Lesertest von Kelad
Ja, diese Wertung kann und wird wahrscheinlich zu Kontroversen führen, aber es ist nicht nur das Spiel selber, was ich damit bewerte. GTA IV ist an sich eine simple Fortführung eines bewährten und schon immer erfolgreichen Spielekonzepts, das nicht zu Unrecht als der ?Godfather of Open-World-Gaming? gehandelt wird. Aber und das ist für mich das entscheidende: Rockstar hat den Mut bewiesen Bewährtes mit neuen Elementen zu verbinden, die fast experimentellen Charakter haben. GTA IV profitiert von der liebevollen Umsetzung der Freundschaften, die der Einwanderer Nico im Land der unbegrenzten Möglichkeiten schließt und glänzt in den Momenten, in denen man in Begleitung von Roman, Brucie oder Little Jacob durch die Straßen zum Poolbillard, Dartspielen, Bowlen oder schlicht und ergreifend saufen cruist. Die Gespräche sind ernst, lustig, nachdenklich oder verrückt, hauchen diesen Nebenfiguren aber auf eine Art Leben ein, wie es bislang kaum ein anderes Spiel geschafft hat.
Ebenso wie die Spielwelt selbst. Ob ihr in eine Stand-Up-Comedy-Vorstellung, das russische Theater oder einfach ins Internet geht. Alles ist in liebevoller Kleinstarbeit ausgearbeitet worden, daß man die Herzen der Menschen schlagen hört, die an diesem Mammutwerk gewerkelt haben. Jede Plakatwand, jede Textur wirkt in ihrer Weise durch die unterschiedlichen Beleuchtungsfilter, die wechselnden Tages- und Nachtzeiten und die in den einzelnen Vierteln zu spürende Stimmung einzigartig. Ginge es nur um das Spiel selber, wäre es wohl eine gute 8, da GTA IV allerdings mit einem herausragenden, in Jahrzehnten vermutlich (wenn auch vor allem in seinen schlimmsten Zügen) dokumentarischen Charakter innehabenden Abziehbild unserer Realität geliefert wird, mit dem man alleine viele Stunden des Beobachtens und Schmunzelns verbringen kann, um am Ende sogar etwas Selbsterkenntnis daraus zu gewinnen ... dann hat auch ein gehyptes GTA IV die 95% verdient. Als Rockstars Jahrhundertwerk.
Pro
- · Eindrucksvoll und lebendig gestaltetes Abbild von New York City inklusive stadttypischem Puls und lebensnah dargestellter Großstadthektik, keine Ecke wirkt wie die andere und an jedem kleinen Stückchen Spielwelt kann man die Liebe zum Detail erkennen
- · stimmungsvolle, farbenfrohe Grafikengine, die gerade in Verbindung mit dem dynamischen Tag- und Nacht bzw. Wetterwechsel zum staunenden Innehalten im städtischen Chaos und der aufpeitschenden Storyline animiert, hervorragende Animationen (im Regen von Deckung zu Deckung sprintende Passanten, Nicos Reaktionen auf Wetter und Umwelt, trotz Havoc- und dank Euphoria-Engine wenig übetriebene, sondern eher lebensnahe Ragdolleffekte
- · tolle Supportcast mit klasse herausgearbeiteten Nebencharakteren, die einem mit fortschreitender Spielzeit zunehmend ans Herz wachsen und dank eines ausgeklügelten, nie aufgesetzt wirkenden sozialen Systems mit gemeinschaftlichen Unternehmungen ?bei Laune? gehalten werden.
- · gebrochener, vom Balkankrieg gezeichneter Hauptcharakter, der mit unglaublicher Liebe zum sympathischen, weil glaubwürdigstem GTA-Antihelden hochstilisiert wird, ohne jemals glorifiziert zu wirken.
- · beispiellos umfangreiche, hochwertige Sprachausgabe (allen voran natürlich Nico Bellic), die mit fast 300 (!!) Sprechern aufwartet und im Straßenverkehr sowie beim Herumstreifen in Liberty City in 50 Stunden Spielzeit zu ganz wenigen Wiederholungen von aufgenommenen Samples geführt hat, GTA-typisch gewählte Musikuntermalung aus den unterschiedlichsten Richtungen inklusive ganzer, abgefahrener Radiosender, die zum Teil sogar auf das Geschehen in der Spielwelt reagieren
- · sinnvoll überarbeitetes Kampfsystem, daß vor allem beim Einsatz schwerer Waffen mit eindrucksvollen Physikeffekten und atemberaubenden Explosionen protzt
- · starke, zum ersten Mal in der GTA-Geschichte auch stellenweise geradezu mitreißende emotionale Erzählweise, die gerade gegen Ende ein Gangster-Epos-Feuerwerk abbrennt und mit ernsten und nachdenklichen Themen wie der Verarbeitung von Nicos Kriegstrauma, Rache, echter Freundschaft und Verrat aufwartet und sogar diverse Enden bietet
- · schillernde Auftraggeber (von der ständig hochgekoksten Latinoqueen, über den selbsternannten Sozialarbeiter/Befreier eines Problemviertels und den mit Steroiden vollgepumpten Autonarren und liebenswert minderbemittelten Frauenhelden bis hin zum cholerischen, instabilen Mafiaboss), auch kleinere Botengänge und Aufträge für in der Stadt zu findende alte Freunde von Nico oder Figuren aus seiner Vergangenheit sind drin
- · Extremer Spielumfang (Erstdurchgang: 50+ Stunden)
Kontra
- · Steuerung der Autos funktioniert nur aus der ?Ego-Sicht? gut
- · Entscheidungen innerhalb der Missionen haben leider nur wenige Auswirkungen auf den Spielverlauf
- · Missionstypen ähneln sich stark, ?Bully? bietet im direkten Vergleich mehr Abwechslung
- · die GTA-typische Gewalt innerhalb der Spielwelt steht manchmal der Glaubwürdigkeit von Nico, dem gebrochenen Soldaten, und seiner Entwicklung im Verlauf des Spiels im Weg
- · manchmal führt das soziale System im Spiel selber dazu, daß zusätzliche Hektik zwischen den Missionen durch aufmerksamkeitsheischende Freunde oder Liebhaberinnen entsteht
Grand Theft Auto 4
