Ein harmonisches Gesamtbild
Insgesamt greifen die (eher) neuen Elemente wie Arbeitskraft, Stadtattraktivität, Produktionsbuffs, Einfluss, Elektrizität, Expeditionen und Zeitung erstaunlich harmonisch und gut ineinander, ohne den Spieler zu sehr in eine gewollte Richtung zu drängen. Man hat mehr als genug Freiraum und Möglichkeiten, um sich in Anno auszutoben und eigene Schwerpunkte beim Aufbau zu setzen - schließlich kann man die Einflüsse der Schwerindustrie auch direkt mit Ornamenten "bekämpfen". Oder man erhöht die Zufriedenheit der Bevölkerungsschichten, indem man gezielt die Produktivität der Betriebe reduziert, wodurch weniger gearbeitet wird, aber die Leute zufriedener sind. Oder man schert sich nicht um die Schönheit. Es gibt viele Stellschrauben in Anno 1800, von denen manche ziemlich gut in den Menüs versteckt sind und von der Tutorial-Kampagne nur unzureichend erläutert werden.
Seekämpfe und Diplomatie
Die Piratin versteckt sicher lieber in ihrer Festung und fährt mit ihren Schiffen immer im Kreis.
Kriegerische Konflikte mit Piraten oder anderen Mitspielern werden ausschließlich mit direkt steuerbaren Schiffen ausgetragen, die sich mit Items verbessern und modifizieren lassen. Die Kämpfe finden auf den normalen Karten statt und nicht auf separaten Schlachtfeldern wie in Anno 2205. Zunächst kämpft man mit Segelschiffen, die auf den Wind reagieren und dadurch stark angeschoben oder zurückgehalten werden können, und später mit dampfbetriebenen Kriegsschiffen. Die eigenen Schiffchen verfolgen gerne Piraten heroisch bis in den eigenen Tod in der Nähe der Piratenbasis. Es gibt zwar mehrere Verhaltensmodi der Schiffe, die aber verhindern nicht, dass sich die eigenen Schiffe ineinander verkeilen, störrisch zeigen oder heroisch ins Verderben manövrieren. Generell verhalten sich die KI-Mitspieler zu passiv und selbst eine von sechs Schiffen belagerte Piratin wagte es nicht, ihre zwölf Schiffe aus der Festung zu ziehen.
Gefechte an Land gibt es nicht, stattdessen bombardieren die Schiffe so lange den Hafen und zerschießen die Verteidigungskanonen, bis die Insel ihre Moral verliert und sich "ergibt". Erringt man den Sieg, darf man sie als eigenständige Kolonie behalten (Abgabenzahlungen) oder man siedelt selbst auf der Insel, wobei vorher alles niedergebrannt und der natürliche Ursprungszustand wiederhergestellt wird.
Ein bisschen Diplomatie darf nicht fehlen ...
Abseits der KI-Macken bleiben die Seeschlachten eher oberflächlich und gehören mit zu den Schwachpunkten - auch hier bleibt sich die Anno-Reihe treu. Ähnlich sieht es bei der Diplomatie aus: Die Möglichkeiten sind mit Handelsverträgen, Kriegserklärungen, Geschenken, Schmeicheln/Beleidigen, Aufgaben lösen etc. eher übersichtlich als komplex. Zumal manche Verhaltensweisen für Verwunderung sorgen, wenn man zum Beispiel die gesamte Flotte der Piratenfrau versenkt, sie aber trotzdem 100.000 Geld für einen Waffenstillstand verlangt. Kampfsystem und Diplomatie gehen in Ordnung, mehr aber nicht. Schön ist, dass man nach ausgehandelten Handelsverträgen bis zu sechs Anteile an den Inseln von anderen Spielern kaufen kann, die nach langer Zeit eine friedliche Komplettübernahme erlauben, sofern die Anteile vorher nicht zurückgekauft werden.
Die Krux mit der Kampagne
Anno 1800 bietet zum Verkaufsstart drei Spielmodi: Kampagne, Endlosmodus und Multiplayer. Die Kampagne ist der schwächste Teil des Trios, obwohl die familiäre Geschichte einer Händlerdynastie überraschend stark und persönlich beginnt. Ab dem dritten Kapitel verläuft sich die Story in der Neuen Welt bevor sie dann überhastet und zu schnell endet. Mehr als fünfzehn Stunden (je nach Spielertyp und Nutzung der Zeitbeschleunigung) sollte man nicht einplanen.
Präsentation und Inszenierung der Kampagne sind für ein Aufbau-Strategiespiel sehr gelungen.
Schön anzusehen sind die aufwändigen Kameraflüge als Zwischensequenzen, obgleich sie stark an der Performance zerren. Auch die Sprengung eines Berges, Mini-Entscheidungen und mehrere kleinere Nebenmissionen sind gelungen, nur irgendwie kommt die Kampagne zu einem Ende, bevor die industrielle Revolution und das Endgame mit seinen ganzen Herausforderungen ausbricht, wodurch zugleich nur einen Bruchteil der neuen Spielsysteme vorgestellt wird. Dafür darf man die Kampagnenkarte nach dem Ende (endlos) weiterspielen. Apropos Tutorial: Anno-Neulinge können vor jeder Partie eine umfassendere Hilfefunktion aktivieren; Veteranen können diese Option deaktiveren.
Irgendwie ist es bedauerlich, dass man die industrielle Revolution in der Kampagne nicht erlebt, denn sowohl Inszenierung als auch die persönliche Story sind stellenweise überragend in dem Genre. Im Prinzip sind solche kleinen Geschichten ja gar nicht verkehrt, aber vielleicht wäre es besser gewesen, mehrere Mini-Kampagnen oder alternativ Szenarien mit Kurzgeschichten zu liefern. So hätte man spätere Spielstufen mit dem Bau eines Zoos oder der Elektrifizierung einer Stadt als Ziele einplanen können. Im Vergleich zu den guten Kampagnen aus Anno 1404 mit dem "imperialen" Kardinal Lucius oder der Tiefsee-Erweiterung aus Anno 2070 zieht man klar den Kürzeren.
Zum Glück ist die Kampagne nur ein kleiner Teil des Gesamtpakets, das natürlich zu Anno dazugehört, jedoch kein essentielles KO-Kriterium ist. Viel wichtiger ist der Endlosmodus sowie der Multiplayer - und hier trumpft Anno 1800 richtig auf.