Strandlikes als neues Genre?
Hideo Kojima zeigt eine Zukunft voller Fragezeichen, in der Leben und Tod auf rätselhafte Art die Hauptrolle spielen. So viele Spiele sind spätestens nach einer Stunde schon dekodiert, weil man sie sofort einordnen kann. Und die meisten sind nach der Ablage in die Schublade entzaubert. In welche passt dieses Spiel? Hat Hideo Kojima ein neues Genre erschaffen? Dafür müsste man selbiges erstmal definieren. Selbst wenn man sich auf Eckpunkte einigt und daraus folgert, dass der Shooter oder das Adventure eines sind, wird man gerade heutzutage so viele Überschneidungen sehen, die alles Klare wieder verwischen.
Es gab schon immer Tendenzen im Spieldesign, die den Erfolg auch spielmechanisch kopieren, so dass nach einem Mario, Diablo oder Minecraft natürlich viele ähnliche Titel erscheinen, oder dass man in einem The Surge, Nioh & Co natürlich die Wurzeln von Dark Souls erkennt. Aber so viele Soulslikes es auch gegeben hat, kann ich mir keine Strandlikes vorstellen – es sei denn, man definiert sie über eine Online-Welt, die Spieler gemeinsam verändern. Aber das machen, auf andere Art, auch schon einige. Für mich ist Death Stranding ein spielmechanischer Frankenstein im besten Sinne, den man nicht so einfach nachbauen kann. Die Frage eines neuen Genres ist aber auch komplett unerheblich für den Spielspaß. Ich sehe hier eher einen einzigartigen kreativen Impuls für das Medium Videospiel. Was ist dies besondere Leistung?
Brain Fucking mit Fundament
Sams Kleidung schützt seine Haut vor dem Zeitregen. Aber alles auf dem Rücken wird angegriffen und beschädigt...
Hideo Kojima präsentiert einen neuen Code, eine digitale Runenschrift, die man in einer epischen Reise von über 60 bis 100 Stunden erstmal entziffern muss - genauso wie all die Bezeichnungen von MULEs, BBs, GDs bis DOOMs. Dabei zündet er keine cool klingenden Nebelkerzen, sondern er beteiligt den Spieler stückweise am Erkenntnisgewinn. Während man mit Sam unterwegs, bekommt man von einem Team der UCA über Codec nicht nur Aufgaben, sondern auch die Ergebnisse einer laufenden Recherche, in der alles definiert, verbunden und mit der Zeit immer klarer wird. Death Stranding ist quasi surreales Brain Fucking mit Fundament.
Dieses nicht schnell Durschaute und fast schon visionär Gesellschaftskritische ist eine Wohltat in einer Branche, die der Masse meist nicht viel anspruchsvolle Story zutraut. Nicht umsonst wird Death Stranding mit einem Zitat des mehrfach ausgezeichneten Schriftstellers Abe Kobo (1924 – 1993) eingeleitet, der als japanischer Kafka gilt: „Das Seil soll das Gute zu uns heranziehen, der Stock das Schlechte fernhalten.“ Seine Geschichten sind ebenfalls nicht leicht zu durchschauen, sie sind voller Doppeldeutigkeit und beschäftigen sich oftmals mit dem in der Gesellschaft isolierten Menschen, mit seinen Identitätsproblemen und Phobien, aber auch mit dem Surrealen und Alptraumhaften. All das findet sich auch in Death Stranding in der vollen Tiefe des Spiels, nicht nur auf irgendeinem Audiolog.
Erkenntnisgewinn statt Metapherlabyrinth
Man kann sogar unterirdische Lager bauen.
Hideo Kojima greift gezielt auf Worte und Metaphern zurück, nutzt Begriffe oder Symbole wie Hand, Strand, Knoten oder Brücke mehr als im Wortsinn, indem er die Bedeutung dahinter, die psychologischen und sozialen, immer wieder in Interviews oder Dokumenten thematisiert und ins Spiel integriert. Was heißt Stranden? Landete das erste Leben nicht am Strand? Hat jeder Mensch seinen eigenen Strand des Todes? Was hat das neue Element Chiralium mit den Griechen zu tun? Welche Verbindungen haben wir als Menschen untereinander? Kojima nutzt sogar den von Kafka gebrauchten, von Sigmund Freund entlehnten Begriff “Odradek” (aus der Kurzgeschichte “Die Sorge des Hausvaters”) für das digitale Hilfsmittel, das Sam auf Knopfdruck aufrufen kann.
Muss man das alles verstehen oder interessant finden, um mit Death Stranding seinen Spaß zu haben? Nein. Aber wer sich über das reine Spielerlebnis hinaus mit der Philosophie, aber auch mit Sprache und Psychologie beschäftigen will, bekommt reichlich Gelegenheit dazu in Form vieler Texte und Rekonstruktionen der Welt. Dabei fühlt man sich als Spieler nicht wie der Ochs im Walde, der sich in wirren Andeutungen verirrt, sondern wie ein Archäologe, der Stück für Stück nicht nur Städte an ein neues digitales, so genanntes “chirales” Netz anschließt, sondern der auch historische Verbindungen der alten Welt zusammenfügt und vielleicht das Rätsel des gestrandeten Todes löst.