auch eine Hingabe für die eigenen Spiele und vor allem eine bessere Strategie: Während Google nur das namhafte Management, aber kein namhaftes Studio einkaufte, investierte Sony damals u.a. in Psygnosis, die zum Start mal ein WipEout servierten.
Allerdings ist Stadia kein Standbein, sondern ein Experiment für Google, das man sich leisten kann. Und scheinbar hat man plötzlich festgestellt, dass die damit verbundene Entwicklung eigener Spiele keinen Gewinn verspricht. Moment mal: Widerspricht das nicht allen Marktanalysen, die der Spielebranche nahezu sicheres Umsatzwachstum attestieren? Schließlich haben auch Amazon, Apple und Facebook investiert. Und hatte Sony nicht mit exklusiven Spielen in den letzten Jahren so viel Erfolg? Hat nicht Microsoft kürzlich Bethesda gekauft? Beweist Nintendo nicht mal wieder, dass man selbst als technologischer Underperfomer mit eigenen Spielen erfolgreich sein kann? Investiert nicht Tencent weltweit in Studios? Plustern sich nicht
gerade alle mit dem Kauf von Lizenzen und Entwicklern auf?
Ja, aber all das zeigt auch, wie hart umkämpft der Wettbewerb ist. Und wie schwierig es ist, erfolgreiche Spiele zu entwickeln. Vor allem, wenn man sich zum Ziel setzt, wirklich exklusive Unterhaltung auf höchstem Niveau anzubieten. Dazu braucht man nicht nur "Prominenz" wie Harrison & Raymond, sondern erfahrene Spieldesigner, die besten kreativen Leute, ein motiviertes Team und vor allem eine Strategie, die Geduld und Hingabe bedingt. Man sollte im Idealfall mit kleineren Projekten beweisen, dass man etwas kann und sich dann steigern. Ein Rockstar oder Naughty Dog aus dem Boden stampfen? Viel Spaß.
So gewöhnlich es in der Tech-Branche auch ist, dass man Projekte, die nicht abliefern, wieder einstellt, so bezeichnend ist es auch, wie ungeduldig, naiv und großkotzig Google an Stadia herangegangen ist. Und so seltsam das klingt: wie wenig leidenschaftlich. Schon die ersten PR-Veranstaltungen wirkten wie sterile Alien-Übertragungen mit der kalten Botschaft: Wir haben die Ressourcen, wir haben das Geld, wir kaufen das Know-how und servieren euch bald die besten Spiele! Aber einige Dinge kann man eben nicht kaufen: Geduld. Hingabe. Tradition. Leidenschaft. Ein Spiel ist (im Sinne des Erfinders) kein Shop, kein Service, kein Produkt - sondern ein künstlerisches Projekt, das wachsen muss. Und die erfolgreichsten Titel haben meist Wurzeln, die weit zurückreichen.
Natürlich kann es auch von null auf hundert gehen, man denke an Minecraft oder Fortnite. Aber das sind Ausnahmen, die aus ganz unterschiedlichen Gründen den Zeitgeist treffen. Die große Mehrheit der erfolgreichen Spiele, gerade all jene im Triple-A-Bereich, knüpfen letztlich an etabliertes Spieldesign an und führen es fort. Doch was so simpel wie das Kopieren klingt, ist eben weit mehr und unheimlich komplex in seinen Abläufen, zumal Technologie, Kreation und Vision so ineinander greifen müssen, dass letztlich etwas so Charakteristisches wie Demon's Souls, danach etwas so Erfolgreiches wie Dark Souls und daraus gar ein regelrechter Boom wie all die Soulslikes entsteht.
Das wird heutzutage immer schwieriger, weil im Gegensatz zu den 80ern und 90ern quasi alle Genre "erfunden" sind, weshalb man gerne an die alten Traditionen anknüpft und diese neu auflegt - was wiederum Lizenzen oder im besten Fall sogar die Erfahrung der alten Hasen von damals bedingt. Im Gegensatz zu Sony in den 90ern muss sich Google natürlich in einem mit Spielen überfluteten Markt beweisen, in dem es sehr schwer ist, eigene Marken zu etablieren, selbst wenn man die Erfolgsformel der Konkurrenz so leicht dechiffrieren kann.
Wie anspruchsvoll das ist, musste auch Amazon Games feststellen, das immerhin seit 2014 mit mehreren Studios von Washington bis London aktiv ist - und erst 2019 mit vielen Entlassungen "restrukturiert" wurde. Der letztes Jahr veröffentlichte Shooter
Crucible, ein Mix aus Fortnite und League of Legends, war ein Flop. Das 2016 angekündigte Online-Rollenspiel
New World wurde immer wieder verschoben und soll im Frühjahr starten - die Zeichen für das zweite Prestige-Projekt stehen auf: Flop. Aber selbst das wäre mehr als das, was Google in diesem Bereich geleistet hat. Und Amazon hat zumindest interessante Ideen und einen längeren Atem.
Bei all dem darf man aber nicht vergessen, dass Stadia nicht gescheitert ist - im Gegenteil: Streaming funktioniert. Streaming ist günstiger und für einige komfortabler als klassisches Zocken. Auch technologisch liefert man ab, denn im Gegensatz zum Wettbewerb wie PlayStation Now gibt es sogar ein HDR-Signal und 5.1.-Sound. Die meisten Spiele laufen sauber, selbst wenn sie hohe Ansprüche stellen - Cyberpunk 2077 erreichte fast die Qualität von PlayStation 5 und Xbox Series X. Und auch Hitman 3 läuft nicht nur flüssig, sondern ermöglicht mit "State Share" ein cooles Feature - man kann einem Kumpel den aktuellen Status schicken, der u.a. mit der bis dato freigespielten Ausrüstung sowie Szenarien loslegen kann.
Auch wenn Hardcore-Zocker natürlich abwinken und z.B. auf die Latenz verweisen, muss man Google attestieren, dass sie für einige Spieler den optimalen Service und noch offene Potenziale haben - auch wenn man über 8K und 120 Bilder pro Sekunde im Jahr 2021 nur müde lachen kann. Also: Es wird mit Stadia weitergehen. Zumal man gerade erst eine
Kooperation mit LG angekündigt hat, so dass man zum ersten Mal direkt auf den Bildschirmen zocken kann - ohne eine zusätzliche Hardware wie Chromecast Ultra. Aber das wird nicht exklusiv bleiben. Und wie lange hält sich Stadia dann?
Es kann sein, dass Googles Streaming auch ohne eigene Spiele in Bedrängnis gerät, denn ein anderer der Big Five hat da einige Trümpfe in der Hand: Microsoft mit der
xCloud. Aktuell kann man über den
Game Pass (Spiele-Abos im Vergleich) schon auf die Cloud zurückgreifen, aus der Titel wie Halo allerdings nur mobil und noch nicht auf den TV gestreamt werden. Genau daran arbeitet man, es soll
schon dieses Jahr losgehen. Und sobald man hunderte Xbox- und PC-Spiele auf seinen 4K-Bildschirm laden kann, braucht man Stadia wofür? Was präsentierte man noch 2019 auf Stadia: Doom Eternal von id Software? Tja, das und so einige andere Titel kommen zukünftig wohl nur aus Redmonds Wolke...
Zudem gibt es ja weitere Angebote wie
GeForce Now oder
PlayStation Now, zumal da auch noch
Shadow lauert, quasi als kompletter PC-Ersatz. Und trotz aller Flops mit eigenen Spielen ist da ja erst im September 2020 auch noch
Amazons Luna angekündigt, das sich samt eigenem Gamepad stark an welchem Service orientiert? Richtig: dem von Google.
Warum sollten Spieler also in Zukunft auf Stadia vertrauen? Zumal mit der Schließung der eigenen Studios natürlich ein herber Image-Verlust für den Tech-Riesen einhergeht. Google bestätigt das Bild des ungeduldigen Riesenbabys, das der Welt sein tolles Spielzeug präsentiert, nur um es dann in die Tonne zu werfen.
Einige werden erleichtert seufzen. Einige werden sagen, dass sie es geahnt haben. Aber zu betrauern gibt es für Spieler letztlich nichts. Denn da war ja auch nichts. Und Streaming wird - mit oder ohne Stadia - ein Teil der modernen Spielewelt bleiben.
Jörg LuiblChefredakteur
PS: Den Kommentar gibt es in abgewandelter Form auch als Video.