Die strahlende Megacity
Immerhin bekommt man nicht nur etwas zu hören, sondern vor allem zu sehen: Night City ist architektonisch die eindrucksvollste virtuelle Stadt, die ich bisher erkunden konnte. Und das liegt nicht nur am Design der Straßen, Brücken und Hochhäuser, sondern an der beeindruckenden Symbiose aus all den horizontalen und vertikalen Linien mit der unfassbar intensiven Beleuchtung, die ja selbst Reklametafeln hunderte Meter hoch im Himmel strahlen lässt. Diese Reize sorgen dafür, dass man ständig von links nach rechts, oben und unten schaut. Man wird überflutet von Balkonen und Fahrzeugen, von Werbung und Licht. Vor allem die Reklame wirkt nicht generisch, sondern verblüffend individuell designt.
Bei einem Spiel, das Cyberpunk inszenieren will, muss natürlich dieser Fokus auf der Kulisse liegen - vor allem auf der Atmosphäre. Dass Neokitsch und Digisiff auch mit sehr einfachen Mitteln ihre futuristisch dystopische Wirkung entfalten können, hat zwar Virtua Verse bewiesen. Aber auf diesem Niveau, bei voll aktiviertem Raytracing mit all den Spiegelungen und Regentropfen auf dem Asphalt, in dessen Pfützen sich die Neonreklame spiegelt, ist das schon sehr beeindruckend.
Oder anders ausgedrückt: Watch Dogs: Legions hat einen ähnlichen futuristischen Schauplatz, aber sieht dagegen einfach nur verdammt alt aus. Natürlich ist Night City auch "nur" Oberfläche. Aber hier hält die Illusion einer lebendigen Stadt länger an. Anders sieht es aus, wenn man in der Umgebung der Badlands unterwegs ist: Zwar kann sich die kalifornische Wüste sehen lassen, es gibt tolle Aussichten aus der Ferne auf die Stadt, aber hier merkt man dann, dass ein Red Dead Redemption 2 landschaftlich die Nase vorn hat.
Elend unter der Oberfläche
Schick und edel: Bei den Konzernen und in einigen Hotels ist vom versifften Alltag nix zu sehen...
Und was CD Projekt RED richtig klasse hinbekommt, ist das allgemeine Flair in der Stadt. Man erkundet eine strahlende, aber letztlich versiffte Realität, in der Drogen, Gewalt und Ausbeutung sichtbar werden. Der Blick nach oben zeigt die neonbunte Reklame, der Blick geradeaus all die Bars und Sexclubs, der Blick nach unten all den Müll in zig Variationen, von Pizzakartons bis Dosen - klingt komisch, ist aber wichtig. Hier stolzieren nicht nur exotische Freaks und tätowierte Gangster umher, hier gibt es Babes und Fettärsche, Anzugytpen, Alte und Kinder, hier sieht man Partyopfer beim Kotzen, hier schlurfen gebeugte Junkies und Obdachlose wie Zombies durch die Gassen oder sammeln sich in verborgenen Winkeln.
Und jedes der sechs Gebiete, das ja nochmal in Untergebiete unterteilt ist, verströmt sein eigenes Flair, was u.a. durch eigene Graffiti und Gangs sowie Reichtum und Armut hinsichtlich Häuser und Autos symbolisiert wird - man kann also nicht nur architektonische Gigantomanie, sondern auch soziale Milieus erkennen. In dieser kalifornischen Megacity fließen diverse Sprachen und Kulturen zusammen, so als hätte man Tokio, Shanghai, Los Angeles und New York fusioniert.
Die Kehrseite der Vielfalt: Irgendwann erkennt man natürlich einige Klone, der Straßenverkehr stockt ohne Grund oder man dreht sich um und niemand ist da. Das ist dann tatsächlich unheimlich! Dann dreht man sich wieder um oder geht etwas weiter und die Leute sind wieder da. Es gibt bis auf wenige storyrelevante Ausnahmen bei all den Bewohnern auch keinen erkennbaren Tagesablauf mit dem Weg von der Wohnung zur Arbeit - die Masse kommt also aus dem Nichts.